Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Nicht(s)tun
Elf Notizen über das Nichts
Claus-Steffen Mahnkopf
»Wie schade, daß das ›Nichts‹ durch den Mißbrauch, den seiner unwürdige Philosophen mit ihm trieben, entwertet wurde!« (Cioran)
Abgrund des Schöpferischen
Künstler sprechen gerne vom Nichts. Freilich nicht aus Eitelkeit, einem Kokettieren mit dem, was ihren Leistungen doch widerspricht. Wenn es nämlich gutgeht, produzieren sie das Größte, was die Menschheit aufzuweisen hat. Nein, es gibt einen Realgrund für ein solches Sprechen. Man mag sich fragen, woraus und woher die Künstler das, was sie schaffen, was sie schöpfen, nehmen, ist doch das, was sie in die Welt setzen, zuvor schlechterdings nicht da. Vielschreiber, Künstler, die ihre Werke aus sich herausfließen zu lassen scheinen wie Kabarettisten ihre flotten Sprüche, nimmt man gerne zum Anlaß zu vermeinen, das sei der Regelfall, Künstlern sei die Gabe zum schenkenden Verströmen aus unversiegbaren Quellen eingeboren. Goethe und Mozart werden auf diesem Weg glorifiziert. Aber gerade beide beweisen, daß solche Überproduktion an Goldene Zeitalter gebunden ist, an die Konfluenz von Zeitgeist und menschlichem Sein. Seit dem Durchbruch der Moderne endet Massenhaftes meist in Ausschuß; Picasso ist ein seltenes, ein rätselhaftes Gegenbeispiel. Es ist kein Zufall, daß diejenigen, die zählen, Weniges, aber Konzentriertes schufen. Das ist nicht nur der Nötigung geschuldet, im Zeitalter einer schlechten Allgemeinheit Besonderes sui generis zu suchen. Es zeigt sich überdies, wie wenig selbstverständlich künstlerische Produktion in Wahrheit ist. Die geniehafte Glorifizierung der Künstler als der Gottbegnadeten – und welcher, ist er einmal zu Ansehen und Ruhm gelangt, genösse nicht auch eine solche verlockende Attribuierung? – übersieht, daß Künstler nicht einfach Menschen sind: sie sind Künstler in dem Maße, wie es ihnen gelingt, Mensch zu sein, mithin über alle Entfremdetheit und über alle Entfernung vom messianischen Zustand hinaus den Menschen als nackten zu zeigen. Und das ist, solange das Los der Menschheit verhangen ist, das Schwierigste. Deshalb gibt es so wenig überzeugende Kunst und spüren wir, was an ihr nicht trägt. Terminiert so das meiste im Nichts, weil es nichts ist, so wird umgekehrt das Tragende aus dem Nichts geborgen, genauer: dem Nichts abgetrotzt. Künstlerische Kreativität erkämpft sich am Nichts das wenige, das doch mehr ist als Nichts. In dieser äußerst schmalen Zone von Sinn findet statt, was man den künstlerischen Genius nennt.
Negation
Das Nichts ist in der Kunst der Horizont auch der Negation. Diese ist eines der Kennzeichen der Moderne. Aber warum? Negation ist zum einen die Wut gegen das Alte, das dem Neuen, das sich mit der bürgerlichen Triebdynamik aufmacht, im Wege steht. Der Künstler spürt, was unangemessen ist, und das ist, in den Zeiten des gesellschaftlichen Fortschritts, so ziemlich alles. Daß dies alles nicht mehr gehe, dahin geht die Sensibilität des Künstlers, der, dem zum Trotze, dennoch will, daß es oder daß etwas gehe. Er tendiert zur Negation, konfrontiert das Bestehende und Bekannte mit einem Nein, mit dem Nicht-so, und wenn es gutgeht, entsteht daraus das Beste unter dem Neuen. Künstlerische Negation ist darum stets bestimmte, nicht einfach abstrakte, nicht Beteuerung, was man nicht will. Das wäre billig und fiele sogleich aus ihr heraus. Nein, Kunst, will sie negatorisch sein, muß an dem, was ist, was sie vorfindet, abtaxieren, was dennoch geht, um eben dieses wenige in den Kontext von Versetzungen des einstmals Positiven zu stellen. Was das konkret heißt, führt das berühmte Beispiel von Becketts En attendant Godot vor: Die Szenerie ist nicht einfach ausgedünnt, läßt weg, was nicht unbedingt sein muß, stellt die Handlung entblößt dar. Sondern Becketts Genie erweist sich darin, die Restbestände dessen, was abseits steht, das Randseitige, das im Nichts beheimat ist, überhaupt sinnfällig und sprachmächtig zu machen und dem Verstummen und Ausschweigenmüssen zu entreißen.
Logik
Die Rede vom Nichts in der Kunst ist so geläufig wie gefährlich. Es ist nicht daran zu erinnern, wie Hegels Logik beginnt. Aber daran, daß der Abstand vom Nichts zum Alles, und das heißt pragmatisch: zur Vielschwätzerei gerade der Intellektuellen, gering ist. Vieler Diskurs über Kunst, der über das Nichts faselt zu Zeiten, da die existentielle Bedrohung, die die Künstler einst tatsächlich zum Nichts trieb, längst vorbei oder aber selbstverständlich, weil allgegenwärtig wurde, ist in der Tat dem Nichts geschuldet: Er sagt nichts, weil es nichts zu sagen gibt. Das hat auch – um das nicht zu verschweigen – einen Realgrund nicht selten: Das angestrengte, aber vermeintliche Kunstwerk ist eine quantité négligeable und lebt nur davon, daß sein Gesetztsein in die Kunsthallen vom eloquenten Nichts eines schreibenden Zunftangehörigen begleitet wird. Zuweilen wird das darüber Geschriebene oder Gesprochene selber zur Kunst, nicht selten besser als das ärmliche Artefakt, das es aufwerten soll. Auf der Basler Ausstellung »Skulptur im 20. Jahrhundert« (1984) konnte man dem »Loxodrome, 1975 (1)« von Carl Andre begegnen, mehreren aneinandergelegten Holzbalken, also einem einzigen, der rechtwinklig von der Wand abstand. Phantasie und Bearbeitungsqualität waren gleich Null. Im Katalog stand dazu: »Der Kontakt mit Stella und derjenige mit den andern Künstlern der Minimal Art (seit 1964) regte ihn an, die Arbeit des Bildhauers so zu systematisieren, dass der Betrachter anhand der Fügung oder Reihung gleicher Einzelelemente zur Gesamtform gelangt.« Das ist Galimathias. Dem entgegen müßte das Nichts gerettet werden, dort wo es triftig ist, wo das Nichts als Kategorie in der Kunst – jenseits einer PR-Strategie – aus dem Schaffensgrund des Künstler selber entsteigt.
Musikalische Anarchie
Cage ist der bekannteste Komponist des 20. Jahrhunderts bei denen, die die Musik des 20. Jahrhunderts nicht kennen. Weil Cages ganzes Streben danach ging, die gesamte Ontologie des Musikalischen zu destruieren – buchstäblich: ins Nichts aufzulösen –, verbleibt so wenig, wenn nicht nichts vom Musikalischen selber, das man verstehen müßte, will man Cage musikalisch verstehen. Man versteht ihn daher auch als Künstler, weniger denn als Musiker. Seine Intention war die reale Anarchie, trotz der Gesetzförmigkeit seiner, der amerikanischen Gesellschaft und obwohl er nicht wußte, was Messianismus ist. Solche Regellosigkeit zu Zeiten, die Anarchie realgesellschaftlich noch nicht verwirklicht haben, ja solche Verwirklichung immer unwahrscheinlicher machen, kann nicht zu einem wundersam geschenkten Ganz-Anderen in musicis führen, sondern ist verdammt, im Nichts zu enden. Was in seinem Fall nicht heißt, daß man nichts höre. Selbst im Pausenstück ist Hörbares. Aber was fehlt, ist der Sinn des Ganzen wie einer jeder Einzelheit. Semantisch ist die Musik Cages, ist sie denn eine, Nichts. Immerhin etwas, wenn auch etwas enttäuschend Defizitäres. Denn dieses Nichts ist nicht – das wäre (alt-)europäisch – aus der künstlerischen Not geboren, sondern einem kindlichen Spieltrieb eines Mannes, dessen schelmische Augen doch die treuen Jünger, schauten sie nur einmal richtig hin, aufklären müßten. Pyromanische Anarchie war noch nie eine reale Gefährdung für die Gesellschaft, höchstens für Biedermänner.
Verweigerung und die Dialektik des Protests
Angesichts der Abgefeimtheiten der heutigen Pseudo-Kultur und der Schmach, daß eine immer reichere Gesellschaft immer weniger an veritabler Kultur interessiert ist, kann man nur zu gut verstehen, wenn Sensible – und sind nicht die Künstler das gesellschaftliche Sensibilitäts-›System‹? – zum Schluß kommen, nicht mehr mitzumachen. Dazu muß man sich aber als Künstler erst einen Namen gemacht haben. Aufhören wie bei Hildesheimer oder Ausrinnen wie bei Beckett ist nur möglich, wenn zuvor hart gearbeitet wurde. Verweigerung muß daher erarbeitet sein, zumal heute die klassischen Lösungen vollends aufgebraucht sind. Andererseits ist, wer sich nicht verweigert, wer fröhlich mitmacht, bereits verloren, auch wenn das erst spät, vielleicht posthum, ans Tageslicht gelangt. Verweigerung allein hilft nicht und würde ohnehin nur vom Realitätsprinzip, wie es ist, verlacht. Die Gewinner warten nur auf ihre Häme. Anders steht es um den Protest. Doch Protestieren, wie bis in die frühen 1980er Jahre hinein, zählt genausowenig. Es ist ein Keifen geworden. Protest ist nur als harte Arbeit an dem wenigen möglich, was künstlerisch noch geht und was stets dem Nichts verschwistert ist. Das ist harte Arbeit deswegen, weil die Dialektik des Protestes es will, daß er, ist ein bestimmter Schwellenwert an Lautstärke auch nur geringfügig überschritten, in Talkshow-Divertissement umschlägt. Protest muß sich daher des Leisen, des streng Arbeitenden, des Gründlichen und Genauen besinnen. Nur dort, in den subtilen Differenzen, jenseits aller Ideologie, ist intellektueller Widerstand noch möglich und dringend zu wünschen.
Trauerarbeit
Nach dem, was geschah, was sich die Menschheit im 20. Jahrhundert leistete, wie sich das deutsche Kulturvolk zum spasmischen Führergruß erniedrigte, nach der Shoah und Auschwitz – oder, für den, der nicht so weit denken möchte: nach dem Zerfall der Großen Musik – verbleibt eigentlich nur eine Musik, die trauert. Das heißt nicht unbedingt, daß sie eine traurige sei, ist doch die Eindeutigkeit von Affekten gerade der neuen Musik abhanden gekommen. Trauer heißt vielmehr eine Musik, die weiß, was sie verloren hat und sich genau dem stellt. Dazu gibt es zwei gleichermaßen legitime und produktive Wege: denjenigen, den Feldman und Kurtág, durchaus unterschiedlich und doch wahlverwandt, gingen, und denjenigen, den man einem Thomas Pynchon ablernen kann. Feldman meinte einmal in grandioser Vereinseitigung, seine Musik sei eine Antwort auf den Tod Schuberts. Kurtág ist der Todeskomponist par excellence, nicht nur um der Freunde willen, denen er musikalische Epitaphe schrieb, viel eher vermöge seines nostalgischen und doch nicht reaktionären Tonfalls. Beider Musik nimmt sich die Zeit, die nötig ist, einmal überlange, einmal eher knappe, aber ungehetzte, Feldman zeigt, daß keine Lebenszeit mehr sei, Kurtág kennt sie nur als Trauerarbeit. Pynchon hingegen überläßt sich der Fülle des Wirklichen, mithin dessen verquerer Verwickelung bis ins Letale. Die permanente Paranoia ist bei ihm keine Einbildung eines kranken Gemüts, sondern fait social, vor dem man sich anstrengen muß, nicht krank zu werden. Beide Typen sind einander widersprechende und doch gleichwertige Reaktionsweisen auf die Leere, die heute Kultur heißt.
Musikalische Negentropie
Trotz aller Dekonstruktivität, die an der Zeit ist, und allen Zweifels an der Integrität, ja Integralität des Kunstwerks ist das Ziel aller Kunst Ordnung, diejenige des So-und-nicht-anders der individuellen Lösung. Insofern geht alle Kunst auf das Gegenteil des Nichts. Ja, Kunst, so sehr sie sich auch dem Nichts zu verdanken scheint, ist das radikale Gegenbild zum Nichts, erfüllte Gegenwart, oder, um mit George Steiner zu sprechen, der die schönsten Sentenzen zur Musik formulierte, reale Gegenwart, die Anwesenheit des jüdischen Gottes als des Schöpfers der geoffenbarten Welt der Sprache. Musik, eigentümlich sprachfern und beredt wie nichts anderes auf der Welt, erzählt uns davon und immer auch davon, wie es sein könnte, wenn die Welt im messianischen Lichte da liege. Damit spricht sie von etwas, was real nicht ist und doch uns gegeben ist durch die Musik allein. Adorno erklärte solche Befähigung zum Vor-Schein mit der Gelungenheit der zwanglosen Synthese. Heute wissen wir, daß, zumindest in der Neuen Musik, etwas hinzutreten müsse: ein qualitativ anderes Klangideal auf eben jener Grundlage einer zwanglosen Synthese. Ein Klang, der fremd und heimisch zugleich ist, der die Kindheit mit dem ganz Unvertrauten mischt, ein Klang, der sich endlich vom falschen Pathos einer 19. Jahrhundert-Ideologie befreit, die heutzutage nichts als Warencharakter produziert. Musikalische Negentropie muß eine qualitative und eine kritische sein.
Horror vacui oder die komplexistische Herausforderung
Die komplexe Musik – bekannt unter den Namen »New Complexity« oder »Komplexismus« und Gegenbild zu den simplifizierenden Neue-Musik-Modellen wie Minimalismus und Neue Einfachheit – ist gleichfalls eine Antwort auf das Nichts. Wer ihre Partituren sieht, ihre Schwärze, ihr Informationsgenauigkeit und komprimierte Dichte, denkt spontan an alles andere als an das Nichts, er denkt an Fülle, an Enzyklopädisches, an Borges' Vorstellung von der Bibliothek zu Babel. Doch derlei hat etwas Erzwungenes, etwas eingestandenermaßen Ertrotztes. Einer ihrer Wortführer meinte einmal gegenüber einem hilflosen Studenten, der nicht begreifen konnte, weshalb man so überdichte, hochkomplexe Musik schreibe, das Leben sei kurz und man müsse eben in der kurzen Lebenszeit möglichst viele Noten »hinüberbringen«. Komplexe Musik ist somit ein Modus, nicht nur die Angst vor dem Tode zu bändigen, sondern auch dem schmalen Wirkungsraum bis dahin Sinn entgegenzusetzen, der Leere, die sich anthropologisch wie real-gesellschaftlich auftut, etwas entgegenzuhalten. Es ist das Vakuum, musikalisch ja die Reinheit des akustischen Raums, das komplexe Musik flieht. Gleichwohl ist sie kein ideologischer Schein im Sinne der marxistischen Ästhetik. Sie gaukelt nichts vor, was nicht ist. Sie supponiert keine Sinnpräsenz inmitten der nachmetaphysischen Krise. Der Komplexismus ist, genealogisch seit dem Serialismus wie phänomenologisch in der musikalischen Morphologie, dekonstruktiv und somit eine produktive Auseinandersetzung mit der An- und Abwesenheit. Auch das radikale Gegenmodell zur Nichts-Musik ist eine Antwort auf das Nichts.
Nichts als Signum der Gegenwart
Das Nichts ist – trotz des Schabernacks, der mit ihm getrieben wird – ein veritables Thema. Der Verfall der metaphysischen Sinnsysteme, der im 19. Jahrhundert, und nicht nur bei russischen Schriftstellern, ein Thema wie den Nihilismus auslöste, der Verfall des Religiösen (oder besser: die Substitution einer gelebten und geglaubten Religion durch konfessionelle Machtdispositive), der Nietzsche zu seiner berühmten Akklamation des Todes Gottes führte, wurde im Gaskrieg des Weltkriegs, von dem damals niemand wissen konnte, das er der erste von zweien sei, auf die Ebene der nackten Existenz, auf das platteste materiale Niveau zugleich gebracht wie dort unwiderlegbar bestätigt. Trotz der zur gleichen Zeit aufblühenden revolutionären Hoffnungen nach einer ganz anderen Welt, war es mit dem alten Europa, um mit Luhmann zu sprechen, endgültig zu Ende, dem Europa, das die eine Seite des Ewigen immerhin noch ermöglichte, zu dem, nach einer Definition der Modernität von Baudelaire, diejenige des Flüchtigen und Ephemeren notwendigerweise dazugehört. So wie danach alles möglich schien, schien trotzdem ein zweiter Weltkrieg mit der Atombombe und Auschwitz nicht möglich. Daß vor allem das doch so zivilisierte Volk der Deutschen die europäische Barbarei – atavistisch und zugleich technologisch avanciert – herbeiführen werde, lag außerhalb des Vorstellungsvermögens selbst der Schwarzseher. Selbst heute fällt es schwer, das zu begreifen. Daß, nach einem bösen Urteil Adornos, alle Kultur danach Müll sei – will sagen: egal, worum sie sich bemüht, sie nichts vermöchte gegen die Kräfte, die die europäische Zivilisationsgeschichte derart desavouierten –, ist keine Übertreibung. Es ist ein täglicher Merkspruch. Einer über das, was man täglich merkt, wenn man auch nur ein wenig die Kultur beim Wort nimmt. Sie, die doch so aktiv ist wie noch nie in der Geschichte, was bietet sie denn? Was – im Ernst – ist an ihr noch fähig, ein Ganzes tragen zu können? Die Ausnahmen, an welche man sich regelmäßig klammert, weil man dem ganzen Ausmaß an kultureller Verwüstung nicht ins Angesicht blicken möchte? Das mag glauben, wer will. Ich vermag es nicht mehr. Ob es eine »Archäologie des Verlustes« zwischen dem Heute und Auschwitz gibt, wäre erst noch zu untersuchen. Eines steht aber jetzt schon fest: Eine Kultur, die sich Auschwitz erinnerte, hörte ohne Zögern mit dem falschen Spaß, der das Leben verrät, auf und besänne sich auf den Boden des Nichts, von dem allein herauf ein schöpferischer Neubeginn – und Kultur ist immer ein Von-neuem-Beginnen – überhaupt möglich wäre.
Todesprinzip
Wer schmolz nicht während der Nachtgesänge des Tristan dahin, wäre er dort auf der Bühne, wäre er den beiden gleich, in Erwartung eines seligen Dahinvergehens. Das Nichts ist auch die Sehnsucht des Einschlafenden und des petit mort. Wagner, im Tristan, war der erste, der dafür eine musikalische Sprache fand. Hören wir, so befinden wir uns, real Lebende und die Versuchung Überstehende, fast dort, wohin uns nur diese Musik zu tragen vermag. Vermutlich ist der faktische Liebestod eher prosaisch. Das Nichts, aus dem sich die künstlerische Inspiration losreißt, deren Werke die Welt reicher machen, ist das, wohin alles Lebendige und Blühende auch wieder zurückzukehren begehrt. Dieses Auf und Ab, dieser Atem des Entstehens und Vergehens wird in den Orchesterwellen von Brangänes Nachtgesang Ereignis. Im 20. Jahrhundert, der Meisterzeit des Tötens, vermochte nur ein Komponist, dieses De-Kom-Ponieren zu verklanglichen: Alban Berg. Er mag es von Gustav Mahler gelernt haben, dem Sensiblen für die Abgründe des menschlichen Daseins. Das von der Filmindustrie entstellte Adagietto aus der Fünften Symphonie, des Komponisten Tristangruß an die Geliebte Alma, enthält, bei Ziffer 3, mittels Leittoneinstellungen eine Schiebe-Modulation in die Ausgangstonart, die gar nicht erreicht werden dürfte. Zu erwarten wäre Fis-Dur; statt dessen erscheint F-Dur mit großer Sexte d (dieser Ton wirkt als Trugschlußtonstufe), ohne Baßfundament, klanglich als Morendo, in hoher Lage, die in angedeutetem Glissando zart in sich zusammenfällt. Nur Harfe und die Reprisenfunktion stützen F-Dur. Diese Stelle, obwohl sie zum scheinbar sicheren Ausgangspunkt zurückführt, streift, für einen kurzen, stehenden Augenblick, den Tod, das gänzliche Nicht-weiter-mehr, und dies in klanglicher Verzauberung. Für einen unscheinbaren, aber gedehnten Moment wird alle Kausalität und die Logik des Sinns suspendiert und die Musik dem Nichts überantwortet, dem sie sich dennoch entwindet. Dieses Komponieren am schmalen Grat zwischen Sinn, Expression, Klanggewalt einerseits und dem Einsturz, dem Herab-in-den-Grund andererseits ist die Gnade Alban Bergs, nicht nur im dritten der Orchesterstücke, nachdem der Hammerschlag dem Geschwindmarsch das Ende bereitet und für die bevorstehende Exekution nur einige verhaltene Glocken läuten läßt.
void
Daniel Libeskind hat sich dem Undarstellbaren in darstellerischer Absicht genähert. Das Jüdische Museum in Berlin ist mehr als ein Museumsbau und mehr als ein bedeutendes Bauwerk der dekonstruktivistischen Architektur. Das Jüdische Museum ist ein Kunstwerk, das Aspekte des Schicksals des Judentums – Wannsee ist ein Teil von Berlin – mit architektonischen Mitteln thematisiert. Hier wird Architektur – selten genug – autonom und deswegen sprachfähig. Wie aber das Fehlen, den Verlust, der die Ermordeten sind, darstellen? Derrida hält dies für prinzipiell unmöglich. Kann aber das, dessen Darstellung mit guten Gründen verweigert wird, auf Dauer erinnernd gewußt werden? Libeskind entschied sich für unbetretbare, unbeheizte, leere, die Stockwerke übergreifende Aussparungen in seinem ohnehin verschachtelten Bau, einsehbar durch kleinere Fenster, bescheiden, nicht demonstrativ-didaktisch, ans stille Subjekt sich wendend. Die Leere ist dort entleerte – »voided void«, wie Libeskind etwas emphatisch sagt. Der Holocaustturm ist betretbar, gänzlich dunkel, wäre nicht der verdeckte Lichtschlitz hoch oben, der die spitz zulaufende Flucht ins Unendliche um so mehr dem Auge als abolute Schwärze präsentiert. Libeskind ist das Risiko eingegangen, daß solche Erfahrung in der Erlebnisgesellschaft Kitsch wird. Aber es war nötig, denn seine »voids« sagen noch ein Zweites: Die Leere hat auch uns, mit oder ohne eine Ätiologie auf den Holocaust, längst ergriffen und gefangengesetzt. Wer das aber – durch alle Tricks der Kulturindustrie hindurch – erkannt hat, weiß, daß das Nichts unser aller Schicksal ist.