Abgrund des Schöpferischen Künstler sprechen gerne vom Nichts. Freilich nicht aus
Eitelkeit, einem Kokettieren mit dem, was ihren Leistungen doch widerspricht. Wenn es
nämlich gutgeht, produzieren sie das Größte, was die Menschheit aufzuweisen hat. Nein,
es gibt einen Realgrund für ein solches Sprechen. Man mag sich fragen, woraus und woher
die Künstler das, was sie schaffen, was sie schöpfen, nehmen, ist doch das, was sie in
die Welt setzen, zuvor schlechterdings nicht da. Vielschreiber, Künstler, die ihre Werke
aus sich herausfließen zu lassen scheinen wie Kabarettisten ihre flotten Sprüche, nimmt
man gerne zum Anlaß zu vermeinen, das sei der Regelfall, Künstlern sei die Gabe zum
schenkenden Verströmen aus unversiegbaren Quellen eingeboren. Goethe und Mozart werden
auf diesem Weg glorifiziert. Aber gerade beide beweisen, daß solche Überproduktion an
Goldene Zeitalter gebunden ist, an die Konfluenz von Zeitgeist und menschlichem Sein. Seit
dem Durchbruch der Moderne endet Massenhaftes meist in Ausschuß; Picasso ist ein
seltenes, ein rätselhaftes Gegenbeispiel. Es ist kein Zufall, daß diejenigen, die
zählen, Weniges, aber Konzentriertes schufen. Das ist nicht nur der Nötigung geschuldet,
im Zeitalter einer schlechten Allgemeinheit Besonderes sui generis zu suchen. Es zeigt
sich überdies, wie wenig selbstverständlich künstlerische Produktion in Wahrheit ist.
Die geniehafte Glorifizierung der Künstler als der Gottbegnadeten – und welcher, ist
er einmal zu Ansehen und Ruhm gelangt, genösse nicht auch eine solche verlockende
Attribuierung? – übersieht, daß Künstler nicht einfach Menschen sind: sie sind
Künstler in dem Maße, wie es ihnen gelingt, Mensch zu sein, mithin über alle
Entfremdetheit und über alle Entfernung vom messianischen Zustand hinaus den Menschen als
nackten zu zeigen. Und das ist, solange das Los der Menschheit verhangen ist, das
Schwierigste. Deshalb gibt es so wenig überzeugende Kunst und spüren wir, was an ihr
nicht trägt. Terminiert so das meiste im Nichts, weil es nichts ist, so wird umgekehrt
das Tragende aus dem Nichts geborgen, genauer: dem Nichts abgetrotzt. Künstlerische
Kreativität erkämpft sich am Nichts das wenige, das doch mehr ist als Nichts. In dieser
äußerst schmalen Zone von Sinn findet statt, was man den künstlerischen Genius nennt. Negation Das Nichts ist in der Kunst der Horizont auch der Negation.
Diese ist eines der Kennzeichen der Moderne. Aber warum? Negation ist zum einen die Wut
gegen das Alte, das dem Neuen, das sich mit der bürgerlichen Triebdynamik aufmacht, im
Wege steht. Der Künstler spürt, was unangemessen ist, und das ist, in den Zeiten des
gesellschaftlichen Fortschritts, so ziemlich alles. Daß dies alles nicht mehr gehe, dahin
geht die Sensibilität des Künstlers, der, dem zum Trotze, dennoch will, daß es oder
daß etwas gehe. Er tendiert zur Negation, konfrontiert das Bestehende und Bekannte mit
einem Nein, mit dem Nicht-so, und wenn es gutgeht, entsteht daraus das Beste unter dem
Neuen. Künstlerische Negation ist darum stets bestimmte, nicht einfach abstrakte, nicht
Beteuerung, was man nicht will. Das wäre billig und fiele sogleich aus ihr heraus. Nein,
Kunst, will sie negatorisch sein, muß an dem, was ist, was sie vorfindet, abtaxieren, was
dennoch geht, um eben dieses wenige in den Kontext von Versetzungen des einstmals
Positiven zu stellen. Was das konkret heißt, führt das berühmte Beispiel von Becketts En
attendant Godot vor: Die Szenerie ist nicht einfach ausgedünnt, läßt weg, was nicht
unbedingt sein muß, stellt die Handlung entblößt dar. Sondern Becketts Genie erweist
sich darin, die Restbestände dessen, was abseits steht, das Randseitige, das im Nichts
beheimat ist, überhaupt sinnfällig und sprachmächtig zu machen und dem Verstummen und
Ausschweigenmüssen zu entreißen. Logik Die Rede vom Nichts in der Kunst ist so geläufig wie gefährlich.
Es ist nicht daran zu erinnern, wie Hegels Logik beginnt. Aber daran, daß der Abstand vom
Nichts zum Alles, und das heißt pragmatisch: zur Vielschwätzerei gerade der
Intellektuellen, gering ist. Vieler Diskurs über Kunst, der über das Nichts faselt zu
Zeiten, da die existentielle Bedrohung, die die Künstler einst tatsächlich zum Nichts
trieb, längst vorbei oder aber selbstverständlich, weil allgegenwärtig wurde, ist in
der Tat dem Nichts geschuldet: Er sagt nichts, weil es nichts zu sagen gibt. Das hat auch
– um das nicht zu verschweigen – einen Realgrund nicht selten: Das angestrengte,
aber vermeintliche Kunstwerk ist eine quantité négligeable und lebt nur davon, daß sein
Gesetztsein in die Kunsthallen vom eloquenten Nichts eines schreibenden Zunftangehörigen
begleitet wird. Zuweilen wird das darüber Geschriebene oder Gesprochene selber zur Kunst,
nicht selten besser als das ärmliche Artefakt, das es aufwerten soll. Auf der Basler
Ausstellung »Skulptur im 20. Jahrhundert« (1984) konnte man dem »Loxodrome, 1975 (1)«
von Carl Andre begegnen, mehreren aneinandergelegten Holzbalken, also einem einzigen, der
rechtwinklig von der Wand abstand. Phantasie und Bearbeitungsqualität waren gleich Null.
Im Katalog stand dazu: »Der Kontakt mit Stella und derjenige mit den andern Künstlern
der Minimal Art (seit 1964) regte ihn an, die Arbeit des Bildhauers so zu systematisieren,
dass der Betrachter anhand der Fügung oder Reihung gleicher Einzelelemente zur Gesamtform
gelangt.« Das ist Galimathias. Dem entgegen müßte das Nichts gerettet werden, dort wo
es triftig ist, wo das Nichts als Kategorie in der Kunst – jenseits einer
PR-Strategie – aus dem Schaffensgrund des Künstler selber entsteigt. Musikalische Anarchie Cage ist der bekannteste Komponist des 20. Jahrhunderts bei
denen, die die Musik des 20. Jahrhunderts nicht kennen. Weil Cages ganzes Streben danach
ging, die gesamte Ontologie des Musikalischen zu destruieren – buchstäblich: ins
Nichts aufzulösen –, verbleibt so wenig, wenn nicht nichts vom Musikalischen selber,
das man verstehen müßte, will man Cage musikalisch verstehen. Man versteht ihn daher
auch als Künstler, weniger denn als Musiker. Seine Intention war die reale Anarchie,
trotz der Gesetzförmigkeit seiner, der amerikanischen Gesellschaft und obwohl er nicht
wußte, was Messianismus ist. Solche Regellosigkeit zu Zeiten, die Anarchie
realgesellschaftlich noch nicht verwirklicht haben, ja solche Verwirklichung immer
unwahrscheinlicher machen, kann nicht zu einem wundersam geschenkten Ganz-Anderen in
musicis führen, sondern ist verdammt, im Nichts zu enden. Was in seinem Fall nicht
heißt, daß man nichts höre. Selbst im Pausenstück ist Hörbares. Aber was fehlt, ist
der Sinn des Ganzen wie einer jeder Einzelheit. Semantisch ist die Musik Cages, ist sie
denn eine, Nichts. Immerhin etwas, wenn auch etwas enttäuschend Defizitäres. Denn dieses
Nichts ist nicht – das wäre (alt-)europäisch – aus der künstlerischen Not
geboren, sondern einem kindlichen Spieltrieb eines Mannes, dessen schelmische Augen doch
die treuen Jünger, schauten sie nur einmal richtig hin, aufklären müßten. Pyromanische
Anarchie war noch nie eine reale Gefährdung für die Gesellschaft, höchstens für
Biedermänner. Verweigerung und die Dialektik des Protests Angesichts der Abgefeimtheiten der heutigen Pseudo-Kultur und
der Schmach, daß eine immer reichere Gesellschaft immer weniger an veritabler Kultur
interessiert ist, kann man nur zu gut verstehen, wenn Sensible – und sind nicht die
Künstler das gesellschaftliche Sensibilitäts-›System‹? – zum Schluß
kommen, nicht mehr mitzumachen. Dazu muß man sich aber als Künstler erst einen Namen
gemacht haben. Aufhören wie bei Hildesheimer oder Ausrinnen wie bei Beckett ist nur
möglich, wenn zuvor hart gearbeitet wurde. Verweigerung muß daher erarbeitet sein, zumal
heute die klassischen Lösungen vollends aufgebraucht sind. Andererseits ist, wer sich
nicht verweigert, wer fröhlich mitmacht, bereits verloren, auch wenn das erst spät,
vielleicht posthum, ans Tageslicht gelangt. Verweigerung allein hilft nicht und würde
ohnehin nur vom Realitätsprinzip, wie es ist, verlacht. Die Gewinner warten nur auf ihre
Häme. Anders steht es um den Protest. Doch Protestieren, wie bis in die frühen 1980er
Jahre hinein, zählt genausowenig. Es ist ein Keifen geworden. Protest ist nur als harte
Arbeit an dem wenigen möglich, was künstlerisch noch geht und was stets dem Nichts
verschwistert ist. Das ist harte Arbeit deswegen, weil die Dialektik des Protestes es
will, daß er, ist ein bestimmter Schwellenwert an Lautstärke auch nur geringfügig
überschritten, in Talkshow-Divertissement umschlägt. Protest muß sich daher des Leisen,
des streng Arbeitenden, des Gründlichen und Genauen besinnen. Nur dort, in den subtilen
Differenzen, jenseits aller Ideologie, ist intellektueller Widerstand noch möglich und
dringend zu wünschen. Trauerarbeit Nach dem, was geschah, was sich die Menschheit im 20.
Jahrhundert leistete, wie sich das deutsche Kulturvolk zum spasmischen Führergruß
erniedrigte, nach der Shoah und Auschwitz – oder, für den, der nicht so weit denken
möchte: nach dem Zerfall der Großen Musik – verbleibt eigentlich nur eine Musik,
die trauert. Das heißt nicht unbedingt, daß sie eine traurige sei, ist doch die
Eindeutigkeit von Affekten gerade der neuen Musik abhanden gekommen. Trauer heißt
vielmehr eine Musik, die weiß, was sie verloren hat und sich genau dem stellt. Dazu gibt
es zwei gleichermaßen legitime und produktive Wege: denjenigen, den Feldman und Kurtág,
durchaus unterschiedlich und doch wahlverwandt, gingen, und denjenigen, den man einem
Thomas Pynchon ablernen kann. Feldman meinte einmal in grandioser Vereinseitigung, seine
Musik sei eine Antwort auf den Tod Schuberts. Kurtág ist der Todeskomponist par
excellence, nicht nur um der Freunde willen, denen er musikalische Epitaphe schrieb, viel
eher vermöge seines nostalgischen und doch nicht reaktionären Tonfalls. Beider Musik
nimmt sich die Zeit, die nötig ist, einmal überlange, einmal eher knappe, aber
ungehetzte, Feldman zeigt, daß keine Lebenszeit mehr sei, Kurtág kennt sie nur als
Trauerarbeit. Pynchon hingegen überläßt sich der Fülle des Wirklichen, mithin dessen
verquerer Verwickelung bis ins Letale. Die permanente Paranoia ist bei ihm keine
Einbildung eines kranken Gemüts, sondern fait social, vor dem man sich anstrengen muß,
nicht krank zu werden. Beide Typen sind einander widersprechende und doch gleichwertige
Reaktionsweisen auf die Leere, die heute Kultur heißt. Musikalische Negentropie Trotz aller Dekonstruktivität, die an der Zeit ist, und allen
Zweifels an der Integrität, ja Integralität des Kunstwerks ist das Ziel aller Kunst
Ordnung, diejenige des So-und-nicht-anders der individuellen Lösung. Insofern geht alle
Kunst auf das Gegenteil des Nichts. Ja, Kunst, so sehr sie sich auch dem Nichts zu
verdanken scheint, ist das radikale Gegenbild zum Nichts, erfüllte Gegenwart, oder, um
mit George Steiner zu sprechen, der die schönsten Sentenzen zur Musik formulierte, reale
Gegenwart, die Anwesenheit des jüdischen Gottes als des Schöpfers der geoffenbarten Welt
der Sprache. Musik, eigentümlich sprachfern und beredt wie nichts anderes auf der Welt,
erzählt uns davon und immer auch davon, wie es sein könnte, wenn die Welt im
messianischen Lichte da liege. Damit spricht sie von etwas, was real nicht ist und doch
uns gegeben ist durch die Musik allein. Adorno erklärte solche Befähigung zum Vor-Schein
mit der Gelungenheit der zwanglosen Synthese. Heute wissen wir, daß, zumindest in der
Neuen Musik, etwas hinzutreten müsse: ein qualitativ anderes Klangideal auf eben jener
Grundlage einer zwanglosen Synthese. Ein Klang, der fremd und heimisch zugleich ist, der
die Kindheit mit dem ganz Unvertrauten mischt, ein Klang, der sich endlich vom falschen
Pathos einer 19. Jahrhundert-Ideologie befreit, die heutzutage nichts als Warencharakter
produziert. Musikalische Negentropie muß eine qualitative und eine kritische sein.
Horror vacui oder die komplexistische Herausforderung Die komplexe Musik – bekannt unter den Namen »New
Complexity« oder »Komplexismus« und Gegenbild zu den simplifizierenden
Neue-Musik-Modellen wie Minimalismus und Neue Einfachheit – ist gleichfalls eine
Antwort auf das Nichts. Wer ihre Partituren sieht, ihre Schwärze, ihr
Informationsgenauigkeit und komprimierte Dichte, denkt spontan an alles andere als an das
Nichts, er denkt an Fülle, an Enzyklopädisches, an Borges' Vorstellung von der
Bibliothek zu Babel. Doch derlei hat etwas Erzwungenes, etwas eingestandenermaßen
Ertrotztes. Einer ihrer Wortführer meinte einmal gegenüber einem hilflosen Studenten,
der nicht begreifen konnte, weshalb man so überdichte, hochkomplexe Musik schreibe, das
Leben sei kurz und man müsse eben in der kurzen Lebenszeit möglichst viele Noten
»hinüberbringen«. Komplexe Musik ist somit ein Modus, nicht nur die Angst vor dem Tode
zu bändigen, sondern auch dem schmalen Wirkungsraum bis dahin Sinn entgegenzusetzen, der
Leere, die sich anthropologisch wie real-gesellschaftlich auftut, etwas entgegenzuhalten.
Es ist das Vakuum, musikalisch ja die Reinheit des akustischen Raums, das komplexe Musik
flieht. Gleichwohl ist sie kein ideologischer Schein im Sinne der marxistischen Ästhetik.
Sie gaukelt nichts vor, was nicht ist. Sie supponiert keine Sinnpräsenz inmitten der
nachmetaphysischen Krise. Der Komplexismus ist, genealogisch seit dem Serialismus wie
phänomenologisch in der musikalischen Morphologie, dekonstruktiv und somit eine
produktive Auseinandersetzung mit der An- und Abwesenheit. Auch das radikale
Gegenmodell zur Nichts-Musik ist eine Antwort auf das Nichts.
Nichts als Signum der Gegenwart Das Nichts ist – trotz des Schabernacks, der mit ihm
getrieben wird – ein veritables Thema. Der Verfall der metaphysischen Sinnsysteme,
der im 19. Jahrhundert, und nicht nur bei russischen Schriftstellern, ein Thema wie den
Nihilismus auslöste, der Verfall des Religiösen (oder besser: die Substitution einer
gelebten und geglaubten Religion durch konfessionelle Machtdispositive), der Nietzsche zu
seiner berühmten Akklamation des Todes Gottes führte, wurde im Gaskrieg des Weltkriegs,
von dem damals niemand wissen konnte, das er der erste von zweien sei, auf die Ebene der
nackten Existenz, auf das platteste materiale Niveau zugleich gebracht wie dort
unwiderlegbar bestätigt. Trotz der zur gleichen Zeit aufblühenden revolutionären
Hoffnungen nach einer ganz anderen Welt, war es mit dem alten Europa, um mit
Luhmann zu sprechen, endgültig zu Ende, dem Europa, das die eine Seite des Ewigen
immerhin noch ermöglichte, zu dem, nach einer Definition der Modernität von Baudelaire,
diejenige des Flüchtigen und Ephemeren notwendigerweise dazugehört. So wie danach alles
möglich schien, schien trotzdem ein zweiter Weltkrieg mit der Atombombe und Auschwitz
nicht möglich. Daß vor allem das doch so zivilisierte Volk der Deutschen die
europäische Barbarei – atavistisch und zugleich technologisch avanciert –
herbeiführen werde, lag außerhalb des Vorstellungsvermögens selbst der Schwarzseher.
Selbst heute fällt es schwer, das zu begreifen. Daß, nach einem bösen Urteil Adornos,
alle Kultur danach Müll sei – will sagen: egal, worum sie sich bemüht, sie nichts
vermöchte gegen die Kräfte, die die europäische Zivilisationsgeschichte derart
desavouierten –, ist keine Übertreibung. Es ist ein täglicher Merkspruch. Einer
über das, was man täglich merkt, wenn man auch nur ein wenig die Kultur beim Wort nimmt.
Sie, die doch so aktiv ist wie noch nie in der Geschichte, was bietet sie denn? Was –
im Ernst – ist an ihr noch fähig, ein Ganzes tragen zu können? Die Ausnahmen, an
welche man sich regelmäßig klammert, weil man dem ganzen Ausmaß an kultureller
Verwüstung nicht ins Angesicht blicken möchte? Das mag glauben, wer will. Ich vermag es
nicht mehr. Ob es eine »Archäologie des Verlustes« zwischen dem Heute und Auschwitz
gibt, wäre erst noch zu untersuchen. Eines steht aber jetzt schon fest: Eine Kultur, die
sich Auschwitz erinnerte, hörte ohne Zögern mit dem falschen Spaß, der das Leben
verrät, auf und besänne sich auf den Boden des Nichts, von dem allein herauf ein
schöpferischer Neubeginn – und Kultur ist immer ein Von-neuem-Beginnen –
überhaupt möglich wäre.
Todesprinzip Wer schmolz nicht während der Nachtgesänge des Tristan dahin,
wäre er dort auf der Bühne, wäre er den beiden gleich, in Erwartung eines seligen
Dahinvergehens. Das Nichts ist auch die Sehnsucht des Einschlafenden und des petit mort.
Wagner, im Tristan, war der erste, der dafür eine musikalische Sprache fand. Hören wir,
so befinden wir uns, real Lebende und die Versuchung Überstehende, fast dort, wohin uns
nur diese Musik zu tragen vermag. Vermutlich ist der faktische Liebestod eher prosaisch.
Das Nichts, aus dem sich die künstlerische Inspiration losreißt, deren Werke die Welt
reicher machen, ist das, wohin alles Lebendige und Blühende auch wieder zurückzukehren
begehrt. Dieses Auf und Ab, dieser Atem des Entstehens und Vergehens wird in den
Orchesterwellen von Brangänes Nachtgesang Ereignis. Im 20. Jahrhundert, der Meisterzeit
des Tötens, vermochte nur ein Komponist, dieses De-Kom-Ponieren zu verklanglichen: Alban
Berg. Er mag es von Gustav Mahler gelernt haben, dem Sensiblen für die Abgründe des
menschlichen Daseins. Das von der Filmindustrie entstellte Adagietto aus der Fünften
Symphonie, des Komponisten Tristangruß an die Geliebte Alma, enthält, bei Ziffer 3,
mittels Leittoneinstellungen eine Schiebe-Modulation in die Ausgangstonart, die gar nicht
erreicht werden dürfte. Zu erwarten wäre Fis-Dur; statt dessen erscheint F-Dur mit
großer Sexte d (dieser Ton wirkt als Trugschlußtonstufe), ohne Baßfundament, klanglich
als Morendo, in hoher Lage, die in angedeutetem Glissando zart in sich zusammenfällt. Nur
Harfe und die Reprisenfunktion stützen F-Dur. Diese Stelle, obwohl sie zum scheinbar
sicheren Ausgangspunkt zurückführt, streift, für einen kurzen, stehenden Augenblick,
den Tod, das gänzliche Nicht-weiter-mehr, und dies in klanglicher Verzauberung. Für
einen unscheinbaren, aber gedehnten Moment wird alle Kausalität und die Logik des Sinns
suspendiert und die Musik dem Nichts überantwortet, dem sie sich dennoch entwindet.
Dieses Komponieren am schmalen Grat zwischen Sinn, Expression, Klanggewalt einerseits und
dem Einsturz, dem Herab-in-den-Grund andererseits ist die Gnade Alban Bergs, nicht nur im
dritten der Orchesterstücke, nachdem der Hammerschlag dem Geschwindmarsch das Ende
bereitet und für die bevorstehende Exekution nur einige verhaltene Glocken läuten
läßt. void Daniel Libeskind hat sich dem Undarstellbaren in
darstellerischer Absicht genähert. Das Jüdische Museum in Berlin ist mehr als ein
Museumsbau und mehr als ein bedeutendes Bauwerk der dekonstruktivistischen Architektur.
Das Jüdische Museum ist ein Kunstwerk, das Aspekte des Schicksals des Judentums –
Wannsee ist ein Teil von Berlin – mit architektonischen Mitteln thematisiert. Hier
wird Architektur – selten genug – autonom und deswegen sprachfähig. Wie aber
das Fehlen, den Verlust, der die Ermordeten sind, darstellen? Derrida hält dies für
prinzipiell unmöglich. Kann aber das, dessen Darstellung mit guten Gründen verweigert
wird, auf Dauer erinnernd gewußt werden? Libeskind entschied sich für unbetretbare,
unbeheizte, leere, die Stockwerke übergreifende Aussparungen in seinem ohnehin
verschachtelten Bau, einsehbar durch kleinere Fenster, bescheiden, nicht
demonstrativ-didaktisch, ans stille Subjekt sich wendend. Die Leere ist dort entleerte
– »voided void«, wie Libeskind etwas emphatisch sagt. Der Holocaustturm ist
betretbar, gänzlich dunkel, wäre nicht der verdeckte Lichtschlitz hoch oben, der die
spitz zulaufende Flucht ins Unendliche um so mehr dem Auge als abolute Schwärze
präsentiert. Libeskind ist das Risiko eingegangen, daß solche Erfahrung in der
Erlebnisgesellschaft Kitsch wird. Aber es war nötig, denn seine »voids« sagen noch ein
Zweites: Die Leere hat auch uns, mit oder ohne eine Ätiologie auf den Holocaust, längst
ergriffen und gefangengesetzt. Wer das aber – durch alle Tricks der Kulturindustrie
hindurch – erkannt hat, weiß, daß das Nichts unser aller Schicksal ist.
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