Dieses Zitat von Roland Barthes aus
Die Lust am Text enthält so etwas wie das Programm des Schreibens und Lesens von
Hypertexten. Da ist zunächst das Bild des Netzes, genauer, des "Web", das als
ständig im Entstehen begriffenes Gewebe gefaßt wird. Auch der Hypertext ist, zumindest
der Theorie nach, "ständig im Entstehen begriffen", ein Netz von
Verknüpfungen. Die Spinne, die sich in ihrem eigenen Saft auflöst und sich dergestalt
als entsubjektivierte Netzerzeugerin zum Verschwinden bringt impliziert die These vom Tod
des Autors - Stichwort: "wen kümmert's wer spinnt?" Der Tod des Autors, so schreibt Barthes in
seinem kurzen gleichnamigen Essay aus dem Jahr 1968, ist Voraussetzung für die Geburt des
Lesers: "(...) the birth of the reader must be at the cost of the death of the
author" (Barthes 1977: 172). Der Grund dafür, daß der Leser die Funktion des Autors
übernimmt liegt darin, daß "die Einheit eines Textes nicht durch ihren Ursprung,
sondern in ihrem Ziel begründet ist ("a text's unitiy lies not in its origin but in
its destination" (Barthes 1977: 171)). Das bedeutet: Die "kohärenzstiftende
Funktion des Autors", wie sie ein Jahr später auch Foucault in "Was ist ein
Autor?" beschreibt, verliert in dem Maße an Relevanz, in dem der Leser zur
einheitsstiftenden Instanz wird. Ich möchte im folgenden einige Konsequenzen der
Gleichsetzung von Leser und Autor beleuchten und der Frage nachgehen, welche Haltungen der
Leser von Hypertexten einnehmen kann. "In cyberspace", schreibt Benjamin Whooley "everyone is an author,
which means no one is an author: the distinction from the reader disappears" (Whooley
1992: 165). Am Ende der Gutenberggalaxis, so scheint es, "löst sich die Frage Was
ist ein Autor? im Dokuverse auf" (Bolz 1993). Es entstehen, wie Bolz schreibt,
"unautorisierte, nämlich autorenlose Texte, die sich gleichsam im Lesen
schreiben". Anders als bei Barthes löst sich bei Bolz nicht mehr nur der Autor,
sondern sogar die Frage nach dem Autor auf. Die Tatsache, daß wir "gleichsam im Lesen schreiben" bedeutet jedoch
noch nicht, daß der Leser Autor ist. Die Stelle des Autors wird nach Barthes nämlich
nicht nur vom Leser hbernommen, sondern auch vom Schreiber. Der "Scriptor" wird
von Barthes auf zweierlei Art charaterisiert: einmal als Totengräber des Autors, zum
anderen als Schreiber, der zugleich mit dem Text, also im Akt des Schreibens, geboren
wird: "the modern scriptor is born simultaneously with the text" (Barthes 1977:
170). Auch bei Foucault wird zwischen der Funktion des Autors und der des Schreibers
unterschieden: "Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen Autor;
ein Vertrag kann wohl einen Bhrgen haben, aber keinen Autor. Ein anonymer Text, den man an
einer Hauswand liest, wird einen Verfasser haben, aber keinen Autor" (Foucault 1993:
17). So besehen sind die sogenannten Autoren von e-mails bloße "Schreiber".
Gilt dies womöglich auch fhr die Mitschreiber an kollaborativen Texten? Doch nicht nur die Frage nach dem Autor wirft Probleme auf, sondern auch die Frage
nach dem Leser. Wenn man die These vom "Leser als Autor" ernst nimmt, dann muß
man fragen, ob sich der Leser, der die Funktion des Webens, Spinnens und Verknüpfens
hbernimmt, nicht ebenfalls auflöst. Tatsächlich geht Barthes davon aus, daß die Einheit
des Textes durch eine überpersönliche Leserfunktion gestiftet wird: "the reader is
without history, biography, psychology; he is simply someone who holds together in a
single field all the traces by which the written text is constituted" (Barthes 1977:
171). Was wird aber dann aus der vielbeschworenen Kreativität des "Wreaders",
des mit-schreibenden Lesers? Hieran schließen sich zwei weitere Fragen an, nämlich 1. Wie läßt sich die überprersönliche
Funktion des Lesers als Autors begreifen?
2. Inwiefern ist die einheitsstiftende Funktion des Autors, die auf den Leser
übergeht für Literatur im Internet hberhaupt noch relevant?
Leser und Autor im Hypertext Insofern Hypertext und Literatur im Internet durch den Verlust des
einheitsstiftenden Buch- und Werkcharakters ausgezeichnet sind, bedeutet dies, daß der
Leser die einheitsstiftende Funktion des Autors nicht einfach übernimmt, sondern auf
eigentümliche Weise transformiert. Aber wie? Nach Eco ist der moderne Text kein fertiges Produkt, sondern ein Prozeß,
"dessen Interpretation Bestandteil des eigentlichen Mechanismus seiner Erzeugung sein
muß" (Eco 1987a: 66). Die Mitarbeit des Lesers wird durch die
"Textmaschine" eingeplant. In diesem Sinne braucht jeder Text einen Interpreten,
der ihm dazu verhilft, zu funktionieren. Der Text ist, mit Iser zu sprechen, ein
"Appell" an den Leser, aktiv zu werden, nämlich die eingebauten Leerstellen zu
ergänzen und Anschlußmöglichkeiten an andere Texte zu suchen. Dergestalt eröffnet die
Leerstellenstruktur, wie es bei Iser heißt, ein "Geflecht möglicher
Verbindungen". Mit anderen Worten: Der Text ist kein fertiges Gewebe, sondern eine
Webmaschine, die es nicht kümmert, wer webt. Jeder Leser bringt sozusagen sein eigenes
Garn - und wenn er hat, einen roten Faden - mit. Während die Leerstellen herkömmlicher
Buchtexte diskrete, unmarkierte Elemente sind, "deren Reiz darin besteht, daß (...)
der Leser die unausformulierten Anschlüsse selbst herzustellen beginnt" (Iser 1984:
297), stellen die Links des Hypertextes markierte Anschlüsse dar, bei denen man nur die
Wahl hat, ob man ihnen folgt oder nicht. Die poetische Struktur von Links gleicht, darauf hat Jay Bolter (vgl. Bolter 1997:
44f.) hingewiesen, jener Form von diskursiver Abschweifung, wie sie in Sternes
"Tristram Shandy" proklamiert wird: "(...) die Maschinerie meines
Werkes", schreibt Shandy, ist "eine Spezies für sich; es werden zwei
entgegengesetzte Bewegungen darin eingeführt und wieder vereinigt, die man für
unvereinbar hielt: In einem Wort, mein Werk ist digressiv und progressiv - und das zur
gleichen Zeit" (Sterne 1985: 83). Hypertexte sind eine Form "radikalisierten Shandyismus". Die digressive Abschweifung ist nicht nur eine
Strategie des Autors, sondern wird zur Grundhaltung des Lesers. Die "lesergesteuerte
Selektion" wird zum Programm, um sich vom "Zwang des Linearen", also von
der vorgeschriebenen Progression, zu befreien. Damit scheint das Lesen von Hypertexten
jener Lektürehaltung zu entsprechen, die Barthes als "anekdotische" bezeichnet,
um sie von der "akribischen" zu unterscheiden. Die anekdotische Lektüre "steuert direkt auf die Wendungen der Anekdote zu,
sie betrachtet die Ausdehnung des Textes" (Barthes 1986: 19). Die akribische Lekthre,
dagegen, "Läßt nichts aus; sie ist schwerfällig, sie klebt am Text" (Barthes
1986: 19). "Paradoxerweise", schreibt
Barthes, "gehört diese zweite, akribische Lektüre dem modernen Text, dem Grenztext.
Man lese einmal langsam, man lese alles von einem Roman von Zola, und das Buch wird einem
aus den Händen fallen; man lese dagegen schnell und nur diagonal einen modernen Text und
dieser Text wird undurchsichtig, der Lust unzugänglich" (Barthes 1986: 20). Zu fragen wäre aber dann: welche Haltung
soll der Leser von Hypertexten einnehmen? Während bei linear strukturierten Texten das
gberspringen und anekdotische Herauspicken von Episoden eine Form des Lesens ist, die die
Autorität des Linearen unterläuft, also eine "antiautoritäre",
"anarchische" Form des Lesens darstellt, wird das "springende Lesen"
von der Struktur des Hypertextes ja gerade eingefordert. Die Link-Struktur des Hypertextes
zwingt den Leser zu springen. Insofern lä8t der Hypertext, anders als der lineare, keine
Möglichkeit zu, eine Lektürehaltung einzunehmen, die seine Struktur unterläuft. Der
Sprung ist kein Kann, sondern ein Muß.
Als permanenter Mitarbeiter am Text pendelt der Hypertext-Leser zwischen seiner
Freiheit, sich selbständig zusammenzulesen, was er will, und seiner Funktion als
diskursiver Kohärenzstifter, die ihn für seine Lektüre verantwortlich macht. Diese
Rolle entspricht der des Herausgebers, der als erster Leser und zweiter Autor,
Geschriebenes sammelt, bearbeitet und herausgibt, wobei es ihm überlassen bleibt, ob er
als akribischer oder als leichtsinniger Herausgeber agiert. Hier ließe sich ein weiterer
Vorläufer hypertextueller Literatur anführen: E.T.A Hoffmanns Kater Murr, der auf
eigentümliche Weise Genettes These belegt, daß der Hypertext mit dem Zerreißen von
Büchern beginnt (Genette 1993: 17):
"Als der Kater Murr seine
Lebensansichten schrieb, zerriß er ohne Umstände ein gedrucktes Buch, das er bei seinem
Herrn vorfand, und verbrauchte die Blätter harmlos teils zur Unterlage, teils zum
Löschen. Diese Blätter blieben im Manuskript und - wurden, als zu demselben gehörig,
aus Versehen mit abgedruckt! De- und wehmütig muß nun der Herausgeber gestehen,
daß das verworrene Gemisch fremdartiger Stoffe durcheinander lediglich durch seinen
Leichtsinn veranlaßt, da er das Manuskript des Katers hätte genau durchgehen sollen, ehe
er es zum Druck beförderte" (Hoffmann 1969: 298).
Das Schreiben und das Lesen von Hypertexten
impliziert eine bestimmte Art der Textverarbeitung, des "word-processing". Die
Prozesse spielen sich als "editing" irgendwo zwischen Lesen und Schreiben ab.
Die Frage nach dem Autor hat sich, ebenso wie die Frage nach dem Leser, in die nach dem
Herausgeber verwandelt. Der Autor ist der Herausgeber bestimmter Textelemente, die durch
den aktiven Leser zur Einheit geführt werden. Der Leser seinerseits übernimmt insofern
eine auktoriale Funktion, als er der Herausgeber "seiner" Sammlung von
Lektüreerlebnissen ist, die im Extremfall nicht mehr sind als eine Sammlung von Bookmarks
oder die History einer Surf-Session. Abduktion als Logik des Lesens In diesem Zusammenhang muß zwischen der überpersönlichen Funktion des Lesens und
der individuellen Kompetenz zu lesen, unterschieden werden. Flusser nennt drei
verschiedene Formen des Lesens von Texten, die zugleich verschiedene Lesemodelle für
Hypertexte implizieren: "das vorsichtige Auseinanderfalten, das hastige überfliegen
und das mißtrauische Nachschnüffeln" (Flusser 1987: 88). Dieses ist die
"kritische Form des Lesens" im Gegensatz zum "wahllosen Lesen", das
sprunghaft und assoziativ verfährt. Das wahllose Lesen ist nach Flusser bloßes
"raten" (Flusser 1987: 79). Bei dieser Gegenüberstellung von kritischem und
ratendem Lesen lä8t Flusser allerdings außer acht, daß das mißtrauische
Nachschnüffeln als "detektivische Form des Lesens" immer schon das Raten mit
einschließt. Der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce, der Vater der modernen Semiotik
und des Pragmatismus behauptete in seinem Artikel "Guessing", daß in der
Evolution des Wissens das Raten die gleiche Rolle spiele "wie die Variation in der
Evolution biologischer Formen" (Peirce 1929: 268f). Allerdings, so Peirce, sei unsere
Fähigkeit erkenntniserweiternd zu raten kein bloßer Zufall, sondern
"instinktgeleitet". Den Prozeß instinktgeleiteten Ratens nennt Peirce an
anderer Stelle "Abduction". Die Abduktion ist der "Prozeß eine erklärende
Hypothese zu bilden" (Peirce: CP 5.171), genauer: eine Strategie zum effizienten
Raten, die jeder von uns im Alltag praktiziert, sobald er Mutmaßungen anstellt. Ecos
Meisterdetektiv William von Baskerville schildert diesen Prozeß seinem Schüler Adson
folgendermaßen:
"Angesichts einiger unerklärlicher
Tatsachen mußt du dir viele allgemeine Gesetze vorzustellen versuchen, ohne daß du ihren
Zusammenhang mit den Tatsachen, die dich beschäftigen, gleich zu erkennen vermagst. Auf
einmal, wenn sich unversehens ein Zusammenhang zwischen einem Ergebnis, einem Fall und
einem Gesetz abzeichnet, nimmt ein Gedankengang in dir Gestalt an, der dir überzeugender
als die anderen erscheint. Du versuchst, ihn auf alle ähnlichen Fälle anzuwenden,
Prognosen daraus abzuleiten, und erkennst schließlich, daß du richtig geraten hast"
(Eco 1980: 390f). Die Abduktion ist nicht nur die "Logik der Detektive", sie ist auch der
erste Schritt allen Forschens, weil sie die Prämissen für nachfolgenden Deduktionen und
Induktionen findet oder gar erfindet. Dadurch wird der abduktive Schluß zum Herzstück
der Peirceschen Wissenschaftstheorie, und erlebt momentan unter dem Namen "reasoning
to the best explanation" bzw. Expertensystem in KI-kreisen eine Renaissance. Bereits
vor Jahren wies Eco daraufhin, daß die Logik der Abduktion der Logik des Lesens und
Interpretierens zugrundeliegt (vgl. Eco 1987b: 45). Voraussetzung für das Gelingen von Abduktionen ist ein detektivischer Spürsinn
fürs Relevante, der, einer Kompaßnadel gleich, bei der Selektion von möglichen
Hypothesen in die richtige Richtung weist. Der abduktive Schluß integriert Assoziationen
in argumentative Begründungszusammenhänge. Das bloße Raten wird zur Inferenz und dient
nicht mehr nur dem "wahllosen Lesen", sondern der geistigen Navigation. Die
gleiche Fähigkeit zum intelligenten Raten muß der Leser von Internet-Literatur besitzen.
Er übernimmt die Rolle eines Detektivs, der die Spuren des Hypertextes liest, den Links
folgt und einen plausiblen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Textfragmenten
herstellt. Die "abduktive Kompetenz" des Lesers ist die Vorausssetzung für seine
selbständige, produktive Lektüre, denn sie ist eine Umkehrung der starren, deduktiven
Logik, die von allgmeinen Regeln einzelne Fälle ableitet. Sie unterscheidet sich aber
auch vom induktiven Formulieren von Regeln aus der Beobachtung einzelner Fälle, da sie
auf einer sehr viel schmaleren Basis von Daten und damit sehr viel schneller zu ihren
Annahmen kommt. Nach Peirce folgt die Induktion dem intellektuellen Bedürfnis, daß eine aufgestellte
Hypothese geprüft und durch Erfahrung bestimmt wird, um zu einer wahrscheinlichen
Verallgemeinerung zu gelangen: "It is the need of generalisation" (CP 3.516).
Die Hypothese nimmt eine provisorische Synthetisierung von Prädikaten vor, basierend auf
Abstraktionen, die zur Grundlage einer plausiblen und erklärungskräftigen Theorie
werden: "the need of synthesizing a multitude of predicates (...) is the need of
theory" (CP 3.516). Die Funktion einer Hypothese besteht darin, "eine große
Reihe von Prädikaten, die in sich selbst keine Einheit bilden, durch ein einzelnes
Prädikat zu ersetzen", also in einer synthetisch-erkenntniserweiternden
"Reduktion eines Mannigfaltigen zur Einheit" zu bringen (Peirce 1991: 49; CP
5.276). Angewendet auf das "Bohnen-Beispiel", das Peirce in Deduktion, Induktion,
Hypothese gibt, läßt sich der Unterschied zwischen den drei Schlußarten
folgendermaßen erläutern: Angenommen, man befindet sich in einem Raum, in dem ein
gefüllter Sack liegt, daneben ein Haufen weißer Bohnen. Bei einer Deduktion ist das
Gesetz bereits gegeben, etwa weil der Sack die Aufschrift "Weiße Bohnen"
trägt. Sobald man hineingreift, weiß man, daß die Bohnen aus dem Sack weiß sein
müssen. Der Fall ("Diese Bohnen sind aus diesem Sack") hat notwendigerweise das
Resultat ("Diese Bohnen sind weiß") als Konsequenz. Bei einer Induktion steht
man vor einem Sack, der keine Aufschrift trägt. Man greift hinein und hält eine Handvoll
weißer Bohnen in der Hand. Man wiederholt das Experiment mit dem gleichen Resultat.
Spätestens beim dritten Mal stellt man ein Gesetz auf ("Alle Bohnen in diesem Sack
sind weiß"), das solange gültig bleibt, bis man eine schwarze Bohne entdeckt. Dem
induktiven Schluß auf die Regel geht allerdings immer schon eine hypothetische Vermutung
voraus, denn die Idee, eine Verbindung zwischen den Bohnen neben dem Sack und den Bohnen
im Sack herzustellen, ist nicht Teil des induktiven Schlusses. Man stellt versuchsweise
das Gesetz auf, daß der Sack ebenfalls Bohnen enthält. Aufgrund eines assoziierten
Zusammenhangs nimmt man an, daß die Bohnen im Sack gleichfalls weiß sind. Nun testet
man, ob die Hypothese ("Diese Bohnen sind aus diesem Sack") als Fall des
aufgestellten Gesetzes ("Alle Bohnen in diesem Sack sind weiß") gelten kann
(vgl. Eco 1988b: 207). In diesem Sinn beruht das abduktive Aufstellen einer Hypothese auf
der Transformation von Assoziationen in Implikationen. Die Hypothese ist als Assoziation
möglicher Zusammenhänge die Voraussetzung für Deduktion und Induktion, sie ist eine
Antizipation möglicher logischer Begründbarkeit und empirischer Prüfbarkeit. Perspektiven der Abduktion beim Lesen von Hypertexten Das abduktive Verfahren wirft zwei Fragerichtungen auf:
1. Wie kommen unsere Hypothesen zustande? 2. Welche Hypothese testen wir zuerst?
Peirce bezeichnet das abduktive Finden bzw. Erfinden von plausiblen Erklärungen
als "logic of discovery", als Entdeckungslogik, die konstruktive und
rekonstruktive Momente verbindet. Zu fragen ist dabei natürlich, worin das Logische der
Abduktion bestehen soll, denn das bloße Raten ist eine vorrationale, höchst mysteriöse
Verkettung von Assoziationen - auch wenn man annimmt, es basiere auf einem
"instinktgeleiteten Spürsinn". Das Logische der Abduktion besteht nach Peirce
in zweierlei: einmal darin, daß sich die Abduktion nachträglich als Argument darstellen
läßt. Zum anderen darin, daß der Prozeß des ratenden Aufstellens von Hypothesen und
deren Überprüfung einer äußerst rationalen Strategie folgt, nämlich dem
Ökonomieprinzip, also einer pragmatischen Logik. Der Aufwand von Geld, Zeit, Gedanken,
Energie - und Telephongebühren ist "the leading consideration in Abduction" (CP
5.600). Dies bedeutet, daß jene Hypothesen zuerst geprüft werden sollen, die uns am
plausibelsten erscheinen oder diejenigen, die sich am einfachsten überprüfen lassen. Umgekehrt beruht die Implausibilität einer Theorie darin, daß sie weder plausibel, noch
einfach prüfbar ist. Peirce gibt folgendes Beispiel für eine solche Theorie: "Angenommen, eine Lärche wurde vom Blitz
getroffen, und jemand, der ein Liebhaber eben dieser Baumart ist, fragt sich, warum es
ausgerechnet die Lärche getroffen hat und nicht einen anderen Baum, und er erhält die
folgende Erklärung: Vielleicht gibt es dort oben in den Bergen einen Adlerhorst, und
vielleicht hat der männliche Vogel, um sein Nest zu bauen einen Ast benutzt, in dem ein
Nagel steckte. Und einer der kleinen Adler hat sich vielleicht an dem Nagel verletzt, so
daß Mutter Adler Vater Adler dafür getadelt hat, daß er einen so gefährlichen Ast
benutzte. Er, verärgert von ihren Vorwürfen, mag sich dazu entschlossen haben, den Ast
weit weg zu bringen. Und während er unterwegs war, begann das Gewitter. Der Blitz schlug
in den Nagel ein und wurde vom Eisen so abgeleitet, daß er die Lärche traf. Natürlich
ist dies nur eine Annahme, aber um herauszufinden, warum der Baum getroffen wurde, sollte
man sich auf die Suche nach dem Adlerhorst machen" (CP 2.662, meine Übersetzung). Dieser "weithergeholte" Erklärungsversuch ist nach Peirce so unplausibel,
wie man ihn sich nur vorstellen kann (CP 2.662). Zugleich handelt es sich aber um eine
äußerst phantasievolle, ja kreative Abschweifung. Tatsächlich kann abduktives Folgern auch die Form des phantastischen, abschweifenden
Gedankenspiels annehmen (Peirce nennt diese spielerische Gedankenbewegung
"musement" (vgl. CP 6.460)). Sofern das Gedankenspiel ein reines Spiel bleibt,
hat es nur ein Gesetz, nämlich das Gesetz der Freiheit (CP 6.458) - also auch die
Freiheit zu unplausiblen, unsinnigen Ergebnissen zu führen. Andererseits bleibt die
Möglichkeit offen, daß das reine Spiel in wissenschaftliches Forschen oder in
künstlerische Produktivität übergeht. In diesem Transformationsprozeß steckt das
kreative Potential der Abduktion. Ihre Pointe besteht darin, "das zusammenzubringen,
von dem wir nie zuvor geträumt hätten, es zusammenzubringen" (CP 5.181). Zwar waren
"die verschiedenen Elemente der Hypothese zuvor in unserem Geist", aber erst die
konjekturale Idee, diese Elemente "zusammenzuwerfen", "läßt blitzartig
die neue Vermutung in unserer Kontemplation aufleuchten" (CP 5.181). Der abduktive
Einfall stellt dabei nicht nur neue Verbindungen her, sondern bewirkt als kreativer
Gedankensprung eine Abkürzung von Denkprozessen. Vergleichen wir die sprunghafte Verknüpfung durch Hypertext-Links mit dem abduktiven
Gedankensprung, so könnte man sagen: Aus der Perspektive des Lesers stellt ein
Hypertextlink eine Beziehung zu einem "festgeschriebenen Zieltext" her, die von
jemand anderem voraus-assoziiert wurde. Der Leser hat zwar die Möglichkeit, "eigene
Wissenspfade abzuschreiten" (Idensen 1996: 149), doch er ist nicht wirklich kreativ,
er stellt nicht selbst neue Verknüpfungen her, da er lediglich fremde Assoziationen
nachvollzieht. Zum kreativen Abduzieren wird er erst dann angeregt, wenn sich die Frage stellt, warum
ausgerechnet dieses Wort mit dieser Seite verlinkt wurde. Aber diese Frage impliziert
bereits, daß irgendetwas nicht "instinktiv plausibel" ist, daß man auf die
Suche nach dem Adlernest in die Berge geschickt wurde. Der Leser schöpft Verdacht gegen
den Linksetzer und überführt ihn entweder der überbordenden Klugheit, weil sich seine
Verknüpfung als geniale Konjektur herausstellt oder aber der diskursiven Dummheit, weil
sich der Link als banal und irrelevant erweist. Im Gegensatz dazu besteht eine konstruktive, also im engeren Sinne "kreative
Abduktion" gerade darin, selbst eine assoziative Beziehung als argumentative
Beziehung darzustellen und dadurch eine neue, erkenntniserweiternde, informative Beziehung
herzustellen, also einen Link zu stiften, dessen Zieladresse noch kein anderer
eingeschrieben hat - was freilich auch bedeutet, daß man selbst für die Link-Konjektur
verantwortlich gemacht wird, also "der Kluge" oder "der Dumme" ist,
sofern man seiner Hypothese den Status einer Behauptung gibt. Diesen Schritt bezeichnet
Eco als "Meta-Abduktion" und er besteht darin, den Mut aufzubringen, die
"diskursive Verantwortung" für seine Hypothese zu übernehmen, also die
Funktion des virtuellen (also "mutigen", da virtutis "Tapferkeit"
bedeutet) Herausgebers einzunehmen. Die kreative Abduktion läßt sich formelhaft als Transformation von Assoziation in
Argumentation begreifen, d.h. als ein "Übergangsprozeß", der sowohl auf Seiten
des Zusammenlesers als auch auf Seiten des Zusammenschreibers wirksam ist. Damit wird das
Abduktionskonzept anschließbar für mehrere Theorieansätze. Für Mike Sandbote erweisen sich Hypertext und World Wide Web als genuine Medien
"transversaler Vernunft". Das auf Wolfgang Welsch zurückgehende Konzept der
transversalen Vernunft läßt sich nach Sandbote in drei Grundthesen zusammenfassen, die
an den eben dargestellten Übergang vom reinen Assoziationen in Argumentationen erinnern:
1. "Die Verfassung von Rationalität ist
durch eine unhintergehbare Unordentlichkeit gekennzeichnet". 2. "Vernunft ist prinzipiell fähig, diese Unordentlichkeit zu rekonstruieren und
präzise zu beschreiben". 3. "Erst wenn es der Vernunft gelingt, sich auf die unbewußten Verflechtungen der
Rationalitäten produktiv einzulassen, ist sie für die Lösung gegenwärtiger
Problemstellungen angemessen gerüstet" (Sandbote 1997: 78).
Die Abduktion leistet eben diese Transformation "unbewußter
Verflechtungen" in bewußte Problemlösungsstrategien, indem sie Propositionen und
Textteile wie Prämissen organisiert, also die Zwischenräume nicht nur als
Kontiguitätsbeziehung interpretiert, sondern als inferentielle Verknüpfungen. Erst dann
nämlich, wenn das assoziative, hypertextuelle Lesen als "einheitsstiftendes
Editing", in den Prozeß des abduktiven Hypothesenaufstellens integriert ist, wird
die rhizomatische Verweisstruktur des Netzes zu einem "produktiven Feld" des
Geistes, in dem sich "Entdeckungen, Erfindungen und Innovationen abspielen"
(Idensen 1996: 149). Die abduktive Bewegung des Verknüpfens hat die Dynamik eines idealen Hypertextes, in dem
sich potentiell alles mit allem verbinden läßt, ohne deshalb beliebig zu sein. Damit
gleicht das abduktive Zusammenwerfen von verschiedenen Elementen, das neue Vermutung
entstehen läßt, der in Vannevar Bushs Artikel "As we may think" vorgestellten
Memex-Maschine. Die Abduktion ist, mit Bush zu sprechen: "a process of tying two
items together". Der Zusammenleser übernimmt die Funktion des Herausgebers von
"interessanten assoziativen Verknüpfungen", die er als Argument darstellt. Darüberhinaus könnte man überlegen, ob es nicht eine gewisse Analogie zwischen der
Abduktion und Derridas Konzept der "Aufpfropfung" gibt. Auch die Bewegung der
Abduktion ist im Stadium konjekturalen Zusammenwerfens noch nicht in rationale
Begründungsstrukturen integriert, sondern hat den Charakter einer "Entführung"
in andere Kontexte. Und zwar gleichermaßen als produktive und als rezeptive
Rekontextualisierung. Doch im Gegensatz zur Peirceschen Abduktion führt die
rekontextualisierende Bewegung der Aufpfropfung von einem assoziativen Link zum nächsten,
ohne die Bewegung der Assoziation jemals in eine Bewegung der Implikation umzuwandeln. Vielleicht, so könnte man abschließend fragen, vielleicht besteht aber eben hierin die
ästhetische Dimension des Lesens von Hypertext-Literatur. Vielleicht besteht die Aufgabe
von Literatur im Internet darin, einen permanent abschweifenden, aufpfropfenden,
entführenden, anekdotischen Leser zu schaffen, der nicht mehr in der Lage ist, seine
diskursive Funktion als Einheitsstifter zu erfüllen, dessen "Lust am Hypertext"
in den verschiedenen Möglichkeiten besteht, sich seiner diskursiven Diffusion zu
überlassen. Eine dieser Möglichkeiten wäre die der fetischistischen Lektüre, die sich am
zerschnitten Text und der Zerstückelung der Zitate freut (vgl. Barthes 1986: 93). Eine
andere Möglichkeit wäre die paranoiden Lektüre, die verzwickte Hypertexte so
interpretiert, als seien sie nach geheimen Spielregeln hervorgebrachte Konstruktionen. Die
diffuseste dieser Möglichkeiten aber wäre die hysterische Lektüre, die sich blind in
den Hypertext hineinwirft, ihn zu Ende lesen will und sich deshalb im Netz des Hypertextes
verfängt. Mit anderen Worten: Vielleicht führt der von Barthes attestierte Tod der auktorialen
Spinne zur Geburt eines lesenden Spinners.
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Literaturhinweise Barthes, Roland (1986), Die Lust am Text. Frankfurt. (Zuerst 1973). Barthes, Roland (1977), "The death of the Author" (Zuerst 196ß). In:
Image-Music-Text (ed. Stephen Heath). Hier zitiert im Nachdruck in Modern Criticism and
Theory (1977), Ed. David Lodge. Bolter, Jay (1997), "Das Internet in der Geschichte der Technologien des
Schreibens".In: Münker/Roesler: Mythos Internet. Frankfurt. Bolz, Norbert (1993), Am Ende der Gutenberggalaxis, München. Eco, Umberto (19ß0), Der Name der Rose. München. Eco, Umberto (19ß7a), Lector in fabula. München. Eco, Umberto (19ß7b), Der Streit der Interpretationen. Konstanz. Flusser, Vilem (19ß7), Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Frankfurt. Foucault, Michel (1993), "Was ist ein Autor?" (Zuerst 1969). In: Michel
Foucault, Schriften zur Literatur, Frankfurt 1993. Hoffmann, E.T.A. (1969) Lebens-Ansichten des Katers Murr, München. Idensen, Heiko (1996), "Die Poesie soll von allen gemacht werden". In: Literatur
im Informationszeitalter. Herausgegeben von Dirk Matejovski und Friedrich Kittler.
Frankfurt / New York: 143-184. Iser, Wolfgang (1984), Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München. Peirce, Charles Sanders, Collected Papers. Abgekürzt als (CP).Band I-VI (1931-1935), Hg.
von Ch. Hartshorne und P. Weiß. Band VII und VIII (195ß), Hg. von A.W. Burks. Harvard
University Press. Peirce, Charles Sanders (1929), "Guessing". The Hound and Horn: 267-285. Sterne, Laurence (1985), Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman. Aus dem
Englischen von O. Weith. Stuttgart. Wingert, Bernd (1995), "Die neue Lust am Lesen? Erfahrungen und Überlegungen zur
Lesbarkeit von Hypertexten." In: Kursbuch Neue Medien. Mannheim: Bollmann. Wirth, Uwe (1994), "Über die Logik des Lesens bei Calvino und Eco". In: Die
Literarische Moderne in Europa. Hg. von Hans Joachim Piechotta, Ralph-Rainer Wuthenow,
Sabine Rothemann. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994. Wirth, Uwe (1995), "Abduktion und ihre Anwendungen. Ein Forschungsbericht". In:
Zeitschrift für Semiotik. Bd. 17: 1995. Wirth, Uwe (1997) "Wen kümmert's wer liest? Literatur im Internet". In: Mythos
Internet. (Hgg.) Stefan Münker und Alexander Roesler. Edition Suhrkamp 1997. Benjamin Whooley (1992), New Media Worlds, London.
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