Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Virtualität
Schöpfungen aus dem Nichts: Virtuelles in Physik und Literatur
Jürgen Meyer
Certain kinds of science aspire to the condition of poetry Salman Rushdie, Grimus
1. Mit dem Begriff "Virtualität" begibt man sich in unterschiedliche Sach- und Sprachbereiche und damit vor allem in kaum zu bewältigende semantische Systemzwänge. Alltagssprachlich ist der Begriff offenbar jenem Zweig der neuen Medien vorbehalten, in dem es möglich ist, eine maximale Anzahl digitaler Daten zu speichern und unter minimalem Zeitaufwand zu realistisch wirksamen Eindrücken zu verarbeiten. Damit wäre eine zunehmende Verbreitung des Begriffs in diesem Sinne auf die technologische Innovationsphase seit den 80er Jahren zu datieren. "Virtualität" in seiner gegenwärtigen Verwendung ist anscheinend die Eindeutschung eines Anglizismus, denn im Englischen ist der Ausdruck virtual recht gängig:
virtual 1. being such in essence or effect though not formally recognized or admitted (a ~ dictator, a ~ promise). 2. of, relating to, or using virtual memory. 3. of, relating to, or being a hypothetical particle whose existence is inferred from indirect evidence (Webster's Collegiate Dictionary of English)
Engl. virtual beinhaltet laut der alltagssprachlichen Definition eine Verbindung von Schein und Sein, bzw. eine Simultaneität von Latenz und Wirksamkeit, wobei der Akzent auf dem jeweils letztgenannten Pol zu liegen scheint. Etymologisch reicht der Begriff auf lat. virtus = Kraft, Vermögen, zurück. Kluges EtymologischesWörterbuch der deutschen Sprachen (221989, 766) übersetzt "virtuell" lakonisch mit "möglich" und markiert es vor allem als sondersprachlichen Begriff. Damit eröffnet sich die dritte Begriffsdimension, die im englischen Wörterbuch aufgelistet wird und die auch hier unter Punkt 3. erläutert wird.
2.Vorher gilt es, die Nähe von "Virtualität" und "Möglichkeit" festzuhalten und damit die seltene Aufführung des Begriffs in Nachschlagewerken zu begründen. Mit dem Konzept der virtual reality, einer Welt also, die nicht real ist und doch den Involvierten zu realen Aktionen veranlaßt, bewegt man sich auf die alte Vorstellung einer Vielzahl der Welten zu. Das Dictionary of Philosophy and Ontology setzt den Beginn dieser Traditionslinie mit der Atomtheorie der Vorsokratiker Leukipp und Demokrit an, deren Schüler Epikur dann weiterfragte, "whether the visible world […] constituted all of existence, or whether there existed innumerable such worlds" (DPO, 949). Wandte sich Aristoteles gegen eine solche Vorstellung (realer) "paralleler Welten", so rehabilitierten die Scholastiker Thomas von Aquin und Wilhelm von Ockham sie mit einem ähnlichen Argument, das sich auch in Leibniz' Theodicee (1710) findet: Er postuliert im Gegensatz zu seinen antiken und mittelalterlichen Vorläufern nicht mehr reale, sondern mögliche Welten, die nicht zwangsläufig existieren müssen; doch könnten sie dies – aufgrund von Gottes Allmacht. Diese Vorstellung ist der Grundstein für die späteren Modelle virtueller Welten. Leibniz resümiert seinerzeit, daß das empirische Diesseits denn doch "die beste aller möglichen Welten" sei. Diese Idee wurde von Kant und seinen Nachfolgern im 19. Jahrhundert eher als erkenntnistheoretische Position denn als weltanschauliche Spekulation vertreten. Besonders unter dem Einfluß der Einsteinschen Äquivalenz von Materie und Energie (E=mc2), der Raumzeit und vor allem der quantenmechanischen Unschärferelation wurde die weltanschauliche Seite der möglichen Welten wieder in den Vordergrund gerückt, so besonders durch die Interpretation von Erwin Schrödingers Wellenfunktion "Psi" , die alle statistisch möglichen Zustände eines Elektrons auf seiner Schale um den Atomkern abbildet. Hugh Everett und John A. Wheeler konstruierten daraus 1957 in der Zeitschrift Review of Modern Physics das Modell der Parallelen Welten in der Physik. "The theory deals with the totality of all the possible ways in which this state function can be decomposed into the sum of the products of state functions for subsystems of the overall system – and nothing more" (Wheeler 1957, 463). Dieses Modell wurde dahingehend interpretiert, daß sämtliche Zustände der Wellenfunktion in anderen, sinnlich nicht erfaßbaren Dimensionen der Raumzeit realisiert seien: An dieser Stelle fließen Quantenmechanik und Metaphysik ineinander über, und die Betonung von Unschärferelation und Statistik charakterisiert die begriffliche Nachbarschaft von "virtueller Realität" und "virtuellen Teilchen".
3. Die rare Verwendung des Begriffs als schwer erfaßbares Element im Kontinuum zwischen den nicht minder indefiniten Polen "Wirklichkeit" und "Möglichkeit" sowie seine Anwendung im Zusammenhang mit vorzugsweise digitalen Medien läßt mich vermuten, daß es gerade diese Verbindung von philosophischer Begriffsgeschichte und wissenschaftlich-technologischem Gebrauch ist, die den Einfluß von "Virtualität" auf den aktuellen Alltagsdiskurs mitbestimmt hat. Denn gerade die Physik kennt als Einzeldisziplin einen vielseitigen Gebrauch dieses Wortes, wobei der für unsere Zwecke sicherlich bedeutendste die Vorstellung von der Entstehung "virtueller Teilchen" aufgrund von Wechselwirkungen im Bereich der Materie/ Antimaterie ist. 1962 liest sich ein Lexikoneintrag im Encyclopaedic Dictionary of Physics über den Vorgang, der 1949 erstmals von Richard Feynman beschrieben wurde, wie folgt:
Virtual Particle, Process, State (Quantum Theory of Fields). The quantum theory of fields describes by means of so-called state function "Psi" (t) a system consisting of a certain number of particles (photons, electrons, mesons, nucleons, etc.) with their respective momenta, spins and possibly other properties, all at a given time t. When such a state, which we call the initial state and which has a discrete energy, changes into another, the final state, the energy of which lies in the energy continuum, then the theory enables us to calculate the transition probability per unit time for such a change to take place. […]
Now it turns out that in each process of creation and destruction of a particle […] linear and angular momentum and also the charge are conserved, but energy is not, although the over-all process must of course conserve energy too. For such intermediate states it is not necessary to conserve energy provided that the lifetime t of the state is very short […] according to the uncertainly [sic!] principle […].
Such states cannot of course be observed and they are for that reason called virtual states and the particles that exist only in intermediate states are called virtual particles. The process of the creation or destruction of a virtual particle is called a virtual process. (EDP, 628 f.)
4. Viel literarische Inspiration ist dieser rein fachsprachlichen Erläuterung sicherlich nicht abzugewinnen – dafür wurde sie auch nicht geschrieben. Der mit der Phantastik physikalischer Prozesse flirtende Sachbuchautor John Gribbin veranschaulicht denselben Vorgang in seinem populärwissenschaftlichen Buch In Search of Schrödinger's Cat (1984) denn auch ganz anders:
A proton proceeding quietly on its way can explode into a buzzing network of virtual particles all interacting with one another, then subside back into itself; all particles can be regarded as combinations of other particles involved in what Fritjof Capra calls "the cosmic dance." […]
If there is an inherent uncertainty about the energy available to a particle for a short enough time, we can also say that there is an inherent uncertainty about whether or not a particle exists for a short enough time. Provided certain rules such as the conservation of electric charge and the balance between particles and antiparticles are obeyed, there is nothing to stop a whole batch of particles appearing out of nothing and then recombining with one another and disappearing before the universe at large notices the discrepancy. An electron and a positron may appear quickly enough; a proton and an antiproton can do the same thing. […] A photon that doesn't exist creates a positron/electron pair, that then annihilate to produce the photon that created them in the first place […]. Alternatively, an electron can be imagined chasing its own tail in a time eddy. (Gribbin 1984, 200 f.)
Man erkennt, wie sehr Gribbin in seinem Buch mit dem erzählerischen Potential dieser Vorstellungen spielt. Er wurde hier deswegen so ausführlich zitiert, weil er die Vorgänge in energetisch geladenen Spannungsfeldern besonders plastisch darstellt. Doch steht er im Kontext populärwissenschaftlicher Literatur für viele, die sich in ihren Büchern über derartige Wechselwirkungen wort- und bilderreich geäußert haben. Zu ihnen gehören Capra (1975) ebenso wie Douglas Hofstadter (1979) und Stephen W. Hawking (1988). Sie trugen dazu bei, daß der Begriff aus seinem Lexikondasein in den Literaturdiskurs übertragen wurde, und haben ihn durch immer anschaulichere Erklärungen in gewissem Maße sogar alltagsfähig gemacht.
5. Wie kann, von diesem fachsprachlichen Gebrauch des eher als Attribut verwendeten "virtuell" ausgehend, die Literatur mit der philosophisch und physikalisch angereicherten Begriffswolke, die die "Virtualität" umgibt, agieren? – Gibt es überhaupt die Möglichkeit einer Übertragung derartiger Phänomene auf fiktionale, zumeist doch auf menschliche Beziehungen in "schöner" Literatur? Geht es hier nicht vorzugsweise um Phänomene im makrokosmischen Raum statt um solche auf subatomarer Ebene? Und welche Funktion mag eine solche Übertragung der physikalischen Bedeutung auf eine literarische Virtualität haben?
Konkret läßt sich ein motivgeschichtlicher Horizont andeuten. Stellvertretend sei hier auf einige repräsentative deutsch- und englischsprachige Werke des 20. Jahrhunderts hingewiesen. Geradezu klassisch für die Antizipation einer literarischen Anwendung von Virtualität dürfte Robert Musils Unterscheidung von Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn sein und das sich daraus ergebende Konzept der Utopie, das er im ersten Teil des Romans Der Mann ohne Eigenschaften (1930) inmitten seiner physikalisch aufgeladenen Poetik liefert:
Utopien bedeuten ungefähr soviel wie Möglichkeiten, darin, daß eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als daß die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie. (Musil 1988, 246)
Möglichkeit und Wirklichkeit bilden hier die Pole eines vertikalen Kontinuums, bei dem die Gesamtheit der aktualen Randbedingungen entscheidend für die Verwirklichung einer (latenten) Möglichkeit ist. Doch beschreibt Musil nicht die Bedingungen für die Entstehung von Realität, sondern einer (nicht realen) Utopie: hier geht es darum, die Realisierbarkeit einer Möglichkeit gedanklich-experimentell auszuloten und so die Möglichkeit aus ihrer gegenwärtigen Einbindung ins Reale zu isolieren und in ein neues (imaginäres) Bezugsfeld zu versetzen und danach zu handeln. In diesem nicht physischen Raum (der U-topie) erhält dann die Möglichkeit ihren "virtuellen" Realitätscharakter.
Als zweites, dem heutigen Gebrauch sehr viel näher verwandtes Beispiel sei Flann O'Briens 1939/40 verfaßter, erst 1967 postum erschienener Roman The Third Policeman genannt. Dessen Titelfigur erweist sich als Problemfall: Der "dritte" Polizist namens Fox wird vom zweiten Kapitel an immer wieder in Konversationen der jenseitigen Romangestalten – hauptsächlich bestehend aus dem Ich-Erzähler und zwei Polizisten – erwähnt. Die Hinweise auf den dritten Polizisten kumulieren in einer rätselhaften Erscheinung gegen Ende des Romans: Hier tritt eine Figur auf, die sich als "Fox" vorstellt, von der paradoxen Konstruktion eines toten Ich-Erzähler aber aufgrund der äußeren Erscheinung als jemand anders identifiziert wird: "I knew he was not Fox but Mathers. I knew Mathers was dead" (O'Brien 1975, 183). Es bleibt unmöglich festzustellen, ob es tatsächlich einen "Policeman" Fox gibt oder nicht: Er ist eben zunächst "nur" ein Erzählgegenstand verschiedener Gestalten und manifestiert sich als physische, wenngleich von "ungovernable inexactitudes" (O'Brien 1975, 152) bestimmte Erscheinung, die dann aber in ihrer phantasmagorischen Umgebung für "reale" Verwirrung sorgt: Der außerweltliche Diskurs bildet das Bezugsfeld, in dem das virtuelle Objekt erschaffen wird.Das logische Entweder-Oder, das Aristotelische tertium non datur sind ebenso außer Kraft gesetzt wie die euklidische Geometrie: Unschärfen und Raumzeitkrümmungen beherrschen die Topographie und Geschehnisse, die der Roman schildert.
Salman Rushdie beschreibt in Grimus (1975) die Reisen des Protagonisten Flapping Eagle durch parallele Universen, die erst durch Zufall zugänglich geworden und dann durch die Hybris der beteiligten Figuren außer Kontrolle geraten sind, und zitiert einmal ganz deutlich die Beschreibungen physikalischer Wechselwirkungen: "Suddenly universe dissolves, and for a fraction of time you are simply a small bundle of energy adrift in a sea of unimaginably vast forces. It is a devastating, agonizing piece of knowledge. Then it – the universe – assembled once again" (Rushdie 1996, 244). Während in populärwissenschaftlicher, esoterisch beeinflußter Sachliteratur vom "cosmic dance" der Elementarteilchen und ihrer Energien – Gravitation, Elektromagnetismus sowie schwache vs. starke Kernkraft – die Rede ist (vgl. Capra 1975), beschreibt Rushdie in enger Analogie dazu eine gesellschaftliche Kaste von spiritistisch-szientifischen "Spiral Dancers":
[...] they found [...] the dance of life. This was a harmony of the infinitesimal, where energy and matter moved like fluids. Energy forces came gracefully together to create at their point of union a pinch which was matter. The pinches came together into larger pinches; or else fell away again into pure energy, according to the rules of a highly formal, spiral rhythm. When they came together, they were dancing the Strongdance. When they fell back into the Primal, they were dancing the Weakdance. (Rushdie 1996, 75)
Doch bedarf es keineswegs eines science-fiction-Mythos, um solchen Zusammenhängen in der Literatur zu begegnen, wenngleich ein Autor wie Dürrenmatt sowohl mit dem Genre wie auch – als interessierter Laie – mit den wissenschaftlichen Hintergründen vertraut war. In seinem letzten Roman Durcheinandertal (1989) thematisiert er immer wieder solche Schöpfungen von Faßbarem aus dem Nichts, die oft aus "Wechselwirkungen" in den Begegnungen einzelner Figuren entstehen, wie z.B. die Prozesse, die zur faktischen Gründung einer karitativen Scheinorganisation des göttergleichen "Großen Alten", der Swiss Society for Morality, führen:
Waren [die Rechtsanwälte] Raphael, Raphael und Raphael sich noch einigermaßen über den Großen Alten im klaren, so überlieferten sie von diesem den Rechtsanwälten, mit denen sie sich in Verbindung setzten, ein von allen Schatten zwar nicht ganz befreites, doch gemildertes Bild, das, wie es weiter empfohlen wurde, sich aufhellte, bis es sich derart verklärte und ins Humanitäre verschob, daß es sich eigentlich um kein Bild mehr handelte, sondern um eine äußerst blasse Idee von einer losen Vereinigung wohltätiger Multimillionäre, die eine amerikanische Parallelgesellschaft zur Moralischen Aufrüstung in Caux gegründet hatten, die Boston Society for Morality. Nach dieser gleichsam homöopathischen Vorbereitung wurde ein Ehrenkomitee gebildet [...]. Die Boston Society for Morality war so nebelhaft wie die meisten Vereinigungen für gute Zwecke. Die Herren standen in der Gründungsversammlung ratlos herum, bevor sie zur Gründung der europäischen Sektion der Society schritten, ahnungslos, daß es eine amerikanische Sektion gar nicht gab. (Dürrenmatt 1989, 30 f.)
An diesen Beispielen wird die Übersetzbarkeit des ursprünglich abstrakt-fachsprachlichen Begriffs in einen literarischen Kontext sowohl auf inhaltlicher als auch struktureller Ebene deutlich. Eingebunden sind die zitierten Passagen jedoch in absurde Zusammenhänge, so daß sich die Frage nach der Funktion ihrer Übersetzung fast gar nicht mehr stellt: Die Theorien der modernen Physik werden sowohl bei O'Brien als auch bei Rushdie und Dürrenmatt in einen satirischen Zusammenhang mit (religiösen) Mythen gestellt, die per se einen voraufklärerischen Wirklichkeitszugang haben; von einer affirmativen Verwendung des so kreierten naturwissenschaftlichen Mythos kann deswegen keine Rede sein. Autoren, die naturwissenschaftliche Interessen, resp. solche in der Physik, hegen, lassen Zweifel an der Allegorese mathematischer Formeln und ihrer Terme in weltanschauliche Deutungen aufkommen. Damit stehen sie keineswegs allein, denn auch aus den Reihen der Physiker kommt Kritik. Schon Arthur S. Eddington formulierte seinerzeit Zweifel an der hypothetisch-mathematisch notwendigen Existenz von masselosen Elementarteilchen, den Neutrinos, mit folgendem Bild:
Suppose an artist puts forward the fantastic theory that the form of a human head exists in a rough-shaped block of marble. All our rational instinct is roused against such an anthropomorphic speculation. It is inconceivable that Nature should have placed such a form inside the block. But the artist proceeds to verify his theory experimentally – with quite rudimentary apparatus too. Merely using a chisel to separate the form for our inspection, he triumphantly proves his theory. (Eddington 1949, 110)
6. Die Metaphorisierung von naturwissenschaftlichen Theorien läßt die Absurdität des menschlichen quest-Motivs aufscheinen – die Übersetzung des Konzepts der physikalischen Virtualität (das hier stellvertretend für die ganze Physik in ihrer Eigenschaft als Leitwissenschaft des 20. Jahrhunderts betrachtet wurde) in literarische Bilder läßt sich in diesem Zusammenhang als zumeist dystopische Groteske deuten: sowohl hinsichtlich der Perfektibilität des aufgeklärten Menschen – die im 19. Jahrhundert vor allem mit biologistischen Metaphern (vgl. E.T.A. Hoffmanns Sandmann und Mary Shelleys Frankenstein) ab-geschrieben wurde –, als auch im Hinblick auf seinen verantwortungsbewußten Umgang mit dem angehäuften Wissen (vgl. Aldous Huxleys Brave New World und Dürrenmatts Die Physiker). Nicht einmal die Entdeckung eines wissenschaftlich begründbaren, metaphysischen Sinns menschlicher Existenz ist mit Hilfe solcher Grundlagenforschung in eine erkennbare Nähe gerückt.
Als Medium des Wissenstransfers von fachsprachlichen Inhalten zur Literatursprache, von der physikalischen Laborrealität mit ihren Erkenntnissen zum Alltag erweisen sich vordergründig um Allgemeinverständlichkeit bemühte Publikationen renommierter Wissenschaftler. Diese aber kreieren in ihrem Bemühen, hochgradig abstraktes theoretisches und experimentelles Wissen scheinbar im alltagsgerechten Plauderton zu vermitteln, in Wirklichkeit absichtlich oder unabsichtlich Mythen über sich selbst und ihre Forschungsgebiete. Gegen diese Art der Mythifizierung von Wissen und Information, die mit einer gehörigen Beimischung von fiktionaler Oberflächen-Spannung vermittelt wird, wenden sich außer O'Brien, Dürrenmatt und Rushdie zahlreiche andere Schriftsteller, um ihre Kritik zumeist satirisch oder parodistisch zum Ausdruck zu bringen. In einer zweiten Wendung bedeutet die Aufnahme eines von der Alltagserfahrung so weit entfernten Komplexes, wie es die heutigen Naturwissenschaften mit ihrer Grundlagenforschung sind, in den literarischen Diskurs auch die Speicherung eines kulturellen Faktors, der viele Bereiche heutiger Technologie bestimmt und in gewisser Weise mit den technischen Produkten den Alltag determiniert. Damit fällt der Literatur selbst in diesem anscheinend so "anderen" Bereich eine nicht zu unterschätzende, gesellschaftlich relevante Funktion zu, aus der sich auch der letzte hier zu erwähnende Punkt ergibt: Schließlich geht es im Bereich dieses Komplexes um den Umgang mit Wissen – und die Warnung vor der unkritischen Akzeptanz dessen, was die autoritative (digitale oder analoge) Präsentationsoberfläche bietet. Wegen seiner irrationalen Analogien zwischen unvereinbaren Realitätsmomenten hält Lia ihrem Freund Casaubon in Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel (1988) vor:
Du lebst von Oberflächen. Wenn du tief scheinst, dann weil du viele davon verklammerst und so den Anschein eines Festkörpers erzeugst – eines Festkörpers, der, wenn er fest wäre, nicht stehen könnte. [...] Was die anderen Tiefe nennen, ist nur ein Tesserakt, ein vierdimensionaler Kubus. Du trittst auf der einen Seite hinein, auf der anderen hinaus, und befindest dich in einer Welt, die nicht mit deiner Welt koexistieren kann. (Eco 1989, 62)
Für meine Darlegungen habe ich die besprochenen Autoren deswegen ausgewählt, weil sie sich als Bindeglieder zwischen einer Kritik an den exakten Wissenschaften und an der Kommunizierbarkeit ihrer Theorien erweisen. Damit ist nicht gesagt, daß diese Autoren das Genre populärwissenschaftlicher Literatur in Abrede stellen wollen, sie hinterfragen lediglich – auf sehr unterhaltsame Weise – den Nimbus objektiver Aussagekraft; ein Nimbus übrigens, den die Autoren populärwissenschaftlicher Werke oft genug, mal ernsthaft, mal kokett, selbst infragestellen und der ihnen dennoch immer wieder zugesprochen wird. In diesem Sinne sei noch einmal Salman Rushdie, anläßlich seiner Besprechung von Stephen W. Hawkings A Brief History of Time, das (vorerst letzte) Wort gegeben:
It is impossible, however, not to admire the grand Quixotic conviction of Stephen Hawking's quest for the end of knowledge; while continuing to believe that the only permanent discoveries are those of the imagination. (Rushdie 1991, 264)

Zitierte Literatur

Capra, F. (1975): The Tao of Physics. Boulder, Col.: Shambala
Dürrenmatt, F. (1989): Durcheinandertal. Zürich: Diogenes
Eco, U. (1989): Das Foucaultsche Pendel. München: Hanser
Eddington, A. S. (1949): The Philosophy of Physical Science. Cambridge: CUP
Everett, H. (1957): "'Relative State' Formulation of Quantum Mechanics", Reviews of Modern Physics 29:3 (1957), 454-462
Gribbin, J. (1984): In Search of Schrödinger's Cat: Quantum Physics and Reality. New York: Bantam Books
Hawking, S. W. (1988): A Brief History of Time: From the Big Bang to Black Holes. Introduction by Carl Sagan. London: Bantam Books
Hofstadter, D. (1979): Gödel, Escher, Bach: An Eternal Golden Braid. New York: Basic Books
Musil, R. (1988): Der Mann ohne Eigenschaften. Hrsg. von A. Frisé. Reinbek: Rowohlt
O'Brien, F. (1975): The Third Policeman. London: Hart-Davis, MacGibbon
Rushdie, S. (1991): Imaginary Homelands. London: Granta
----- (1996): Grimus. London: Vintage
Wheeler, J.A. (1957): "Assessment of Everett's 'Relative State' Formulation of Quantum Theory", Reviews of Modern Physics 29:3 (1957), 463-465
Dictionary of Philosophy and Ontology
Encyclopaedic Dictionary of Physics (1962)
Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprachen (1989)
McGraw-Hill Dictionary of Physics (1997)
Webster's Collegiate Dictionary of English (CD-Rom Infopedia 2, 1994)