Es begann mit dem Gore-Schock (1): Am 15.
September 1993 deklarierte der amerikanische Vize-Präsident Al Gore in der National
Information Infrastructure (NII) Agenda for Action das Internet zu einer
Grundlagenstruktur für prinzipiell alles. Zeitgleich wuchs der Internet-Service
Gopher mit einer 997%igen jährlichen Wachstumsrate, und als die rasante Verbreitung des
ersten Webbrowsers Mosaic begann, wuchs der Traffic des WWW mit einer 341,634%igen
Wachstumsrate (2). Das Internet wird mit seiner graphischen Oberfläche World Wide Web
(WWW) ab 1995/1996 zu einem Masseninformationsmittel für ein Massenpublikum, das mehr und
mehr die 'ursprünglichen' Bewohner ("Netizens"; v.a. akademische User
sowie Hacker und andere frühe Communities, u.a. The Well) des frühen Internet aus der
öffentlichen Wahrnehmung verdrängte. Hegten die Netizens noch technoutopische Hoffnungen
auf eine kollektive Intelligenz (3) des Netzes, so stellte sich mit der
massenhaften Nutzung des WWW, und, damit einhergehend, mit der zunehmenden
Kommerzialisierung des WWW ab 1996 (Stichwort e-commerce) eine zunehmend passive Haltung
der Masse der Internetnutzer ein. Heute werden nicht mehr dem – von der Mehrheit der
heutigen User nie benutzten – grafiklosen Internet, sondern vor allem dem WWW
Eigenschaften zugeschrieben, die an Wunder grenzen: das WWW garantiert Demokratie, das WWW
garantiert Interaktion, das WWW garantiert eine neue Ökonomie, und es gibt Antworten auf
prinzipiell alles. Nicht genug des positiven Hype, der hochfliegenden Erwartungen –
manche meinten sogar, daß das Internet Revolutionen ermögliche (4). Enttäuscht werden diese Erwartungen von
einem Netzprojekt, das, ganz im Sinne dieser auf die Technologie fokussierten
technoutopischen Hoffnungen, 'Antworten' verspricht. www.antworten.de
(1997) von Holger Friese und Max Kossatz begrüßt einen User z.B. mit der Nachricht
"We are now serving 94. Sie haben Nummer: 99, bitte warten!!!". Dazu setzt eine
Endlosschleife mit Wartemusik ein, ähnlich eines firmeneigenen Telefonmusikwarteloops.
Nach 100 Sekunden erscheint die Frage "Möchten Sie etwas schreiben oder etwas lesen
während Sie warten?" Natürlich möchte man während des Wartens aktiv sein. Klickt
man auf 'lesen', werden detaillierte Zugriffsstatistiken für www.antworten.de
für die letzten zwölf Monate oder alternativ seit dem 31.5.1997 aufgerufen. Diese in
ihrer peniblen Ausführlichkeit sinnlosen Statistiken erscheinen in Form farbiger Balken-
und Tortendiagramme; die Tabellen weisen "Hits", "Files",
"Sites", "KBytes sent" für die jeweiligen Monate aus. Über Links
kann man auch die "Full statistics" für die Jahre 1999, 1998 und 1997 einsehen.
Die Option 'schreiben' öffnet ein Fenster, das zum Verfassen einer e-mail an
<fragen@antworten.de>, also den Webmaster des Projekts, einlädt. Man erhält jedoch
keine Antwort, kein "Reply". Nach drei Minuten wird die nächsthöhere
Wartenummer aufgerufen. Man kann nun die Zeit überschlagen, zu der man drankommt, und
sich anderen Tätigkeiten zuwenden, z.B. zu anderen Webseiten surfen. Kommt man jedoch
nach ca. 20 Minuten zurück, wird man grundsätzlich immer mit der Antwort "Sie sind
leider zu spät, Ihre alte Nummer war 99, Ihre neue Nummer ist 106" abgespeist. Beim
Zugriff auf antworten.de wird mittels eines Perl-CGI-Skripts (5) die aktuelle Nummer
ausgelesen und die entsprechende Grafik für die Ziffern angezeigt, die Nummernzuweisung
(aktuelle Nummer + 7) erfolgt durch ein Cookie (6), das auf dem Rechner des Users abgelegt
wird. Das vielversprechende Angebot entpuppt sich als Maschinenskript – das Hoffen
auf Antworten ist vergeblich. Und ständig dudelt die Musik. Ähnlich wie in Franz Kafkas Parabel Vor
dem Gesetz ist es auch hier nicht möglich, Zugang zu den versprochenen Antworten zu
bekommen. In Kafkas Parabel versperrt nicht nur der eine Türhüter den Eintritt
ins Gesetz, sondern er ist "nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber
Türhüter, einer mächtiger als der andere (7)". Eine gewaltige Beamtenhierarchie
baut sich vor dem inneren Auge auf, die es potentiell unmöglich macht, an die
versprochnenen Antworten zu gelangen. Immer wieder kommt jedoch auch die Frage
nach den Fragen auf, auf die hier Antworten gegeben werden sollen. Was für Antworten darf
man erwarten? Werden sie zu meinen Fragen passen? Wer gibt überhaupt die Antworten? Kennt
er oder sie meine Fragen? Was passiert, wenn meine Frage falsch ist (8)? Alles scheint so,
als ob man eine Wahl hätte, wo es tatsächlich keine gibt. Hier ergibt sich ein
Zusammenhang mit der von Slavoj Zizek konstatierten Veränderung der paradoxalen Stellung
des Herrn in der heutigen westlichen Gesellschaft: "Die Medien bombardieren [das
Subjekt] konstant mit Wahlaufforderungen, addressieren es als das Subjekt, das dazu
bestimmt ist zu wissen, was es wirklich will (welches Buch, welche Kleidung, welches
TV-Programm, welchen Urlaubsort) [...]. Auf tieferer Ebene jedoch entziehen die neuen
Medien dem Subjekt das Wissen, was es will: sie sprechen ein durch und durch formbares
Subjekt an, dem ständig erzählt werden muss, was es will, das heißt genau die Evokation
einer Wahl, die performativ getroffen werden muß, erzeugt die Notwendigkeit eines
Objektes der Wahl. Man sollte hier daran erinnern, dass es die Hauptfunktion des Herrn
ist, dem Subjekt zu sagen, was es will – die Notwendigkeit eines Herrn entsteht als
Antwort auf die Konfusion des Subjekts, insofern es nicht weiß, was es will. Was
passiert dann aber in der Situation des Niedergangs des Herrn, wenn das Subjekt selbst
beständig mit der Aufforderung bombardiert wird, ein Zeichen davon zu geben, was es will?
Das genaue Gegenteil von dem, was man erwarten würde: wenn es niemanden gibt, der dir
sagt, was du wirklich willst, [...] dominiert dich der andere komplett, und die
Wahlmöglichkeit verschwindet einfach, das heißt, sie wird durch ihren bloßen Anschein
ersetzt (9)". Folgt man Zizek, so hieße dies: Wenn keine erzwungene Wahl das Feld
der freien Wahl eindämmt, verschwindet also genau die Freiheit der Wahl. Für www.antworten.de
würde Slavoj Zizeks Argumentation bedeuten: Die Antworten sind längst festgelegt, und es
kommt auf uns an, die richtigen Fragen zu stellen. Die Medien produzieren den Anschein der
Wahlfreiheit, legen aber nicht "die Antworten" fest, sondern willkürliche
konkrete Antworten, die den Anschein von treffenden Antworten haben sollen und uns
zugleich das Ende der Herrschaft der Herren/Gottes garantieren sollen. Ein
Antworten-Ersatz, bei dessen Auswahl man sich frei genug in der Wahl wähnt. Nur, dass es
soweit nie kommt, denn der kritische Moment ist in einem unendlichen Wartemodus
suspendiert. Für www.antworten.de hieße es
– entgegen dem kulturpessimistischen Unterton bei Zizek – aber auch: Es zeigt
die Behauptung, daß es richtige Antworten und passende Fragen gibt, um in der
Nicht-Erfüllung die Fraglichkeit des Ganzen erfahrbar werden zu lassen: auf welche Fragen
welche Antworten? Diese unendliche und unangenehm riskante Offenheit, der wir unterworfen
sind und die doch unsere Freiheit allererst begründet (besonders seit wir nicht mehr auf
Gott oder Herren hören wollen, können, dürfen), wird durch das Web noch
offensichtlicher aufgrund der Unmenge der konkreten Antwortsbehauptungen, die zur Wahl
stehen. Am Ende sind es immer die einzelnen, wir, die nach den Grenzen und Bedingungen
fragen müssen, nach denen wir zu fragen und auf die wir zu antworten versuchen. Es geht
darum, die eigenen richtigen Fragen und Antworten zu erfinden. Das ist gleichzeitig
begehrliches Ziel wie absolute Unmöglichkeit. Ein anderes Projekt von Holger Friese, unendlich,
fast... (10) (documenta X, Kassel 1997), stellt sich quer zu allen Konventionen des
WWW. Es besteht nur aus einer einzigen tiefblauen Webseite, wobei diese aber nicht auf das
Format einer DIN-A-4-Seite begrenzt ist, sondern nach links und rechts, oben und unten aus
dem Monitor herauswuchert. Man benutzt nun nicht mehr den Cursor, um auf der Seite
herumzufahren, sondern muss den Monitor über die fast unendliche Seite bewegen, um nach
den angeblich auf der Seite versteckten Links zu suchen. Mit genug Zeit, Muße und ein
wenig Glück finden sich dann einige kleine ASCII-Zeichen im unendlichen Blau. Sie stellen
jedoch entgegen der Erwartung des Users keine Links, also Verbindungen zu anderen
Dokumenten im Netz dar, sondern nur sich selbst. Signifikant bleibt Signifikant. Es bleibt
nur die "Back"-Taste. Die Strategie der Enttäuschung findet sich
also auch in dieser Arbeit. Überhaupt ist diese Strategie, zusammen mit den Strategien
der Unterwanderung, der Irritation, der Umfunktionierung und Entwendung typisch für
Netzkunst an sich. Netzkunstarbeiten widmen sich der Ästhetik des Fehlers, der medialen
Störung, des technischen Versagens und der Disfunktion. Gegen die glatten Oberflächen,
den Hype, wird der rohe Quellcode und die mediale Störung gesetzt, gegen die in den
glatten Oberflächen mitschwingenden technoutopischen Hoffnungen fährt man eine Strategie
der Enttäuschung. Die Ebenen von Raum und Zeit sind für
beide Arbeiten konstitutiv: Während unendlich, fast..., so Christoph Blase,
"durch den Raum [scrollte] wie auf einer riesigen Platte, die aus den Seiten der
Monitorscheibe hinauswuchs", ist dagegen www.antworten.de "ein durch die
Musik erzeugter Warteraum, von dem aus man nie in den nächsten Raum gelangt."
Während antworten.de Zeit vergeudet, am Monitor und in den Leitungen, braucht unendlich,
fast... viel Zeit, "das Suchen dauert, erst recht, wenn man weiß, daß es
tatsächlich irgendwo etwas zu finden gibt (11)". www.antworten.de und unendlich,
fast ... untersuchen die strukturelle Gestaltung des allseits gerühmten
Informationsmehrwertes in den weiten Räumen und Zeiten des Internets. "Die
Informationen -", so Blase, "egal ob es eine große, eine kleine, oder keine,
die doch eine ist - werden nicht nachgeschmissen, sondern als etwas Wertvolles
aufbereitet, das nur erhält, wer auch das Bewußtsein dafür besitzt" (12). Und, so
muß man hinzufügen, wer genügend Zeit hat. In Kafkas Vor dem Gesetz wartet der
Mann vom Lande vor dem Tor zum Gesetz bis er alt und schwach ist. Als der Türhüter
erkennt, daß der Mann bald sterben wird, brüllt er ihm ins Ohr: "Hier konnte
niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe
jetzt und schließe ihn" (13).
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