Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Virtualität
Im Zeichen der Identität - Reisen im virtuellen Raum
Dirk Vaihinger
In einem Gedicht aus dem Jahr 1950 mit dem Titel 'Reisen' beschreibt Gottfried Benn die Illusion, die in dem Versuch des modernen Menschen liegt, das eigene Ich durch die Reise in fremde Städte mit der Erfahrung des originären anderen anzureichern und zu erweitern. Dieser Versuch ist illusorisch deshalb, weil an allen Orten, wohin er auch kommt, sich dem Reisenden nur das Immergleiche eröffnet, das nämlich, was er schon von zuhause her kennt. In der Schlußstrophe des Gedichts faßt Benn die Bewegung des Reisenden als Verschiebung eines Zentrums, das seine eigenen undurchläßigen Grenzen ständig mit sich herumträgt. Der Sprung über den eigenen Schatten, die Affektion durch Infiltration mit dem magischen Ort mißlingt: "Ach, vergeblich das Fahren! Spät erst erfahren Sie sich: bleiben und stille bewahren das sich umgrenzende Ich."
In der Ortlosigkeit der elektronischen Netze wiederholt sich, so möchte man meinen, diese Illusion der Ich-Erweiterung im virtuellen Raum durch das Reisen, das in Begriffen wie 'surfen' oder 'net-cruising' anklingt, in Cyberspace-Metaphern wie 'mentale Geographie' oder 'unbegrenzter Ort' (Michael Benedikt), und die auch etwa in der Werbung für die Telekom benutzt wird, in der Manfred Krug alias Captain Manfred davon redet, daß er die Reise um die Welt in achtzig Tagen in ein paar Sekunden erledige und ruckzuck in Paris sei, bei den besten Köchen der Welt. Die Illusion der Ich-Erweiterung, so scheint es, wird als solche noch durch die Vorstellung verdoppelt, man könne das Aura der fernen Stätten auch dadurch schlürfen, daß man sich ihre abgebildeten Spezialitäten ins Wohnzimmer holt. Denn wenn schon der Versuch der Ich-Erweiterung durch die Bewegung der physischen persönlichen Präsenz mißlingt, wie sollten dann auf virtuellen Reisen die Textzeugnisse der eigenen Person, auch wenn sie, wie Thomas Wegmann zeigte, an der Grenze zwischen Literalität und Oralität stattfinden, eine solche Qualität bekommen, daß sie jene noch übertreffen?
Und dennoch ist die Rede von der "leidenschaftlichen Verzauberung", von "Trance, Rausch, Ekstase", von der virtuellen Figur als Teil der "großen Rahmengestalt des Reisenden, die alles in eine weltkreisende Bewegung nimmt" (Natascha Adamowsky). Die Dispension vom Ich, die mit den Spiel- oder fingierten Figuren in virtuellen Spiel- und Diskussionsforen gefeiert wird, scheint der wirklichen Reise in fremde Städte deshalb überlegen, weil das Ich nicht mit sich herumschleppen muß, was konventionell zu seiner Identität gehört. Indem nämlich die persönliche physische Präsenz im Netz ihr unzweifelbares 'Dieses-Hier' verliert, verschieben sich auch die inhärenten Grenzen der Identität im virtuellen Raum. Die virtuelle Identität ist sprachlich und symbolisch, in seltenen Fällen auch bildlich verfaßt und scheint daher in der Lage, das Identitätskonzept der wirklichen Welt auf sein Wesentliches zu reduzieren, das darin besteht, daß jemand von sich selbst 'Ich' sagen kann. Die spezifische Oraliteralität, von der Thomas Wegmann sprach, verschiebt die Kriterien des körperlich Individuellen, der Charaktermerkmale, der sozialen Situierung, der Lebensumstände und der psychischen Eigenheiten, vor allem aber der Dauerhaftigkeit, die für die Fixierung einer Identität von Bedeutung sind, auf textuelle Zuordnungen, die sich das virtuelle Ich selbst verleiht oder verleiht bekommt. In der Ortlosigkeit und dem Schein der angeschlossenen Welt ist auf die herkömmlichen Muster personaler Einheit kein Verlaß, sondern hier wird die deskriptive Rolle des mit sich Identischen herausgekehrt, die auf virtuellen Reisen allein noch von Bedeutung ist. Der Entlarvung der oben beschriebenen Illusion haftet damit selbst ein illusionärer Zug an, weil das Ich mit seinen inhärenten Grenzen, das in Benns Schlußvers so präzise - literarisch - gefaßt scheint, selbst eine Fiktion, eine primär sprachlich verfaßte Einheit darstellt. Die spezifische Anonymität der elektronischen Kommunikationsform bringt es mit sich, daß die virtuelle Figur problemlos das Ich als Maskerade benutzt, in der sich Identität spielerisch als fiktive formiert.
Es wurde in diesem Zusammenhang die Frage gestellt, ob sich Identität durch die in virtuellen Foren hergestellte Kommunikation nicht als das realisiert, was von ihm im Kontext postmoderner Theoriebildung seit längerem behauptet wird: daß es nämlich in sich vervielfältigt und zerstückelt sei - ob also der Computer nun endlich das hervorkehrt und beweist, was in poststrukturalistischer Psychoanalyse und Texttheorie von der Identität übrig bleibt, kurz: Es stellt sich die Frage, ob 'die Identität' als tragfähige Kategorie für die Beschreibung verschiedener Formen des Ich verabschiedet werden muß. Diejenigen, die diese Frage bejahen, lassen sich grob in drei Fraktionen einteilen, die zwar keine chronologische oder programmatische Abfolge bilden, in bezug auf die These von der fragmentarischen Identität aber eine systematische Steigerung bedeuten.
Die erste Fraktion, zu der etwa Michael Benedikt, Jaron Lanier, Peter Weibel und auch Timothy Leary gezählt werden können, sieht in dem Identitätswechsel im elektronischen Netz eine einfache Verdoppelung oder Vervielfältigung der Identität. Ihre Vertreter beschreiben den Aufbruch in das elektronische Dorf als Ausbruch aus dem Kerker des menschlichen Körpers und der einen, gesellschaftlich starren Identität. Dabei geraten sie trotz der Mannigfaltigkeit, die die Vielzahl virtueller Identitäten zur Verfügung stellt, in einen klaren Dualismus von wirklichem Selbst diesseits und virtuellem Selbst jenseits des Bildschirms, oder, noch häufiger, in eine Auftrennung von Körper, der in der Wirklichkeit zurückbleibt, und Geist, der in der elektronischen Welt frei flottiert. Diese Auftrennung läßt sich auch beliebig umkehren. So sieht etwa Marcos Novak eine Verkörperung des cartesianischen Leib-Seele-Dualismus in der virtuellen Realität am Werk. "Denn", so schreibt er, "es ist offensichtlich, daß die Wirklichkeit außerhalb der virtuellen Realität der metaphysische Ort derselben ist, daß wir für den virtuellen Körper die vorgängige Seele darstellen." Häufig werden solche klaren Trennungen an die utopische Vorstellung gekoppelt, die Welt jenseits des Bildschirms lasse sich prinzipiell verbessern und verschönern, um sich in ihr als einer Alternative zur Wirklichkeit einzurichten. Die Rede ist von Alice im Wunderland, von einem 'Jenseits der Spiegel'. So will etwa der elektronische Design-Spezialist John Walker "den Benutzer hinter den Bildschirm in den Computer hineinversetzen".
Das Identitätskonzept der zweiten Fraktion, zu denen etwa Hanjo Beressem, Sherry Turkle und Robert Markley gehören, kritisiert an der ersten, daß deren Multiplizierung im Netz lediglich eine Vervielfältigung stereotyper Vorstellungen von 'der Identität' darstelle und in die Debatte um multiple Identitäten konventionelle Dualismen von männlich / weiblich, Natur / Kultur oder organisch / technisch reintegriere. Dagegen könne von einem Ich weder diesseits noch jenseits der Wirklichkeitsgrenze die Rede sein und von einem emphatischen Begriff der Identität schon gar nicht. Deshalb sei auch eine klare Trennung von Wirklichkeit und Virtualität hinfällig - zum Einsatz kämen weiter nichts als Bruchstücke und Fragmente eines Ich, das ständig eine illusionäre Ganzheit und Konsistenz verfolge, ohne diese jemals erreichen zu können. Vertreter dieser sich deutlich aus den Theorien Lacans und Derridas herleitenden Auffassung sehen in dem ganzen Komplex 'Cyberspace' eine Metaphysik, die sich aus einer spezifisch technizistischen Rhetorik speist. Die problemlosen Sprünge zwischen Techno-Jargon und mystischer Beschwörung eines Timothy Leary seien ein metaphysisches Konstrukt und durchdrungen von den Annahmen und Wertvorstellungen idealistischer Philosophie. Allucquere Rosanne Stone weist darauf hin, daß die Konzepte virtueller Figuren und ihrer Spielzüge meist von den Wunschbildern der Software-Entwickler - häufig westliche Männer im Alter von zwanzig bis dreißig Jahren - getragen werden. Die Vertreter dieser Theorie sehen also die Multiplizierung oder vielmehr Fragmentierung der Identität schon im Vorfeld menschlicher Selbstvergewisserung vollzogen und konzentrieren sich mehr auf die Diskursform, in der die virtuelle Identität verhandelt wird.
Die dritte Fraktion schließlich, die aus berühmt gewordenen Autoren wie Jean Baudrillard, Vilém Flusser und Norbert Bolz gebildet wird, geht noch einen Schritt weiter. Ihre Vertreter sind schon gar nicht mehr bereit, über Identität oder Ich zu verhandeln. Folgerichtig meinte man, daß sich dieser Diskurs als Rede vom 'posthumanen Zeitalter' darstellen lasse. Die von der Diskursanalyse und der poststrukturalistischen Theorie konstatierte 'Lücke' beim ständigen Versuch des Subjekts, sich auf dem Grund einer verläßlichen Selbstverortung individuell zu entfalten, sich seiner selbst reflexiv zu vergewissern und die diesem Versuch inhärente Selbsttäuschung wird von dem dritten medientheoretischen Identitätskonzept radikal überboten. Wir sind nurmehr "Punktschwärme" (Vilém Flusser) im Raum der frei flottierenden Informationssegmente, nur noch 'operativ' im Sinne eines reflexiven Mediums (Louis Quéré) als sowohl "Schauspieler und Zuschauer" in einer "totalen Transparenz" befangen (Jean Baudrillard), kurz: "Die Frage nach dem Subjekt" braucht gar nicht mehr gestellt zu werden, sie "erlischt selber" (Friedrich Kittler).
Auch die identitätsauflösende Vorstellung - unterdessen schon ein alter Hut unter den medientheoretischen Utopien -, wonach zum erhöhten Informationsfluß neuronale Anschlüsse geschaffen und direkt mit elektronischen Kreisläufen verbunden werden sollen, die Schaffung von "biotechnologischen Schnittstellen zwischen Gehirn und Computern" (Florian Rötzer), die Vision eines 'planetarischen Gehirns' in der symbiotischen Einheit des "Cybionte" (Joël de Rosnay) wähnt sich über die Frage nach der vorhandenen Identität des Benutzers schon längst hinaus.
Bis hierhin scheint alles klar und bequem. Die Individualisierung der bürgerlichen Gesellschaft, Effekt der Emanzipationsversuche des bürgerlichen Subjekts, verkommt in der Moderne zur seelischen Obdachlosigkeit atomisierter Einzelner, deren Kohärenz nurmehr in ihrer Funktion als Rädchen im Getriebe von Urbanisierung und Industrialisierung liegt. Am Ende dieser Fragmentarisierung erhebt Benn noch einmal Einspruch gegen den illusionären Versuch, durch das Einsaugen fremder Großstadtluft die wenigen Fragmente wenigstens um einige vermehren zu können - zu Recht, denn in der Postmoderne bleibt von den Fragmenten gerade noch das Zeichen des Zeichens, die fehlerhafte und hingehuschte Schrift der 'chats', an die sich die bloße Vorstellung von Identität klammert mit den Worten, hier dürfe man noch so bleiben, wie man ist (Bsp. Wegmann). Rechtzeitig vor der völligen Auflösung kippt das Fragmentarische, wo es als Wort in deskriptiven Zusammenhängen austauschbar ist, in seine Vervielfältigung durch spielerische Inszenierung.
So linear sich diese Entwicklung präsentiert, so schlüßig ist sie keineswegs. Die Aktualität der hier vorgestellten Konzepte zeigt, daß die Versuche, den Mischformen von Literalität und Oralität, aber auch von Ich und anderem und den cross-over-Reisen im virtuellen Raum eindeutige Kategorien von ein- und mehrfacher Identität zuzuweisen, in Verwirrung enden. Die oben beschriebenen Radikalkuren, die der Identität verschrieben werden, erhellen nicht die typische Situation der virtuellen Spielrunden. Diese besteht nicht in dem Problemfall des Identitätswechsels, sondern in Spielzügen, in welchen der Benutzer in dem Sinne durchaus bei sich selbst ist, als er durchgängig über das Bewußtsein verfügt, in einer Spielsituation zu sein. Der Spieler weiß dabei deutlich, wer er in Wirklichkeit und wo er in Wirklichkeit zuhause ist. An dieser Form des Spiels ist dann aber auch nichts Ekstatisches, keine Sinnenverwirrung und Ich-Entgrenzung, von der in diesem Zusammenhang häufig die Rede ist. Wenn nun aber, so stellt sich die Genese der oben resümierten Theorien dar, nicht davon ausgegangen werden kann, daß sich die Trennung von wirklichem und virtuellem Ich auf Dauer deutlich aufrecht erhalten läßt, dann deshalb, weil die angenommenen Identitäten auf den Benutzer abfärben und sich dann seine Identität in der Wirklichkeit als genauso vielschichtig und kontingent darstellt wie seine erfundene Figur im Netz. Deshalb ist in diesem Zusammenhang emphatisch von "multipler Identität" (Sherry Turkle) die Rede, und deshalb soll diese Schnittstelle vom Fragmentarischen ins Multiple plausibel sein.
Es wird in dem theoretischen Versuch, die neuen Phänomene virtueller Identität greifbar zu machen, also davon ausgegangen, daß sich im virtuellen Raum eine Multiplizierung desjenigen einstellt, was zuhause vor dem Bildschirm sitzt und eigentlich bloße Hülle ist: Bruchstück eines nur imaginären Ich. Was dabei übersehen wird ist, daß in der durch die bloße Textualität reduzierten Version virtueller Identität der illusionäre Wunsch nach einem authentischen Ich keineswegs abnimmt, daß also auch in dem spielerischen Umgang mit dem eigenen Ich das Bewußtsein, Ich zu sein, nicht unterlaufen wird. Denn auf das Zentrum eines authentischen Ich wird in jedem Fall Wert gelegt, sei es aus der Perspektive des Kritikers, der die Rollenspiele und die ikonographischen Emotionen der 'chats' als Abklatsch des wirklichen Lebens begreift genauso, wie von der schnell- und vielschreibenden Netzteilnehmerin, die die Möglichkeit, fehlerhaft und plaudernd zu schreiben, als Ausdruck ihrer Spontaneität und damit als unmittelbare Äußerung ihres Ich versteht. Es kann deshalb auch kaum erstaunen, daß Adamowskis Analyse der virtuellen Spielreisen als "mediale Festbühnen", die im intermediären Bereich von Ich und anderem stattfinden, und die sie als "Tür zum Totalen" feiert, als Erleben des "Orgiastischen und Halluzinatorischen", als "Beziehung zur Andersheit und zum Kosmos als dem allumfassenden Ganzen", als "Hingabe und Wagnis" und "Entdeckung des Universums in einem selbst", als eines Spiels, "dem sich nichts auf der Welt entzieht", ein Nachfrageverbot folgt. Nachdem sie nämlich die Spielfiguren als "Advokaten des Schmutzigen, Häßlichen und Animalistischen" markiert hat, deren "Lachen schaurig und schrecklich schön, mitreißend und irrwitzig" klinge, endet ihre zu Beginn durchaus nüchterne Analyse, die zum Rausch gesteigert wird, in einer Abwehr des Realen, dem sie nun selbst das, was sie vorher so wortreich angepriesen hat, als halluzinatorische Verkennung zuweist: "Wer spielverderberisch dahinterblicken will, wird leicht vom verzückt Verführten zum ernüchtert Geprellten und endet wie der aufklärerische Sprung in die Fata Morgana mit einem Mund voll Sand." Der verkaterte Ekel vor dem Geschmack der eigenen filzigen Zunge zwischen zwei Räuschen wird zum Haß auf den, der nach der exhibitionistischen Inszenierung auf der Bühne hinter die Kulissen schauen will.
Ich möchte nun anhand dreier Beispiele, die ich anschließend diskutiere, die These vertreten, daß sich das Ich gerade dadurch auszeichnet, eine ganzheitliche Identität anzustreben, und daß die Feststellung, Identität sei multipel und orgiastisch gerade da, wo sich Identität tatsächlich dem Spiel überantwortet, falsch ist, weil sich dabei Verhaltensmuster und Maskenspiele zeigen, die mit der alltagspragmatischen Identitätssuche und ihren Konflikten direkt konvergieren.
1. Als die Bewohner der "virtual community" WELL (Whole Earth 'Lectronic Link) von ebenfalls im Netz umtriebigen Cyber-Rowdies - sogenannten Cracks, die sich 'Acid Phreak', 'Phiber Optik' und 'Scorpion' nannten - verbal bedroht und belästigt wurden, erfuhren die Teilnehmer der zum tatsächlichen Dorf mit Straßen, Cafés und Privathäusern ausgestalteten Gemeinschaft dies als empfindlichen Angriff auf ihr Lebensgefühl. Als sie im intensiven Bemühen um die Eliminierung des Problems die Rowdies in der Wirklichkeit ausfindig machten und sich sogar mit ihnen trafen, handelte es sich um biedere, pubertierende Halbwüchsige, die im Netz ihre Halbstarkenphase auslebten. (Beispiel erzählt von John Perry Barlow)
2. In eine Diskussionsgruppe von Frauen im Netz führte sich eine körperlich behinderte ältere Frau ein und baute mit ihrer verständnisvollen und fröhlichen Art intime Freundschaften mit einigen Teilnehmerinnen auf. Nach mehreren Jahren entpuppte sich die behinderte Frau als experimentierender Psychologe, der in einem früher geführten Gespräch im Netz versehentlich für eine Frau gehalten wurde und dabei gemerkt hatte, daß Frauen unter sich viel vertraulicher miteinander umgingen, als dies gewöhnlich bei Männern der Fall ist. Um diese Vertraulichkeit zu erfahren, hatte sich der Psychologe eine Maske geschaffen. Nach der - versehentlichen - Entlarvung ging ein Aufschrei durch die Gruppe. "I felt raped", erzählte eine Teilnehmerin, die sich dem Psychologen unter den genannten falschen Voraussetzungen anvertraut hatte, "I felt that my deepest secrets had been violated." (Beispiel erzählt von Allucquere Rosanne Stone)
3. Ein Journalist, der seine Kenntnisse über virtuelle Gemeinschaften erweitern wollte, ließ sich von einem Bekannten, der selbst seit Jahren Teilnehmer eines Netzforums war, in die Praktiken virtueller Gesprächsrunden einführen. Der Bekannte eröffnete dem Journalisten Zugang zu seinem Forum, mit dem er selbst mehrere Stunden täglich verbrachte. Als der Journalist sich längere Zeit mit einer Frau aus dieser Gemeinschaft per Tastatur unterhielt, wurde der neben ihm am Computer sitzende Bekannte hochgradig nervös. Schließlich riß der Bekannte dem Journalisten die Tastatur aus der Hand und unterbrach dessen Kontakt mit dem Forum. Dem erschrockenen Journalisten erklärte er später, daß er seit einigen Jahren mit der Frau, mit der der Journalist sich unterhalten hatte, eine virtuelle lesbische Liebesbeziehung führe. Er lebte diese Beziehung unerkannt und wußte, daß er seine Liebe im wirklichen Leben niemals treffen würde - nicht nur deshalb, weil sie ihn für eine Frau halte, sondern auch, weil er in Wirklichkeit glücklicher Familienvater sei. (Beispiel erzählt von Mark Slouka)
Die Kommunikationsbedingungen, die es erforderlich machen, daß bei der Integration des vertrauten Ich in die virtuelle Identität eine mögliche Distanz der beiden Rollen zueinander beibehalten wird, verstehen einige Teilnehmer in den ersten beiden Beispielen als unterschiedlich zu Kommunikationssituationen in der Wirklichkeit. Von den anderen aber werden die virtuellen Identitäten gar nicht als andere empfunden, sondern als Ergänzungen zum wirklichen Leben. Man könnte zunächst vermuten, daß sich die einen Teilnehmer ihrer Selbstbeschreibung der Wirklichkeit bedienen und in Konflikt geraten mit jenen, die eine distinkt unterschiedliche Rolle dazu einnehmen. Dann, so könnte man folgern, hätten die einen eben das Konzept der multiplen Identität schon begriffen und angewendet, während die anderen immer noch daran glauben, es gäbe sie als authentische Figuren. In diesem Fall ließen sich in Hinblick auf die Frage nach der Identität die Bewohner der WELL im ersten Beispiel mit der verletzten Freundin im zweiten Beispiel demselben Ich-Verständnis zuordnen, da beide eine Bedrohung ihrer virtuellen Identität als ein Bedrohung ihres authentischen Ich empfinden. Sie nehmen die Textualität des Netzes für eine authentische Beschreibung der Situation, während sowohl Rowdies als auch der Psychologe die Kommunikation als bloße Spielrunden begreifen. Damit ließe sich tatsächlich die Identifikation mit der Rolle des virtuellen Ich als klare Alternative zum distanzierten Verhältnis von Spieler und Spielerfigur begreifen und das eine gegen das andere ausspielen.
Versucht man aber, die Ich-Konfiguration so zu verstehen, daß sich mit ihr jeweils Nischen bilden lassen, in denen lediglich Elemente eines sprachlich verfaßten Ich eine als authentisch empfundene Identität anstreben, lassen sich plötzlich die Bewohner der WELL mit dem Psychologen parallelisieren, da beide eine bestimmte alltagspragmatische Ergänzung ihrer Identität gewinnen wollen, während umgekehrt sowohl Cyber-Rowdies als auch die verletzte Freundin emotionale Freiräume ihrer alltagspragmatischen Identität einklagen. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie einen Bereich um ihr Ich zentrieren, den sie als Identität empfinden und es wird durch die Beispiele deutlich, daß diese Bereiche kontingent und austauschbar sind, ohne deswegen auflösbar zu sein. Aus dieser Perspektive gibt es keinen Grund dafür, die oral-literale Identität im Netz gegenüber herkömmlichen Kriterien als illusionär zu beschreiben, aber auch nicht als ekstatisch in dem Sinne, als sie eine spielerische Befreiung vom Wunsch nach Identität bereitstellte. Gerade das dritte Beispiel macht deutlich, daß die verschiedenen Bereiche durchaus als gleichwertig empfunden werden können. Der Familienvater alias die verliebte Frau möchte auf keine seiner Rollen verzichten, weil er in beiden einen Bereich sieht, in dem er seine Identität für wesentlich erachtet. In diesem Beispiel wird die virtuelle Identität nicht in die wirkliche integriert, bestimmt sie als fremde aber derart, daß eine prekäre Allianz geschlossen wird: Die eine Identität verrät die andere nicht und beide bleiben starr in ihren Sphären. Das einzige Beispiel, das auf den ersten Blick den Eindruck wirklicher Befreiung macht, indem es die Möglichkeit suggeriert, eine zusätzliche Rolle zu leben, die im wirklichen Leben unmöglich ist, enthüllt sich als Spaltung eines Identitätsversuchs, der beide seiner Realisationen hochgradig gefährdet.
Am Ende dieser Analyse präsentiert sich das Text gewordene Ich also keineswegs als Endpunkt einer Entwicklung, die von der ganzheitlichen Identität des autonomen bürgerlichen Subjekts mitsamt seiner Ideologisierung über das abgetrennte vereinsamte Einzelne bis hin zur fragmentarischen und schließlich aufgelösten Identität fortschreitet, das nur noch sprachlich formiert in der In- und Outbox seines e-mail-Programms zuhause ist und deshalb plötzlich wie der Besen des Zauberlehrlings magisch mit sich selbst wuchert. Vielmehr verraten die Beispiele die Verschiebung einer Identität, die auch in ihrer elektronischen Vernetzung dem Wunsch nach einer Ich-Erweiterung entspricht, die in dem Moment ihrer ausschließlichen Verbalisierung durch Reduktion befreiend zu sein scheint. Untersucht man aber die Grenzbeispiele, die den Rahmen virtueller Identität abstecken, enthüllt sich diese als von denselben Wünschen nach authentischem Ich-Sein motiviert, die auch das Leben in alltagspragmatischen Zusammenhängen bestimmt. Die Reise zum Zweck der Ich-Erweiterung mag illusionär sein, sie ist in ihrer virtuellen Form deshalb gegenüber dem Wirklichen aber genauso wenig zweitrangig wie sie befreiend rauschhaft ist. Es handelt sich vielmehr um die weitere Form eines Sprachspiels, innerhalb dessen die Grenzen von Ich und anderem einem ständigen Versuch ihrer Bestimmbarkeit anheimgegeben ist.
Anmerkungen
Vortrag gehalten an der Softmoderne 3: Die Sprache der Netze zwischen Fakt und Fiktion, am 6. 9. 1997 im Podewil, Berlin.
Leicht geänderte Fassung unter dem Titel:
'Faites vos jeux - Der Einsatz des Subjekts im Spiel mit virtuellen Identitäten'
abgedruckt in:
Michael Zöller (Hrsg.), Informationsgesellschaft - Von der organisierten Geborgenheit zur unerwarteten Selbständigkeit? VI. Kongreß Junge Kulturwissenschaft und Praxis (= Veröffentlichungen der Hanns Martin Schleyer-Stiftung; Bd. 49). Bachem Verlag. Köln 1998. S. 265-273.