Abgrund des Schöpferischen Die Formulierung nichts tun stellt eine contradictio
in adjecto dar, insofern das Tun eine Handlung ist, dem das Nichts
gerade als Negation gegenübersteht. Somit entspricht die Aussage, daß jemand nichts
tun würde einer elliptischen Wendung, im Sinne von nichts bestimmtes tun
oder nichts sinnvolles tun oder auch nichts absichtsvolles tun.
Indem eine Handlung dergestalt ihrer Intentionalität beraubt wird, bedeutet nichts tun
dem sensus communis entsprechend, zwar etwas zu tun, jedoch etwas, das weder
bewußt, noch absichtsvoll geschieht. So vermittelt jemand, der geistesabwesend in die
Gegend schaut, eher den Eindruck, nichtszu tun, als jemand, der das
Geschehen um sich herum bewußt beobachtet. Jemand, der seine Gedanken ziehen läßt, hat
wiederum eher den Eindruck, nichts zu tun, als jemand der nachdenkt. Während das Tun
tendenziell eher mit aktiven Bewegungen wie gehen, schwimmen, tanzen, arbeiten oder auch
nachdenken, beobachten, zuhören usw. assoziiert wird, wird das Nichtstun latent
eher mit passiven Bewegungen wie sitzen, liegen oder stehen in Verbindung gebracht,
obgleich auch die passiven Bewegungen bewußt ausgeführt, sich im Prinzip in aktive
verwandeln können. Dieses Moment des Bewußtseins im Zusammenhang mit
dem Nichtstun ruft eine weitere Bedeutungsvariante auf. Bewußt nichts zu tun
könnte nämlich auch bedeuten, bestimmte Handlungen absichtsvoll zu unterlassen. Diese
Bedeutungsdimension wird aber erst vor dem Hintergrund erwarteter bzw. zu erwartender
Handlungen aktiviert. Im Gegensatz zu den bewußten Handlungen des
Alltags ließen sich schlafen und das damit assoziierte Träumen vielleicht am ehesten als
Nichtstun bezeichnen. Schlaf und Traum stehen dabei in einem dialektischen
Verhältnis zum Wachsein und zum Tun. Am Beispiel von Arthur Schnitzlers Traumnovelle
wird im folgenden die skizzierte Doppelbedeutung des Nicht(s)tuns untersucht, also
einerseits die Frage, in welchem Verhältnis Tun und Nichtstun im Kontext
von Schlaf und Wachsein bzw. von Traum- und Alltagshandlungen stehen und andererseits die
Frage, inwieweit das Nichttun im Sinne des Unterlassens erwarteter bzw. zu
erwartender Handlungen ein konstitutives Element der Traumnovelle darstellt.
"Nichts weiter." Kubricks Verfilmung Eyes Wide Shut hat
im Jahr 1999 die Traumnovelle ins kollektive Gedächtnis der Cinephilen gerufen. Es
geht in der Novelle um einen Konflikt des Ehepaares Fridolin und Albertine, der durch das
Geständnis der erotischen Wünsche der Frau ausgelöst wird. Albertine — respektive
Alice in der modernen Adaption durch Kubrick — gesteht ihrem Mann, daß sie einem
Unbekannten gegenüber von leidenschaftlichen Gefühlen überwältigt worden ist. Obgleich
dieser Unbekannte Albertine auf einer Hoteltreppe nur "flüchtig gemustert" [14]
hatte und sich ihre Blicke nur kurz begegnet waren, glaubte sie sich bereit, sich ihm
hinzugeben und zugleich alles für ihn hinzugeben (1). Auf dieses Geständnis hin fragt
sie Fridolin respektive Bill nur trocken "Und?", woraufhin Albertine antwortet
"Nichts weiter." [15] Dieses "nichts weiter" steht genau für das Nichttun
dessen, was ihre Gedanken und Gefühle sich sehnlich wünschen. Damit ist das gegenseitige
Geständnis von geheimen Wünschen, Sehnsüchten und Leidenschaften aber noch nicht
beendet. Albertine erzählt ihrem Mann, daß es nur einem Zufall zu verdanken war, daß
sie noch "jungfräulich" seine "Gattin" [18] geworden ist: "'Es war am Wörthersee, ganz kurz vor
unserer Verlobung, Fridolin, da stand an einem schönen Sommerabend ein sehr hübscher
junger Mensch an meinem Fenster, das auf die große, weite Weise hinaussah, wir plauderten
miteinander, und ich dachte im Laufe dieser Unterhaltung, ja höre nur, was ich dachte:
Was ist das doch für ein lieber, entzückender, junger Mensch, — er müßte jetzt
nur ein Wort sprechen, freilich, das richtige müßte es sein, so käme ich zu ihm hinaus
auf diese Wiese und spazierte mit ihm, wohin es ihm beliebte, — in den Wald
vielleicht; — oder schöner noch wäre es, wir führen im Kahn zusammen in den See
hinaus — und er könnte von mir in dieser Nacht alles haben, was er nur verlangte.
Ja, das dachte ich mir. — Aber er sprach das Wort nicht aus, der entzückende
junge Mensch; er küßte nur zart meine Hand, — und am Morgen darauf fragte er mich
— ob ich seine Frau werden wollte. Und ich sagte ja.' Fridolin ließ unmutig ihre
Hand los. 'Und wenn an jenem Abend', sagte er dann, 'zufällig ein anderer an deinem
Fenster gestanden hätte und ihm wäre das richtige Wort eingefallen […]." [18f]
Fridolin hat in jener Nacht nichts getan,
außer ihr die Hand zu küssen, somit hat er gerade nicht getan, wonach sich
Albertine bei der ersten Begegnung gesehnt hatte. Die unterlassene Verführung allein
macht Albertine für ihre Jungfräulichkeit bei der Hochzeit verantwortlich. Nicht allein,
daß die Ehe im ausgehenden 19. Jahrhundert als primäre Legitimation der Sexualität
betrachtet wurde, sondern auch, daß Frauen des Bürgertums im Kontext männlicher
Doppelmoral sexuelle Wünsche weitgehend abgesprochen wurden, läßt Albertines
Geständnis zum Skandalon werden (2). Dieses Eingeständnis sexueller Wünsche trägt dazu
bei, daß Fridolin sich selbst und seine Frau in neuem Licht betrachtet. Während
Albertine jedoch nichts tut, indem sie weder ihre Wünsche als sechzehnjährige
gegenüber ihrem zukünftigen Mann, noch als bereits Verheiratete mit dem Unbekannten im
Hotel in die Tat umsetzt, geht Fridolin von Eifersucht auf die erotischen Wünsche und
Phantasien seiner Frau getrieben, auf die Suche nach erotischen Abenteuern. "Unsägliche Lust des Schauens." Die Möglichkeit, nichts zu tun, wird von
Fridolin kurz erwogen — "Wie wär's, dachte Fridolin, wenn ich gar nicht erst
ausstiege – sondern lieber gleich zurückkehrte? […] Nein, ich kann nicht
zurück, dachte er bei sich." [48f] —, um sogleich wieder verworfen zu werden.
Fridolin folgt einem ehemaligen Studienkommilitonen namens Nachtigall — respektive
Nightingale — auf eine geheime Veranstaltung einer geschlossenen Gesellschaft, wo es
die herrlichsten nackten Frauen zu sehen geben soll. [40f] Nachtigall hatte ihm nicht zu
viel versprochen: "Fridolins Augen irrten durstig von üppigen
zu schlanken, von zarten zu prangend erblühten Gestalten; — und daß jede dieser
Unverhüllten doch ein Geheimnis blieb und aus den schwarzen Masken als unlöslichste
Rätsel große Augen zu ihm herüberstrahlten, das wandelte ihm die unsägliche Lust des
Schauens in eine fast unerträgliche Qual des Verlangen." [51] Fridolin tut nichts, außer das Geschehen
zu beobachten und dabei von Raum zu Raum zu gehen. Anstatt sich in das Liebesspiel der
nackten Leiber hineinziehen zu lassen, bleibt er angekleidet und nimmt die Rolle des
männlichen Voyeurs ein. Indem er dem sexuellen Verlangen widersteht, tut er nichts,
ebenso wie seine Frau in den besagten Augenblicken nichts getan hatte. Ebenso wie
Albertine alles hingegeben hätte, ist aber auch Fridolin bereit, alles auf's Spiel zu
setzen: "Es kann nicht mehr auf dem Spiel stehen als mein Leben", sagt er, als
er vor der Gefährlichkeit der Situation gewarnt wird zu der verführerischen Unbekannten,
"und das bist du mir in diesem Augenblick wert." [53] Daß sowohl Albertine als
auch Fridolin ihr sexuelles Verlangen nicht ausleben, hängt angesichts dieser unbedingten
Bereitschaft, alles auf's Spiel zu setzen, jeweils mit den äußeren Umständen zusammen. Geträumte Vergehen Während Fridolin sich auf dem geheimnisumwobenen
Maskenball umsieht, liegt Albertine im Schlaf. Schnitzler inszeniert parallel zueinander
vergleichbare Erlebnisse, nur daß der eine sie in der Wirklichkeit erlebt und die andere
sie träumt. Als Fridolin heimkehrt, weckt er seine Frau, die im Traum lacht und weint als
wären die Trauminhalte real. Auf sein Drängen erzählt sie ihm ihren Traum. Sie
träumte, daß sie in der Nacht vor der Hochzeit statt ihres Brautkleides opernhaft
wirkende Kleider und orientalische Kostüme in ihrem Schrank fand. Parallel dazu hatte
sich Fridolin beim Kostümverleiher sein Kostüm für den Maskenball ausgewählt. Während
Fridolin in ihrem Traum von Galeerensklaven angerudert wird, fuhr ihn in seiner
Wirklichkeit ein Taxifahrer zu der geschlossenen Gesellschaft. Während sie von ihrer
Hochzeitsreise träumt, versucht er, das erste Mal in ihrer Ehe, sie zu betrügen. Das
Entsetzliche besteht für beide in der Entblößung vor anderen. Während im Traum ihre
Kleider plötzlich verschwunden sind, wird Fridolin auf der Gesellschaft als Außenseiter
entlarvt und soll seine Maske ablegen, was ihm vor all den Maskenträgern schlimmer
erscheint, als sich ohne Kleider zu zeigen. "Tausendmal schlimmer wäre es ihm
erschienen, der einzige mit unverlarvtem Gesicht unter lauter Masken dazustehen, als
plötzlich unter Angekleideten nackt." [56] Parallel dazu erfaßt Albertine dermaßen
im Traum entkleidet "Entsetzen ohnegleichen" und "brennende Scham bis zu
innerer Vernichtung". [68] Beide fühlen sich aber ohne den anderen zugleich befreit.
So heißt es bei Albertine: "Und als du verschwunden warst, wurde mir ganz leicht
zumut." [68] Und beide fühlen sich auch schöner und attraktiver als im
"wirklichen" Leben ihrer Ehe. So dachte Fridolin, als sich eine unbekannte Frau
auf dem Maskenball für ihn opferte: "Vielleicht gibt es Stunden, Nächte […] in
denen solch ein seltsamer, unwiderstehlicher Zauber von Männern ausgeht, denen unter
gewöhnlichen Umständen keine sonderliche Macht über das andere Geschlecht
innewohnt." [60f] Die Gelöstheit erotischer Anziehung, die beide erleben, hat
allerdings in beiden Fällen einen Preis. Im Traum wird der Mann geopfert, auf dem
Maskenball hingegen opfert sich eine Unbekannte für Fridolin. Wie sich später
herausstellt, war es eine Prostituierte, der er als Arzt einmal das Leben gerettet hatte.
Beide sehen und erleben die Nacktheit anderer mit. Während Fridolin fasziniert den
schönen nackten Frauenleibern beim Tanz mit den in Mönchskutten verkleideten Männern
zusieht, erscheint Albertine ihr Mann im Traum nackt und gefesselt ebenso wie eine
"unendliche Flut von Nacktheit, die [sie] umschäumte und von der [sie] und der Mann,
der [sie] umschlungen hielt, gleichsam nur eine Welle" war. [70] Diese kollektive,
orgiastische Nacktheit erlebte Fridolin als Zuschauer, ohne jedoch den entscheidenden
Schritt aus seiner reinen Beobachterrolle hinauszugehen. Während die eigene Frau im Traum
keinerlei Mitgefühl für ihren Mann hat, der ans Kreuz geschlagen werden soll, und in
diesem dramatischen Augenblick nichts für ihn tut, opfert sich für
Fridolin sogar eine ihm Unbekannte. Beide haben einander in Gedanken betrogen,
Albertine im Traum, Fridolin in einem unrealisierten Vorhaben erst bei einer
Prostituierten und anschließend auf der geschlossenen Gesellschaft, in die er sich
willentlich eingeschlichen hat. Nachdem Albertine dem von seinen nächtlichen Abenteuern
Heimgekehrten ihren Traum erzählt hat, stellt sich die Frage, nach dem Stellenwert des
jeweils in Wirklichkeit nicht Getanen, nämlich des begehrten bzw. geträumten
Vergehens in Form des sexuellen Hintergehen des anderen. Fridolins "reale"
Erlebnisse haben für ihn die Qualität eines Traumes, und er setzt seine Erlebnisse den
Traumerlebnissen seiner Frau gleich: "Je weiter sie in ihrer Erzählung
fortgeschritten war, um so lächerlicher und nichtiger erschienen ihm seine eigenen
Erlebnisse, so weit sie bisher gediehen waren, und er schwor sich zu, sie alle zu Ende zu
erleben, sie ihr dann getreulich zu berichten und so Vergeltung zu üben an dieser Frau,
die sich in ihrem Traum enthüllt hatte als die, die sie war, treulos, grausam und
verräterisch, und die er in diesem Augenblick tiefer zu hassen glaubte, als er sie jemals
geliebt hatte." [72f] Der Traum erhält in der Beschreibung eine
Erlebnisqualität, die qualitativ von Fridolin nicht mehr von den Erlebnissen im Wachsein
unterschieden werden kann. Sein Verrat im Geiste stellt für ihn noch keine adäquate
Rache dar, da seine Frau im Traum weitergegangen ist, als er jemals in der Wirklichkeit.
Somit werden zwei Ebenen gegeneinander gehalten. Die Ebene der vita activa, d.h.
mit anderen Worten die Ebene des Handelns und die Ebene des Traumes. In der vita activa
waren beide zum Betrug bereit, wurden aber durch die Umstände daran gehindert. Während
Albertine hingegen im Traum ihre sexuellen Wünsche zum Teil auslebt, versucht Fridolin in
der Realität, sich an den Wünschen seiner Frau zu rächen, indem er einerseits einer
Prostituierten folgt und sich andererseits in die geschlossene Gesellschaft einschleicht.
Doch wird er wiederum in beiden Situationen daran gehindert, so weit zu gehen wie seine
Frau im Traum. Die kompensatorische Dimension des Traumes bleibt Fridolin verschlossen. Da
er gegen ihren Traum nichts tun kann, flüchtet er ins Nichtstun, nämlich
"in Schlaf und Vergessen". [73] Ausgelöst wird der eheliche Konflikt allein durch
Worte, Worte, die geheime Wünsche offenlegen, derer Umsetzung es nicht bedarf, um eine
narzißtische Kränkung zu provozieren, die wiederum zu Vergeltungs- und Rachegedanken
führt. Der Gewalt des Wortes werden sich beide allerdings erst am Ende der Traumnovelle
bewußt. Bricht Fridolin zunächst auf, um sich an den
eingestandenen sexuellen Phantasien seiner Frau zu rächen, beherrschen ihn weitere
Rachegedanken, nachdem sie ihm ihren Traum erzählt hat: "[…] eine Art von Doppelleben führen,
zugleich der tüchtige, verläßliche, zukunftsreiche Arzt, der brave Gatte und
Familienvater sein – und zugleich ein Wüstling, ein Verführer, ein Zyniker, der mit
den Menschen, mit Männer und Frauen spielte, wie ihm just die Laune ankam – das
erschien ihm in diesem Augenblick als etwas ganz Köstliches; – und das Köstlichste
dran war, daß er später einmal, wenn Albertine sich schon längst in der Sicherheit
eines ruhigen Ehe- und Familienliebens geborgen wähnte, ihr kühl lächelnd alle seine
Sünden eingestehen wollte, um so Vergeltung zu üben für das, was sie ihm in einem
Traume Bitteres und Schmachvolles angetan hatte." [84] Doch Fridolin tut nichts von alledem.
Stattdessen nimmt er sich vor, seiner Frau die Geschichte seiner nächtlichen Erlebnisse
so zu erzählen, als wären sie ebenfalls nur ein Traum gewesen. "[…] und dann,
erst wenn sie die ganze Nichtigkeit seiner Abenteuer gefühlt und erkannt hatte, wollte er
ihr gestehen, daß sie Wirklichkeit gewesen waren." [101] Erst nachdem Fridolin seiner Frau seine
nächtlichen Erlebnisse gebeichtet hat, erwachen beide wie aus einem Alptraum. Auf die
ratlose Frage Fridolins "Was sollen wir tun?" erwidert Albertine nur: "Dem
Schicksal dankbar sein, […] daß wir aus allen Abenteuern heil davongekommen sind
– aus den wirklichen und aus den geträumten." [103] Nichtstun als Folge des Über-Ich Es geht in Schnitzlers Traumnovelle also nicht um
das Nichtstun im Sinne von Faulenzen, sondern im Sinne des Unterlassens, also
darum, etwas Erwartetes, Erhofftes, Ersehntes gerade nicht zu tun. Das nicht
Getane, Fridolins unterlassene Verführung bei der ersten Begegnung einerseits und
Albertines unterlassenes Verhältnis mit dem Unbekannten andererseits, läßt sich als
Handlung des Über-Ich interpretieren, das ihre Triebregungen kontrolliert. Diese
Kontrollinstanz wird allerdings zugleich durch Träume und Leidenschaften wie Eifersucht
in ihre Grenzen gewiesen. Albertine wird von ihren nicht ausgelebten sexuellen Wünschen
in den (Alp-)Traum verfolgt, während Fridolin erst aus dem gelebten Alptraum erwacht, als
er mit dem Tod der Prostituierten, die sich für ihn geopfert hatte, konfrontiert wird.
Damit werden die Träume als Nachtseite des Tuns zur Warnung des Unterbewußten ans
Bewußtsein, in dem Moment als sie ausgesprochen zu Bewußtsein kommen. Das Wort wird
dabei zum Vermittler zwischen Tag-, Nacht- und Alptraum. Sie tun nichts, sie reden
nur. Daß allerdings ein Wortwechsel nicht als Nichtstun bezeichnet werden kann,
zeigt allein, daß Albertines Geständnis Fridolin dazu bewegt, etwas zu tun, was
er davor nicht einmal im Traum getan hätte, nämlich Prostituierte aufzusuchen. Träume als Folge des Nichttuns Es stellt sich die Frage, ob Träumen als Nichtstun
bezeichnet werden kann. Schnitzler legt Fridolin die abschließenden Worte in den Mund
"Und kein Traum […] ist völlig Traum." [103] Es sind Albertines Träume,
die sie letztendlich dazu bewegen, nicht zu tun, wonach sie sich ursprünglich
gesehnt hat, da sie beim Erwachen über die ihr zu Bewußtsein kommende Grausamkeit ihrer
Traumphantasien zutiefst erschreckt. Angesichts der Heftigkeit ihrer erotischen Träume
zeigt sich die Unmöglichkeit, selbst im Traum einfach nichts zu tun. Allerdings
soll es auch traumlose Phasen geben und an diese mag Schnitzler gedacht haben, als er die
Protagonisten nach all den überstandenen Abenteuern "einander traumlos nah"
sein läßt. [103] Träume sind somit in der Novelle ein Ansturm gegen das nicht Getane.
Albertine und Fridolin haben sich zwar nichts getan, in dem Sinn, daß sie einander
physisch nicht betrogen haben, doch können sie sich erst wieder traumlos nah sein,
nachdem sie einander in Gedanken, Phantasien und Träumen hintergangen haben. Während
dieses Nichttun in Schnitzlers Traumnovelle weitgehend auf äußere Umständen
zurückzuführen ist, wird das Nichtstun selbst in Träumen als Schimäre entlarvt. Die Traumnovelle zeigt, wie trügerisch das Nichtstun
sein kann, sobald man unter die Oberfläche dringt. Unter der Oberfläche der
gesellschaftlichen Konventionen lauern nicht nur Albertines erotische Gefühle,
Sehnsüchte und Träume, sondern die einer ganzen Gesellschaft wie bei der geschlossenen
Gesellschaft deutlich wird. Daß Albertine nichts getan hat, hängt wesentlich mit
der Rolle der bürgerlichen Frau im ausgehenden 19. Jahrhundert und den entsprechenden
internalisierten Moralvorstellungen zusammen. Während die erotischen Eskapaden von Frauen
als Hurerei diskreditiert wurden, galt das gleich Tun bei Männern als Kavaliersdelikt.
Doch wird in der Konstellation von Schnitzlers Traumnovelle das Liebesglück im Ehebett
zum Ehebruch, denkt Albertine dabei doch an einen anderen. In diesem gedanklichen Ehebruch
kristallisiert sich die Dialektik von Tun und Nichttun in der Traumnovelle. Das Nichtstun
gerinnt zum Moment des einander traumlos nah Sein am Schluß der Novelle und gerade dieses
ephemere Nichtstun verweist auf die Labilität der Versöhnung angesichts der
Dynamik psychischer Kräfte. Das ephemere Nichtstuns Die Träume Albertines können nicht als Nichtstun
bezeichnet werden, im Gegenteil, sie folgen einem Stationenweg, der dem ihres Mannes in
nichts nachsteht. So wie das nicht Getane, nämlich die Realisierung sexueller
Wünsche nicht folgenlos geblieben ist, da gerade die Unterlassung zu den
kompensatorischen Träumen geführt hat, bleiben wiederum auch die Träume nicht
folgenlos, da sie Bewußtseinsprozesse auslösen, die die Beziehung des Ehepaares
letztendlich verändern. Somit sind Nichttun im Sinne des Unterlassens und Nichtstun
in Form von Traumaktivitäten dialektisch aufeinander bezogen und demonstrieren die
Unmöglichkeit, selbst im Schlaf einfach nichts zu tun. Das Handeln wird aber
wiederum geschlechtsspezifisch konnotiert. So erwartet Albertine, daß ihr Mann ihre
sexuellen Wünsche erkennt und den ersten Schritt unternimmt, um sie damit aus ihrem
rollenspezifischen Nichttun innerhalb der geltenden moralischen Normen der
Gesellschaft zu erlösen. Bei ihrem Geständnis deckt Albertine "eine Seite ihres
Wesens auf, die nach Erfüllung verlangt, aber unbefriedigt geblieben ist (3)". Daß
Fridolin die geheimsten Wünsche seiner Gattin nicht erkannt hat, kennzeichnet ihn als
Antipoden des männlichen Eroberers, dessen Verhalten mit den moralisch-sittlichen
Forderungen seiner Zeit korrespondiert. Diesem Charakter entspricht auch seine
Beobachterrolle auf dem Maskenball. Die Suche nach erotischen Abenteuern wird erst durch
die Geständnisse seiner Gattin ausgelöst, die ihn in seiner männlichen Ehre gekränkt
und als Gatten brüskiert hat. Nichttun zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit In der Traumnovelle wird die Triebstruktur des
Unterbewußtseins zum Motor des Handelns, während die internalisierten gesellschaftlichen
Rollen- und Moralvorstellungen für das Nichttun im Sinne der Triebunterdrückung
verantwortlich gemacht werden. Indem die Träume aber gegen das nicht Getane Sturm
laufen, wird die Unmöglichkeit des Nichtstuns vorgeführt. Die Traumnovelle
handelt somit von dem Abenteuer unrealisierter Möglichkeiten, die dem Wirklichen als
Schattenseite untrennbar verbunden sind. Somit wird der schmale Grat des Wirklichen vor
den grenzenlosen Hintergrund des Möglichen gerückt. Diese erotisch gedeuteten
Möglichkeiten resümiert Schnitzler in seiner Briefnovelle "Der letzte Brief eines
Literaten" folgendermaßen: "Denn auch in den innigsten Verbindungen, bei
vollkommener gegenseitiger Treue, waltet in den Tiefen unseres Wesens der Drang von Frau
zu Mann und Mann zu Frau unbeirrt nach ewigen Gesetzen weiter; ist auch nach weiteren
Liebesmöglichkeiten keine Sehnsucht vorhanden, ja graut es die innig Verbundene selbst
vor dem Spiel mit solchen Möglichkeiten – das Wissen um sie, als von der Natur
selbst gewollt, ist nicht fortzudeuten und fortzudenken." (4) Erst die Rückkehr aus den Abenteuern des
Möglichen in die Wirklichkeit der Ehe läßt das nicht Getane – also die
ausstehende Verwirklichung der nur beobachteten bzw. geträumten sexuellen Abenteuer
– in neuem Licht erscheinen. Der Blick in die Abgründe der Seelen, ihrer Schicksale
und Möglichkeiten, ist zwar mit Entsetzen verbunden, doch wird zugleich gezeigt, daß
erst dieser Blick, "der das unheimlich Unverfügbare ins Bewußtsein hebt"
unverstelltes Erkennen verbürgt (5). Somit scheint im Nichttun im Sinne einer
bewußten Unterlassung zugleich eine Erkenntnismöglichkeit auf, da Handlungsimpuls und
Unterdrückungsmechanismen an der Grenzlinie von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn
ineinander verschlungen sind. Dabei wird der Traum aber nicht allein als Kompensation
nicht gelebter Möglichkeiten dargestellt, sondern auch als Erscheinungsform
eigengesetzlicher und objektiver Wirklichkeitsbereiche, in denen sich Wirklichkeits- und
Möglichkeitssinn gegenseitig bedingen. Tun und Nichttun In der Traumnovelle werden Freuds Trias von Ich,
Es und Über-Ich in ihrer Verflechtung vorgeführt (6). Dabei wird deutlich, daß das Nichttun
gerade nicht mit bloßer Passivität gleichgesetzt werden kann, sondern hochgradig vom
Über-Ich gesteuert wird. Die Verdrängung der Sexualität wird ebenso wie die obsessive
Wiederkehr durch die gesellschaftlichen Normen und Unterdrückungsmechanismen gesteuert.
Somit vereitelt der "Elan vital" das Nichtstun. Indem der Traum als
Realität des Unterbewußten dargestellt wird, ist eben kein Traum "völlig
Traum" [103], wie es abschließend heißt. Für die Wahrheit des Unterbewußten sind
damit Tun und Nichttun qualitativ gleichwertig. Diese im Zeitalter des
Konstruktivismus und der Virtualität beinahe banal anmutende Feststellung hatte zu
Schnitzlers Lebzeiten allerdings eine enorme Sprengkraft, insofern er die postulierte,
vermeintlich natürliche Geschlechterdifferenz durch das Aufdecken der erotischen Träume
radikal negierte und somit Träume als Ansturm gegen das nicht Getane inszenierte.
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