Die Arbeiten Jacques Derridas lassen sich in drei Phasen einteilen: die erste Phase
verläuft von Anfang der 60er Jahre bis 1972, umschließt Die Schrift und die Differenz,
Grammatologie, Die Stimme und das Phänomen sowie die Randgänge der
Philosophie und ist von einem noch stark den Konventionen philosophischer Explikation
verpflichteten Textgestus bestimmt. Für den Zeitraum von 1972 bis zum Anfang der 80er
Jahre muß man vielleicht keine "performative Wende" (1) ansetzen, aber Derrida legt den Akzent stärker auf
experimentierende Textformen, deren Notwendigkeit er philosophisch nachzuweisen versucht. Dissemination,
Glas und Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits gehören wie
die hier zu besprechende Wahrheit in der Malerei (1978 erschienen, erst 1992 ins
Deutsche übersetzt) zu dieser zweiten Phase, woran sich seit den 80ern eine Mischung aus
argumentativem Stil und performativer Entfaltung anschließt, die sich thematisch Fragen
der Gerechtigkeit, der Gabe und der Politik öffnet (etwa Gesetzeskraft, Falschgeld,
Marx'Gespenster), was nicht bedeutet, daß diese Probleme vorher keine Rolle
gespielt hätten. Verbunden sind diese Phasen a) durch Derridas Transformation der
abendländischen Zeichentheorie von Platon bis an Saussure und jenseits in eine Konzeption
allgemeiner Textualität (Urschrift, différance, Spur, pharmakon, parergon); und b) durch
den Modus der Lektüre. Derrida scheint keine axiomatischen Deduktionen zu liefern,
sondern »nichts« als eine lesende Abarbeitung an der Tradition. Einerseits erscheint
Derrida, Geoffrey Bennington zufolge, "als die äußerste Bescheidenheit [...], als
eine[r], der sich ganz dem Lesen und Wiederlesen seiner Vorgänger widmet [...], als
ein[-] Hüter des Buchstabens alter Texte, der nichts vorbringt, was nicht bereits bei
einem anderen geschrieben steht", andererseits wirkt er aber genauso auch "als
die Unbescheidenheit selbst", d.h. als jemand, "der dieselben Texte dazu
nötigt, etwas gänzlich anderes zu sagen als das, was sie immer zu sagen schienen".(2) Diese bescheidene
Unbescheidenheit macht Derridas Relevanz für ein Seminar über das Lesen aus: Philosophie
wird zu einem Lektüreverfahren.
Auf dem Lektüreverfahren Derridas soll auch der Akzent der folgenden Ausführungen
liegen. Dagegen wird darauf verzichtet, noch einmal die Diskussion für oder gegen das,
was Derrida in der ersten Phase seines Schreibens »Dekonstruktion« genannt hat, zu
führen, d.h. noch einmal die Debatten über die Beziehung von Philosophie und Literatur,
über Derridas vermeintlichen Hermetismus, die angebliche Beliebigkeit des Zugriffs, den
Topos von den gleitenden oder sonstwie ins Rutschen geratenen Signifikanten, die
Entgegensetzung von Pariser Meisterdenker und seinen bloß schematischen Schülern oder
die verunglückte Derrida-Rezeption in Deutschland zu entfalten. Sicherlich gewähren auch
die frühen Manifeste der »Dekonstruktion«, worin eine Lesetechnik als philosophische
Strategie formalisiert wird, (z.B.: gezielte Privilegierung bislang marginalisierter
Textpassagen, Umkehrung von Hierarchien usw.) einen Zugang zu den Operationen des Lesens
in Derridas Texten, und sicherlich ist die Konstruktion einer Differenz zwischen dem
Verfahren der Dekonstruktion und ihrer Lesetechnik hochproblematisch. Nichtsdestotrotz
wird diese Differenz aus heuristischen Gründen behauptet, um nicht bei einem
dekonstruktiven »Do-it-yourself«-Bausatzkasten zu landen, wie ihn etwa Jonathan Culler
entworfen hat(3), sondern statt dessen
Derridas Art des Lesens an einem konkreten Beispiel zu analysieren - gerade der Begriff
des Beispiels wird in Die Wahrheit in der Malerei eine prominente Rolle spielen.
Dieses Buch enthält ein Vorwort und vier Essays. Der erste Essay, Parergon, ist
wiederum viergeteilt: der zweite Abschnitt, Das Parergon (im französischen
Original S.44-94, in der deutschen Übersetzung S.56-104), soll hier exemplarisch --
gelesen werden. (4) Der Gesamtessay Parergon
behandelt die philosophische Ästhetik Hegels, Heideggers und vor allem Kants, der
ausgewählte Abschnitt Das Parergon widmet sich der Lektüre von Immanuel Kants
dritter Kritik.
Die Komplexität von Derridas Referenztext, die Kritik der Urteilskraft von 1790,
macht es notwendig, Einsatz, Grundgedanken und Probleme der Kantischen Ästhetik in
Erinnerung zu rufen. Kants Hinwendung zur Ästhetik resultiert primär nicht aus seiner
Neigung zum Schönen, sondern hat seinen Grund in dem Systemproblem, in das er sich mit
der Kritik der reinen Vernunft(5)
und der Kritik der praktischen Vernunft verstrickt hatte: Kants Insistenz sowohl
auf Vollständigkeit als auch auf Widerspruchsfreiheit seines Systems. Der
Vollständigkeitsanspruch resultiert aus seinem Begriff von einem philosophischen System.
In einem Brief (an Reinhold vom 28.12.1787), der die "Critik des Geschmaks"
ankündigt, spricht Kant zunächst von seiner Unbesorgtheit (der jene Sorge vorausgegangen
sein muß), daß "jemals ein Wiederspruch [...] meinem System erheblichen Abbruch
thun" könnte, bevor er von der Entdeckung eines apriorischen Prinzips für das
Gefühl der Lust und Unlust berichtet, "ob ich es zwar sonst für unmöglich hielt,
dergleichen zu finden". (6) In der
Vollständigkeit bzw. Abgeschlossenheit des Systems der Kritik der reinen Vernunft ist
Legitimation und Autorität des Wahrheitsanspruchs Kantischer Philosophie enthalten,
"d.i. es ist nur Ein wahres System derselben aus Prinzipien möglich"
(7) und wenn das Prinzip der reinen Vernunft auch nur zur
Beantwortung "einer einzigen aller der Fragen, die ihr durch ihre eigene Natur
aufgegeben sind, unzureichend wäre, man dieses immerhin nur wegwerfen könnte" (KrV
A XIII). Die Vollständigkeit des Systems läßt einerseits "nichts vor die
Nachkommenschaft übrig" (KrV A XX), da in "dieser Unveränderlichkeit [...]
sich dieses System [...] auch fernerhin behaupten" wird, "indem der Versuch,
auch nur den kleinsten Teil abzuändern, sofort Widersprüche, nicht bloß des Systems,
sondern der allgemeinen Menschenvernunft herbeiführt" (KrV B XXXVIII). Andererseits
aber wird das System genau von diesem Anspruch auf Vollständigkeit bedroht, welcher es
der Alterität von Gelingen und Scheitern aussetzt: "Zu dieser Vollständigkeit ist
sie [die durch Vernunftkritik zur Wissenschaft nobilitierte Metaphysik; M.H.] daher, als
eine Grundwissenschaft, auch verbunden, und von ihr muß gesagt werden können: nil actum
reputans, si quid superesset agendum" (KrV B XXIV). (8) Die Widerspruchsfreiheit des Systems schließlich wird
gefährdet durch "die große Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen
trennt" (KU A LI/B LIII). Diese Kluft verlangt Kant eine Gratwanderung zwischen den
aus seiner kopernikanischen Wende stammenden erkenntnistheoretischen Limitationen der Kritik
der reinen Vernunft (Bewahrung der Unterscheidung von Sinnlichkeit und
Intelligiblität) und dem ethischen Postulat der Kritik der praktischen Vernunft
ab, daß dem aus dem Freiheitsbegriff resultierenden kategorischen Imperativ
Realisierbarkeit in der Welt der Erscheinungen zugesprochen werden muß. Was die Kritik
der Urteilskraft daher - vor jedem Rekurs auf »genuin« ästhetische Fragen - zu
leisten hat, ist die Vermittlung zwischen Kants Erkenntnistheorie und seiner Ethik,
zwischen noumenaler und phänomenaler Sphäre. Pointiert formuliert: Kant muß in seiner
Ästhetik "eine Brücke von einem Gebiete zu dem andern hinüberzuschlagen" (KU
A LI, LII/B LIII, LIV) versuchen, da er andernfalls eine Erkenntnistheorie entworfen
hätte, die seiner Ethik Umsetzbarkeit abspricht, da der Mensch das Wirken des
Sittengesetzes nicht als Ding an sich erkennen kann.
Kants Vermittlungsversuch in der Kritik der Urteilskraft kann hier nur grob
skizziert werden (auch, um vorab einige zentrale Begriffe Kants zu erläutern, deren
Kenntnis Derrida weitgehend voraussetzt). Er nimmt seine Dreiteilung der logischen
Erkenntnisvermögen aus der ersten Kritik auf und baut sie folgendermaßen um: Der Verstand
habe im Naturbegriff seine Gegenstände in der Anschauung, aber nicht als Ding an sich,
die Vernunft dagegen erkenne zwar das Sittengesetz als Ding an sich, besitze aber
keine Anschauung. Keines der beiden Vermögen könne also eine vollständige, d.h.
übersinnliche Erkenntnis vom Objekt als Ding an sich produzieren - das hatte die Kritik
der reinen Vernunft ausgeschlossen. Jenen Abgrund im Inneren der Erkenntnis soll nun
die Urteilskraft (die kognitive Kompetenz, das Besondere unter das Allgemeine zu
subsumieren) überbrücken. Diese Vermittlungsleistung kann sie laut Kant paradoxerweise
erbringen, ohne selbst irgendeine theoretische oder praktische Erkenntnis herstellen zu
können. Die Zentralunterscheidung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft sei
hier zunächst zurückgestellt, damit Kants Grundgedanke deutlich wird. Um ihre
Subsumptionsoperation prozessieren zu können, bediene sich die Urteilskraft eines
regulativen Prinzips: sie setze eine formale Zweckmäßigkeit der Natur für die
menschliche Erkenntnis voraus, d.h. regulativ-heuristisch werde eine gesetzliche Einheit
der Natur in ihrer empirischen Heterogenität als ein subjektives Reflexionsprinzip
präsupponiert. Kant verknüpft nun diese formale Zweckmäßigkeit der Natur mit dem
Gefühl der Lust und der Unlust, indem er auf einen gemeinsamen apriorischen Grund
verweist: als Erreichung einer Absicht löse die gelungene Subsumptionsoperation der
Urteilskraft Lust aus. Allerdings beraube diese - wie Derrida anmerkt - "ein wenig
trockene Lust" (Par 51/63) die Urteilskraft ihres Anspruchs auf objektive Erkenntnis,
da ein Lustgefühl immer subjektiv sei. Weil aber die Ursache dieser Lust in der
Übereinstimmung von Gegenstand und menschlichem Erkenntnisvermögen liege, könne das
Geschmacksurteil (als eigentliche Leistung der Urteilskraft) gleichwohl Anspruch auf
jedermanns Beistimmung erheben - erst in Beziehung auf diese Verallgemeinerung kommt für
Kant Kunst in Betracht. Von bestimmter Kunst muß gesagt werden: "»sie ist
schön« und »diese Aussage hat universale Gültigkeit«. Sonst gäbe es kein Problem -
und auch keinen Diskurs über die Kunst" (Par 55/67). Mittels einer vergleichbaren
logischen Zumutung (ein zwar subjektives, dennoch allgemein gültiges Geschmacksurteil)
will Kant auch zwischen Erkenntnistheorie und Ethik vermitteln: die Urteilskraft mache
nämlich als Erkenntnisvermögen die analoge Voraussetzung wie die Ethik.
Diese Voraussetzung ist eben - die Voraussetzung oder, nicht schön, aber präziser, die
Voraussetzlichkeit. Da die Realisierung des kategorischen Imperativs von Kant als Endzweck
postuliert wird, muß die Bedingung der Möglichkeit dieser Realisierbarkeit vorausgesetzt
werden. In Analogie zu dieser Voraussetzung setzt a priori auch die Urteilskraft im
Begriff der formalen Zweckmäßigkeit der Natur ein regulatives Prinzip als in der Natur
enthalten voraus - darin besteht ihre vermittelnde Leistung bzw. so bewährt sich (in
diese Wunde legt auch Derrida seinen Finger) der Zirkel einer als vermittelnd
konstruierten Urteilskraft, die für ihr Vermittlungsgeschäft Vermittlungsfähigkeit
voraussetzt, um dann tatsächlich auch zu vermitteln.
Diese "Ökonomie des Abgrundes" (Par 44/56) will Derrida in seiner Lektüre
verfolgen, aber auch deren "komische Wirkung" (Par 40/52). Die entscheidende
Lesefigur Derridas ist eine vielfach variierte Bewegung der Reapplikation, d.h. das
Umfalten der - vertraut man sich dieser Unterscheidung der Sprechakttheorie an -
Performanz eines Textes auf seine konstativen Aussagen. In der Postkarte kleidet
Derrida dieses Verfahren in die Form einer Frage ein: "Was passiert, wenn Akte oder
Performanzen (Diskurs oder Schrift, Analyse oder Beschreibung usf.) Teil der Objekte sind,
die sie bezeichnen?" (9) Genau
dieses topologisch kaum beschreibbare Einschließungsverhältnis untersucht Derrida in der
Kritik der Urteilskraft, um Kants ästhetischen Diskurs zu - wie der Übersetzer
von Wahrheit in der Malerei, Michael Wetzel, Derridas Rekurs auf das mise en
abyme überträgt - ver-abgründen. Derridas Lektüre setzt mit der Unterscheidung
Kants zwischen Kritik und Metaphysik ein. Für Kant gehört die Kritik der Urteilskraft
zwar notwendig zum kritischen Geschäft, nicht aber zur noch auszuarbeitenden Metaphysik,
die lediglich theoretische und praktische Philosophie umschließt. Die seltsame
Ortlosigkeit der dritten Kritik (Derrida: "ein des Ortes beraubter Ort" [Par
45/57]) versucht Kant dadurch zu balancieren, daß er der Kritik der Urteilskraft
zwar kein eigenes Gebiet, aber doch ein spezifisches Territorium einräumt. Der
Metaphysiker bereite wie ein guter Architekt durch die Kritik dem aufzuführenden
doktrinalen Gebäude den Boden und lege ein sicheres Fundament für sein System ("auf
der Suche nach dem Felsengrund" übersetzt Wetzel, was im französischen Original
anspielungsreich "[a] la recherche du fond pierreux" heißt [Par 47/59]). An
dieser Stelle hakt Derrida ein, indem er Kants Metaphorik beim Wort nimmt und auf die
dritte Kritik insgesamt reappliziert bzw. umklappt:
"Am Ende der [...] Einleitung* [...]
wird es nun die Metapher des künstlichen Werkes sein, die den Übergang über den
natürlichen Abgrund [Kant hatte zuvor sein Systemproblem der Natur in die Schuhe
geschoben; M.H.] gewährt, die Brücke*, die sich über der großen Kluft*
wölbt. Die Philosophie, die in diesem Buch die Kunst [...] als einen Teil ihres Feldes
oder ihres Gebäudes denken soll, sie selbst ist es, die sich vorstellt als einen
Teil ihres Teils: Es ist eine Kunst der Architektur" (Par 48/60).
Entsprechend dem oben zitierten Passus aus der Postkarte
ist hier die Performanz des philosophischen Diskurses Teil der Objekte geworden, die er zu
beschreiben versucht. Analog - die Analogie wird im folgenden für Kant wie für
Derrida zentral werden - verfährt Derrida mit der Kantischen Thematisierung von Lust und
Unlust. Ein Text über Lust und Unlust, so Derrida, stelle Kants dritte Kritik zuallererst
das "Begehren der Vernunft" aus, "ein Begehren des Fundamentalen" (Par
48/60).
Weiter unten expliziert Derrida sein Verfahren als doppelte Bewegung von vermeintlich
getreuer und dezidiert deformierender Lektüre:
"Ich folge (suis) ihr: Das Rätsel der
Lust setzt das ganze Buch in Bewegung. Ich verführe (séduis) sie: Indem ich die
dritte Kritik als ein Kunstwerk oder einen schönen Gegenstand behandle, was nicht
gerade ihre Bestimmung war, tue ich so, als ob die Existenz des Buches mir
gleichgültig wäre" (Par 51/63).
Die Figur der Reapplikation wird jetzt komplexer kalkuliert: Derrida liest nun nicht mehr
nur Kants Metaphorik auf seine Argumente zurück, sondern unterstellt ironisch sein
eigenes Lesen dem Regime des interesselosen Wohlgefallens. Zunächst wird im Modus des
»getreuen« Folgens Kants berühmte Formel ad absurdum geführt ("Ich liebe nicht,
aber ich finde Wohlgefallen an dem, was mich nicht interessiert, zumindest daran, daß es
gleichgültig ist, ob ich liebe oder nicht liebe" [Par 56/68]), dann im Register der
Verführung "die dritte Kritik als ein Kunstwerk" (Par 57/68) behandelt.
Angebunden an die Frage nach dem Status der Existenz bei Kant (auf die Rekonstruktion von
Derridas Anspielungen auf das Netzwerk seiner eigenen Texte, hier anhand des Problems der
Trauerarbeit, des Restes und des Heideggerschen »Es gibt«, muß verzichtet werden)
wendet sich Derrida dem Lesen und dem Status seiner eigenen Lektüre zu: "Wie soll
man dieses Buch behandeln. Ist es ein Buch. Was macht daraus ein Buch. Was heißt, dies
Buch lesen" bzw. "Qu'est-ce que lire ce livre" (Par 58/69). So schreibe
etwa ein plastischer Kunstgegenstand "keine Ordnung der Lektüre vor", man
könne sich "vor ihm bewegen, oben oder unten beginnen, bisweilen um ihn
herumgehen" (Par 58/70). Anders ein Buch, selbst wenn Kant seine Philosophie als
Kunst der Architektur metaphorisiere: "liest man ein Buch der reinen Philosophie,
wenn man nicht mit den Grundlagen beginnt und wenn man nicht der juridischen Ordnung
seiner Schrift folgt?" (Par 59/70). Wie weit kann die Analogie von Buch und
Architektur gehen, vor allem wenn das fragliche Buch kein Bestandteil der reinen
Metaphysik, sondern eine Kritik ist? In diese Inszenierung einer Unsicherheit über die Ordnung der zu unternehmenden Lektüre
läßt Derrida "eine supplementäre Komplikation" (Par 59/71) intervenieren.
Sein reapplikativer Kunstgriff besteht darin, Kants Unterscheidung von bestimmender und
reflektierender Urteilskraft aufzunehmen, "eine vertraute und dunkle
Unterscheidung", die "alle inneren Unterteilungen des Buches" (Par 59/71)
überwacht, wie Derrida im engsten Einvernehmen mit der Kant-Forschung ausführt. Das
zentrale interne Problem, das die Kritik der Urteilskraft in Bewegung setzt, ist
das reflektierende Urteil. Der »Normalfall« ist zunächst das bestimmende Urteil, d.h.
die Urteilskraft verfügt über ein allgemeines Gesetz und subsumiert Einzelfälle,
empirische Gegebenheiten und Beispiele unter dieses Gesetz. Beim bestimmenden
Urteil vollzieht die Urteilskraft eine von der allgemeinen Regel zum Beispiel
hinabsteigende Bewegung (Spezifikation). Anders beim reflektierenden Urteil: hier besitzt
die Urteilskraft lediglich das Beispiel und versucht vom Konkreten aus den umgekehrten
Weg, in einer aufsteigenden Bewegung, zum allgemeinen Gesetz zu gehen (Klassifikation).
Dafür muß sie sich selbst a priori ein regulatives Prinzip zum Zweck der Reflexion
geben, d.h. die (oben mehrfach erwähnte) formale Zweckmäßigkeit der Natur an der Natur
voraussetzen. Und nur für diesen Fall des reflektierenden Urteils kann die Urteilskraft
überhaupt Anspruch auf ein transzendentales Prinzip erheben und nur deshalb kann Kant
diesem Erkenntnisvermögen eine eigene Kritik widmen. Hatte Derrida seine Lektüre
vorher parasitär am interesselosen Wohlgefallen ausgerichtet, so unterstellt er sie nun
der Frage nach der reflektierenden Urteilskraft: "In der Kunst und im Leben, überall, wo man,
nach Kant, mit reflektierenden Urteilen arbeiten und (in Analogie zur Kunst [...]) eine
Endlichkeit voraussetzen muß, deren Begriff wir nicht besitzen, geht das Beispiel
voran" (Par 60/71). Dieser Trick Derridas ist gleichermaßen intellektuelles Spiel wie harte theoretische
Position. Er nistet seine Argumentation in die Kantische Logik vom reflektierenden Urteil
ein, liest die Beispiele, die Kant gibt, und steigt - mehr oder weniger streng nach Kant -
zu einem allgemeinen Gesetz auf, das am Ende der Lektüre Parergonalität heißen wird,
aber zurückübersetzt in den Begriffsapparat der Grammatologie auch als
Supplementarität oder différance bezeichnet werden könnte. Selbst der kritischen
Nachfrage, Derrida operiere hier weniger reflektierend, als bestimmend (geht vom Gesetz
allgemeiner Textualität aus und sucht sich dann bei Kant die passenden Beispiele),
könnte er mit dem Hinweis auf die zum Zweck der Reflexion notwendige apriorische
Voraussetzung der formalen Zweckmäßigkeit der Kritik der Urteilskraft für das
Erkenntnisvermögen der Dekonstruktion begegnen. Entsprechend "diese[r]
reflektierende[n] Brechung" beginnt Derrida seine "Lektüre der dritten Kritik
mit Beispielen" (Par 60/72). Dieser Schachzug erlaubt es ihm auch, die angesprochene
juridische Ordnung der philosophischen Lektüre auszuhebeln, denn Kants § 14, Erläuterung
durch Beispiele, findet sich mitten in der Analytik des Schönen. Aus dieser Phase der Derridaschen Kant-Lektüre seien nur einige Hauptstationen
herausgehoben. Sie knüpft an die Unterteilung der Geschmacksurteile in materiales
Sinnenurteil und das eigentliche formale ästhetische Geschmacksurteil an. Gegenüber
Farben und Tönen (die in unvermischter Reinheit aber zugelassen sind) privilegiert Kant
die "»Zeichnung«" (Par 61/73), was auch für die "»Zieraten (parerga)«"
(Par 62/73) gilt, d.h. deren Form (bzw. Formalität als solche) steigert das Wohlgefallen
- kann aber auch zum "»Schmuck«" (Par 62/73) degenerieren (etwa goldene
Bilderrahmen, da hier ein grober sinnlicher Reiz die formale Schönheit des Rahmens
aussticht). Der Ausdruck Parergon findet sich ebenfalls in einer "»Allgemeinen
Anmerkung«" (Par 64/75) in Kants Die Religion innerhalb der Grenzen der
bloßen Vernunft, wo der Begriff für Gnadenwirkungen, Wunder, Geheimnisse und
Gnadenmittel gebraucht wird: "Das Parergon schreibt etwas ein, das äußerlich
zum eigentlichen Feld [...] hinzu kommt, aber dessen transzendente Äußerlichkeit die
Grenze selbst nur in dem Maße umspielt, säumt, streift, reibt, bedrängt und ins Innere
eindringt, wie das Innere fehlt. Es fehlt an etwas und fehlt sich
selbst" (Par 65/76). Anhand der drei Beispiele aus § 14 der Kritik der Urteilskraft (Gemälderahmen,
Gewänder an Statuen, Säulengänge um Prachtgebäude - Derrida liest diese Beispiele in
"umgekehrter Reihenfolge" [Par 69/80], d.h. paßt die Ordnung der Zitate der
Dramaturgie seiner Argumentation an) versucht Derrida, die innen/außen- bzw. die
ergon/parergon-Hierarchie zum Einsturz zu bringen: "Was sie zu Parerga macht, ist nicht
einfach ihre überflüssige Äußerlichkeit, es ist das interne strukturelle Band, das sie
mit dem Mangel im Innern des Ergon zusammenschweißt. Und dieser Mangel ist damit
konstitutiv für die Einheit selbst des Ergon" (Par 69/80).
Wichtiger als Derridas Reformulierung seiner Theorie der Supplementarität ist für den
Problemhorizont des Lesens seine Auseinandersetzung mit einem möglichen Einwand gegen
sein Lektüreverfahren: "Man könnte denken, daß ich zu weit gehe,
indem ich mich in zwei oder drei Beispiele verbeiße, die vielleicht zufällig sind und
aus einem zweitrangigen Unter-Kapitel stammen; und daß es besser wäre, sich an weniger
marginale Stellen des Werks zu halten, die dem Zentrum und dem Hintergrund näher
sind" (Par 73/82ff). Diesen Einwand weist Derrida ab, indem er Methode und Resultat der Lektüre kurzschließt.
Der Einwand setze voraus, daß man bereits über Zentrum und Rahmen, Intrinsisches und
Extrinsisches orientiert sei. "Das ästhetische Urteil muß sich im
eigentlichen Sinne auf die intrinsische Schönheit erstrecken, nicht auf den Schmuck
[...]. Man muß folglich wissen - eine fundamentale Voraussetzung, des Fundamentalen -,
wie das Intrinsische - das Eingerahmte - zu bestimmen ist, und wissen, was man als Rahmen und
aus dem Rahmen herausfallend [...] ausschließt. Wir sind folglich bereits im
unauffindbaren Zentrum des Problems" (Par 74/84).
In jenem unauffindbaren Zentrum findet Derridas Lektüre sich selbst - unternimmt
zumindest den Versuch und wird mit dem zuletzt zitierten Satz von dérrida, jàcques
signiert - "Nous sommes donc déjà au centre introuvable du problème". Das hier umrissene Verfahren der Reapplikation der Kantischen Unterscheidung von
bestimmenden und reflektierenden Urteilen auf die Kritik der Urteilskraft bzw. auf
Derridas eigene Lektüre wird im folgenden noch einmal wiederholt. Kant hatte versucht, in
der Kritik der Urteilskraft an die Kategorientafel der ersten Kritik
anzuschließen. In dieser Übertragung reproduzieren sich die Aporien, die das ganze
Vermittlungsprojekt kennzeichnen. Derrida legt nun den Import von Theoriestücken aus der Kritik
der reinen Vernunft in die Kantische Ästhetik als Rahmungsversuch aus: Kant
"überträgt einen logischen Rahmen [...], um ihn einer nicht logischen
Struktur aufzuzwingen", und dies "in gerade dem Augenblick, wo er auf der
Irreduzibilität der einen auf die anderen besteht" (Par 80f/91). Dieses Problem
hatte Kant durch eine Hinsichtenunterscheidung zu lösen versucht: zwar seien logisches
und ästhetisches Urteil bezüglich ihrer Objekterkenntnis strikt zu trennen, aber im
Modus der Analogie aufeinander beziehbar. Und nur in Analogie zu den
konstitutiven Prinzipien der logischen Urteile spricht Kant den ästhetischen Urteilen ein
regulatives Prinzip zu. Die Analogie (die als rhetorische Figur Kant bereits mit der
Architektur- und Brückenmetapher versorgt hatte) soll also zugleich die systemische Kluft
schließen und offenhalten (das ästhetische Urteil ist kein Erkenntnisurteil). Mit der
Thematisierung der Analogie steuert Derridas Lektüre auf das argumentative Rückgrat der Kritik
der Urteilskraft zu. Weiter reflektierende Urteile fällend ("[d]as
reflektierende Verfahren" [Par 85/94]), interpretiert Derrida die problematische
Rahmung der dritten Kritik durch die erste als "ein Beispiel für das [...], was er
[der Rahmen; M.H.] als Beispiel zu betrachten erlaubt (der im Rahmen beschriebene
Rahmen)". Dann könne "man so tun, als ob der Inhalt der Analytik des Urteils
ein Kunstwerk wäre, ein Bild, dessen aus der anderen Kritik eingeführter Rahmen
aufgrund seiner formalen Schönheit die Rolle des Parergons spielt" (Par
83/93f). Aber die Analytik des Urteils "konstituiert und ramponiert" (Par 85/94)
ihren kategorialen Rahmen aus der ersten Kritik und Derrida vollführt nun die von diesem
Beispiel aufsteigende klassifikatorische Bewegung zu einer allgemeinen Regel: "Wenn die eingesetzten Verfahren [...] von
dieser Parergonalität abhängen [sichere Trennung von Innen und Außen, von Intrinsisch
und Extrinsisch, von eigentlichem Zierat und uneigentlichem Schmuck usf.; M.H.]; wenn all
die Wertgegensätze, die die Philosophie der Kunst (vor und nach Kant) beherrschen, in
ihrer Relevanz, ihrer Strenge, ihrer Reinheit und ihrer Eigentlichkeit davon abhängen,
dann sind sie folglich von dieser Logik des Parergon affiziert" (Par 85/94).
Hier schließt Derrida nicht mehr nur von Kants Beispielen auf Kants Ästhetik, sondern
auch von Kants dritter Kritik auf die gesamte philosophische Ästhetik. Aber selbst diese
These Derridas ist im Kontext seiner reapplikativen Lektüre weniger eine brachiale
Vereinfachung, als ein streng reflektierendes Urteil, welches sich darüber hinaus mit dem
Kantischen Gebrauch eben der Analogie (vgl. Par 87f/97f) autorisieren kann -
reflektierendes Urteil (vom Beispiel Kants zum allgemeinen Gesetz philosophischer
Ästhetik) und Analogie (Hegels und Heideggers Ästhetiken operieren analog zur Kritik
der Urteilskraft). ´
Der Leser Derrida, so könnte man resümieren, operiert in aller unbescheidenen
Bescheidenheit analogisch, nutzt dabei aber den Spielraum, den die Analogie als
Wiederholung und Verwandlung per definitionem lassen muß. Von daher wäre dann (doch
noch) auf die Manifeste der Dekonstruktion zurückzukommen. Diese Pflicht sei hier durch
zwei letzte Zitate abgegolten, beide aus Randgänge der Philosophie. Das erste
Zitat beschäftigt sich mit der Etymologie von »Iteration«: "iter, »von
neuem«, kommt von itara, anders im Sanskrit, und alles Folgende kann als
Ausbeutung jener Logik gelesen werden, welche die Wiederholung mit der Andersheit
verbindet". Das zweite Zitat schließlich adressiert als programmatischer Vorsatz
explizit den Rahmen und die Analogie: "Man müßte, durch rigorose, philosophisch unnachgiebige
Begriffsanalysen und gleichzeitig durch die Einschreibung von Merkzeichen (marques),
die nicht mehr dem philosophischen Raum angehören, [...] die Einrichtung (cadrage)
ihrer eigenen Typen durch die Philosophie verschieben. Anders schreiben. Die Form einer
Geschlossenheit ausmachen, die keine Analogie mehr mit dem aufweist, was die
Philosophie unter diesem Namen [...] vorstellen kann". (10)
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