Zeitschrift für Literatur und Philosophie
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Der Musiksender, die Thermeneutik, das Verinnern.
Bruno Friedrich Arich-Gerz
Das Phänomen MTV als Erzählung
Beginnen wir mit einem Streich, einem Handstreich, und behaupten, daß das Phänomen MTV (das wir als repräsentativ für eine Sende(r)form Musikkanal ansehen, und das wir auf Grund der Vorreiterrolle des englischsprachigen Kanals wählen) als narrative Form lesbar ist, als Erzählung, als Saga, als récit. Legitimieren wir diesen Streich, indem wir verweisen auf die Länge der Erzählung, das zeitgrenzen-, endlose Phänomen MTV -- hier nämlich unterscheidet es sich, so argumentieren wir, von in formal unterschiedliche Einheiten unterteilbare Programme anderer Kanäle, deren Sendeplätze eingenommen werden von Formen wie Spielfilmen, Nachrichtensendungen, Magazine etc., die ihrerseits narrativen Charakter besitzen können (etwa Spielfilme), aber deswegen nicht das Programm oder den Sender zur Erzählung machen.
Das Phänomen MTV kennzeichnet, daß es fast ausschließlich eine einzige Form aufweist: Musikclips. Es handelt sich, um die Analogie zu (re)affirmieren, um einen tendenziell infiniten Roman oder Spielfilm, unterteilt in Kapitel oder Sequenzen, wie sie in der (tag- oder wochenspezifischen) Programmstruktur zum Ausdruck kommen. Und deren Arrangement abhängt von Faktoren wie Publikumsresonanz und Einschaltquote -- wie Charles Dickens seine frühen (Fortsetzungs-)Romane schrieb, indem er zwischen den Phasen des Verfassens Leserreaktionen einholte, um den weiteren Verlauf der Handlung entlang des ihm in diesen Rezipientenreaktionen entgegentretenden Urteils zu konzipieren, verschieben und modifizieren Musikkanäle Sendeplätze. Wie jeder Roman auf einer in schriftlicher Form vorgelegten Aneinanderreihung von Szenen und -- auktorialen oder figuralen -- Reflexionen besteht, wie jeder Film als kleinste Einheit den auf Zelluloid gebannten take aufweist, so besitzt das Phänomen MTV als Keimzelle: mit Hilfe elektronischer Aufnahmeverfahren entstehende Musikclips. Wie der Roman Gebrauch macht vom mnemotechnischen, gleichzeitig eine Redundanz verkörpernden Hilfsmittel der Wiederholung zum Zweck, das Lesergedächtnis zu unterstützen, so wiederholen sich die Clips. Und die Werbeeinlagen. Wobei wir Werbespots nicht als eine dezidiert andere Form als die der Clips selbst ansehen, im Gegenteil: Ihrem Aufbau nach (Dauer, Schnittechnik) ähneln sich Clips und Spots auf verblüffende, möglicherweise beabsichtigte Art und Weise.
Das Phänomen MTV ähnelt also narrativen Erscheinungsformen in formaler Hinsicht mehr als "herkömmliche" Sender -- weil es einen Formenmangel aufweist, keine Formenvielfalt an Sendeformen offeriert, somit Brüche besitzt, sondern sich im Gegenteil monokulturistisch beschränkt auf Clips, wie sich der Roman notwendig zu beschränken hat auf die mehr oder minder extensive, in schriftlicher Weise erfolgende Darlegung von Ereignissen. Zu klären wäre damit zunächst, ob sich diese für den Verlauf dieses Aufsatzes hypothetisch anzunehmende Parallele erweitern läßt auf diejenigen Bereiche, die Erzählformen auch ausmachen, sprich: Vehikel zu sein für Inhalte, Gehalte, für Sinn und Bedeutung, die sich ergeben aus der besonderen Konstellation, der Roman-bzw. Filmstruktur (Teil I). Die Bejahung dieser Frage wirft die Notwendigkeit auf, nach Paradigmen Ausschau zu halten, innerhalb derer sich die Erzählung MTV beschreiben ließe, und die die Konsequenzen aus dem konstatierten Mangel von auch "Bedeutungsfülle" oder präsupponiertem Gehalt ziehen. Zwei derartige Modelle sollen Veranschaulichung finden, die beide auf der Erkenntnis basieren, daß das Phänomen MTV ein eigenständiges, jedoch irreduzibel Anderes repräsentiert, bringt man es mit den geläufigen hermeneutisch informierten Zugehensweisen in Kontakt, und das aufgrund dessen eine besondere Art von Signifikanz im/für den Zuschauer bereitstellt (Teil II).
Zu klären wäre vorab, welches theoretische Instrumentarium wir heranziehen, um es für unsere Zwecke methodisch verfügbar zu machen. Baudrillard sagt: "Es gibt keine Medientheorie", also keine medienübergreifende Vorlage reflektierenden Charakters. Wohl gibt es Literatur- als auch Filmtheorien, und auf Grund der besonderen Art der Fragestellung (die eine hermeneutische ist, eine bedeutungssuchende, die sich auf die Kunst des Interpretierens zu verlassen hat, u.a. weil es keine verbindliche medienspezifische, keine Clipbedeutungstheorie gibt), werden wir auf die entsprechenden Vorgaben aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich sowie auf eine weitere zurückgreifen, die sich entgegen des Diktums Baudrillards dennoch als "Medientheorie" ansehen läßt: der von einem ikonographischen Interesse geleitete, in diesem Sinne historiographisch-typologisierend vorgehende Ansatz Lambert Wiesings. Trotz des unübersehbar höheren Grades an medialer Verwandtschaft verzichten wir mithin auf filmtheoretische Beiträge, etwa den filmsemiotischen Ansatz von Christian Metz(1). Im besonderen konzentrieren wir uns, da sich Bedeutungspotentiale in der Literatur erst im Akt des Rezipierens in Aktualisierungen wandeln und Konkretheit erlangen, auf die entsprechenden lesetheoretischen Vorgaben Wolfgang Isers.
Wir deuteten bereits an, daß das Phänomen MTV solche Zugangsweisen subvertiert: Es kommt zu einer Inversion von "Gegenstand" und Theorie -- ersterer erweist sich als nicht mehr im Rahmen des Ansatzes Isers beschreibbar. Der Grad an Rezipientenpartizipation geht über das hinaus, was Isers Konzept noch zu fassen in der Lage ist. Die Bedeutung des Phänomens MTV besteht darin, eine Erfahrung machen zu können, die an den Grundfesten hermeneutischer Beschreibbarkeit rüttelt (und als hermeneutisch charakterisiert Iser selbst seinen wirkungstheoretischen Ansatz). Die Bedeutung des Phänomens MTV ist es, als emblematisch für die Verabschiedung von einer Kategorie und der mit und an ihr entstandenen Tradition zu stehen: der von Erzählungen. Die Bedeutung des Phänomens MTV ist eine dezidiert nachhermeneutische, oder auch: postmoderne, eine des Verinnerns, eine der rezipientenseitigen Ver-Innerlichung in die "Weite" einer -- gänzlich neuen -- Art von Erzählung. Unsere These: MTV, als diese "Erzählung", nimmt zum einen den Rezipienten in sich, seinen Funktionsmodi auf, die nicht mehr den tradierten entsprechen, dennoch, eben als Phänomen, unbetritten existieren -- zum anderen führt MTV ihn zu sich. MTV repräsentiert auf Grund ihm fehlender Konstitutionsmerkmale herkömmlicher Art (Inhalt und "Bedeutung" als sich aus der inhärent-präparativen, erzählungsimmanenten Strukturierung von "Informationen" ergebendes, "intentionales" Sinnpotential) eine eklatant andere Erzählung, steht somit zugleich für das Ende der konventionellen, wie auch, als solche, exemplarisch ein für eine neue Art einer "großen Erzählung". MTV wird, um Jean François Lyotard aufzurufen und ihn gleichzeitig auf sich selbst anzuwenden, zum Sinnbild jener grand récit der "Postmoderne", in die das Individuum als Rezipient hineinpositioniert, verinnert wird: direkt, unmittelbar, "selbst". In diesem Sinne verstehen wir das Phänomen MTV als kataklysmisch, als herkömmliche Raster der Bedeutungsgenerierung unterminierend und gleichzeitig die daraus resultierende Vakanz annektierend -- MTV führt nicht nur einen Streich aus, sondern symbolisiert in einem auch einen Handstreich.
I. Der Clip, der Spot, die "Moderationen" und die wirkungsästhetische Perspektive
We've got to install microwave ovens,
custom kitchen deliveries
We've got to move these refrigerators,
we've got to move these colour TVs
Dire Straits, Money for Nothing (1985)
Marshall McLuhan differenziert zwischen heißen und kalten Medien -- zwischen Mikrowellenherd und Kühlschrank. Der Film und das Buch gelten ihm als heiße Medien, das Fernsehen hingegen als kaltes Medium. Fragwürdig wie diese Zuschreibung im Zeitalter fortgeschrittener Fernsehtechnologie anmuten mag (der Grad des Auflösevermögens von Fernsehapparaten, v.a. Großleinwandgeräten, kann längst als vergleichbar mit dem des Films angesehen werden), läßt sich diese Differenz dennoch hinsichtlich der Definition dessen, was heiß/kalt meint, aufrechterhalten bzw. in lesetheoretische Axiome übersetzen. Kalte Medien weisen in sich einen hohen Grad an Unbestimmtheit auf, die es durch leserseitiges Komplettieren bzw. Kombinieren zu kompensieren gilt. McLuhan trifft die Leseforschung:
A hot medium is one that extends one single sense in 'high definition'. High definition is the state of being well filled with data. A photograph is, visually, 'high definition'. A cartoon is 'low definition', simply because very little visual information is provided. [...] And speech is a cool medium of low definition, because so little is given and so much has to be filled in by the listener. On the other hand, hot media do not leave so much to be filled in or completed by the audience. Hot media are, therefore, low in participation, and cool media are high in participation or completion by the audience(2).
Isers Begriffsbestimmung von Leerstellen läßt sich hier einpassen. Es handelt sich um textseitig gegebene Unvollständigkeiten, "die als bestimmte Aussparungen Enklaven im Text markieren und sich so der Besetzung durch den Leser anbieten" (3). Iser macht dabei deutlich, daß es sich bei Leerstellen um mehr als bloße "Textlücken" handelt, da sie als auf der relationistischen Ebene von Textkomponenten anzusiedeln sind:
Die Leerstellen sparen die Beziehungen zwischen den Darstellungsperspektiven des Textes aus und ziehen dadurch den Leser zur Koordination der Perspektiven in den Text hinein: sie bewirken die kontrollierte Betätigung des Lesers im Text(4).
Dies kommt auch zum Ausdruck, wenn Iser "Leerstelle" von den Ingardenschen "Unbestimmtheitsstellen" unterscheidet, die grob vereinfacht dem entsprechen, was wir soeben als "Textlücke" benannt haben:
Leerstellen indes bezeichnen weniger eine Bestimmungslücke des intentionalen Gegenstandes bzw. der schematisierten Ansichten als vielmehr die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers. Statt einer Komplettierungsnotwendigkeit zeigen sie eine Kombinationsnotwendigkeit an(5).
Halten wir uns einen Moment länger bei Iser auf und gehen ein auf sein Verständnis dessen, was "Lesen" von "Texten" für ihn bedeutet bzw. worauf es abstellt: auf "die im Lesevorgang erfolgende Konsistenzbildung" (6). Auch wenn Konsistenzbildung anhand der vom Text offerierten Komponenten (wie etwa im von Iser angeführten Beispiel Ulysses von James Joyce) mißlingt, kommt es deswegen nicht zu einem Abrücken vom Primat dieser; an Stelle eines Parameter- oder Paradigmenwechsels wird am "Schema Konsistenzbildung" festgehalten; diese verlagert sich lediglich -- fort von der Text-Leser-Interaktion, hinüber zum ausschließlich dem Rezipienten vorbehaltenen Beitrag: "Wenn der Roman das Zusammenspiel seiner Blickpunkte verweigert, zwingt er den Leser zu einer eigenen Konsistenzbildung" (7). Der Akt der Konsistenzbildung stellt also ab auf das Produzieren dessen, was Eagleton kritisch als "sinnvolles Ganzes" bezeichnet(8) -- damit ist sowohl eine Brücke zu Isers Verpflichtung gegenüber tradiert-hermeneutischen Ansatzweisen geschlagen, als auch eine Grenze seines eigenen Modells aufgezeigt. Es gibt, so die hier zum Vorschein gelangende erste Annahme, immer die Möglichkeit, ein abgeschlossenes Gesamtes aus einem Text herausinterpretieren zu können (dies konvergiert mit den Postulaten der Hermeneutik, der "Kunst der Interpretation"). Und es gibt nichts jenseits der gezogenen Grenze, innerhalb derer sich dieses Gesamte konturiert. Es gibt keine jenseitigen Sinn, keine Bedeutung in jenem Außen festzumachen; es gibt nichts Ent-grenztes, kein Loch, wenn es ohne Rand daherkommt: Ganzes -- oder gar nicht(s). I want my MTV -- as a whole, and not as a hole.
Leerstellen, als Interventionspunkte für die leserseitige Kombinationsleistung zum Zwecke der Herstellung von Konsistenz, ergeben sich aus dem je spezifischen Geflecht von syntaktischen, semantischen und pragmatischen Vorgaben, wie sie der "Text" zu Verfügung stellt(9). Die syntaktische Reihung des Phänomens MTV besteht aus Videoclips, Werbespots und "Moderationen" sowie, im (zeitlich) weitergefaßten Sinne, aus der Programmstruktur entsprechenden "Sendungen". Die "Einheit" der Sendung, den Kapiteln innerhalb von Prosaerzählungen korrelierend, fächert sich auf in "Handlungsteile" (Clips und Spots) sowie diese miteinander verbindende Sequenzen einer "Erzählinstanz". Diese Einheiten lassen sich hinsichtlich ihres semantischen, aber auch ihres pragmatischen Potentials isoliert voneinander betrachten -- Clips werden konsumiert, Spots sollen zu Konsum anregen, "Moderationen" dieses offenkundige ökonomische Bestreben nach Möglichkeit weiter befördern (etwa durch entsprechendes Styling der ModeratorInnen), zumindest aber nicht weiter behindern. Moderationen sind in diesem Sinne keine "Erzählerkommentare" (was eine den reibungslosen syntaktischen Ablauf je nach dem irritierende, weil potentiell die Erzählung als Erzählung thematisierende Komponente implizierte), sie sind "neutral" und besitzen über die bloße Tatsache ihres "Und"-Charakters keinerlei bedeutungsgenerierende Strukturierungsqualität. Sie weisen selbst keine Signifikanzen zu, allenfalls dienen sie als selbst "leeres" temporal-syntaktisches Ordnungsprinzip. Insofern stehen sie ein für den fehlenden "helfende[n] Wink des Autors" -- was entgegen ihrer "Einfachheit" die Erzählung selbst für den Rezipienten höchst kompliziert, weil komplex macht, wie Iser mit Blick auf Ulysses konstatiert:
Die angebotenen Perspektiven stoßen unvermittelt aneinander, überlagern sich, sind segmentiert und beginnen gerade durch ihre Dichte den Blick des Lesers zu überanstrengen. [...] Die Dichte des Darstellungsrasters, die Montage und Interferenz der Perspektiven, das Angebot an den Leser, identische Vorkommnisse aus vielen, einander gänzlich widerstreitenden Blickpunkten zu sehen, macht die Orientierung zu einem Problem. (10)
So evoziert die infinite Aneinanderreihung von Clips und Spots, sodann von Sendung an Sendung, ein Orientierungsbedürfnis, ohne daß dieses von der Moderationskomponente der Erzählung MTV beigesteuert wird. Diese verweigert sich einer derartigen Funktion, negiert eine dementsprechende Erwartung -- und tritt somit letztendlich ihre potentielle semantische Strukturierungsleistung ab an den Rezipienten. Der sieht sich, anders formuliert, dadurch aufgefordert, auf einen Bruch mit ihm geläufigen "Konventionen", auf das von Seiten der Erzählung nicht in Anspruch genommene "Repertoire" zu reagieren(11). Negationen, als Leerstellen, fordern zu eigener hermeneutischer Kombinationstätigkeit heraus; der Rezipient fühlt sich herausgefordert, "das in der Negation Verschwiegene zu entdecken" (12) -- die kritisch gewordene "übliche" Art der Konsistenzbildung. Die hier angedeutete besondere, negative Qualität der Moderationen trägt also dazu bei, die Kombination eines "sinnvollen Ganzen" dem Leser zu überantworten.
Sinn und Bedeutung im hier verstandenen, also dem traditionell hermeneutischen Sinne lassen sich, wenn sie nicht aus den Moderationsbeiträgen ersichtlich werden, möglicherweise aus den anderen Komponenten der Erzählung MTV destillieren, wobei sich Clip und Spot auf Grund der eingangs erwähnten formalen Ähnlichkeit hier parallelsetzen lassen. An dieser Stelle wollen wir die Vorgaben Lambert Wiesings in die Diskussion einbringen, die sich um eine theoretische Fassung des Phänomens "Videoclip" bemühen (13). Wiesing bezweifelt, im Clip noch eine Bedeutungsdimension im traditionellen, etwa semiotischen Sinne ausfindig machen zu können -- er positioniert sich damit gegen eine hermeneutische Erschließbarkeit dieser Komponente unseres Gegenstandes, wie sie Grundlage für den wirkungstheoretischen Zugang Isers war:
Es geht um die Zurschaustellung des Auffassung, daß ein Bild nichts anderes als reine Sichtbarkeit ist; es gibt nichts zu verstehen und dementsprechend wenig Ansatzpunkte für eine Hermeneutik. Der Clip dient der spielerischen Selbstdarstellung des bildlichen Mediums. Wenn es überhaupt eine Bedeutungsdimension des Clips gibt, dann nur die [...] mediale Selbstreflexion (14).
Wiesings Argumentation, daß mit dem Begriff des Zeichens, wie er im semantischen Kontext Objektreferenz, im syntaktischen Bezugnahme zueinander implizierte, zugleich die Möglichkeit verschwindet, einen "Inhalt", gar einen "bedeutenden" Inhalt vorfinden zu können, bezieht sich auf Charles W. Morris' Modell des "formativen Diskurses". Diesen zeichnet aus, daß von einer Verwendung von Zeichen ("Formatoren" oder "Lexikatoren") weitgehend abstrahiert werden kann:
Im formativen Diskurs kann die Bedeutung von Zeichen auch durch den Umgang unwichtig werden. Deshalb muß ein formativer Diskurs nicht allein aus Formatoren bestehen. [...] Im formativen Diskurs wird ein vorhandener Inhalt irrelevant. Ob der Syllogismus mit Begriffen oder inhaltsleeren Variablen geschrieben wird, ist daher unerheblich(15).
Der Clip stellt einen solchen formativen Diskurstyp dar; in ihnen erscheint es "unmöglich, eine schnelle Bildsequenz als die Darstellung eines Inhalts zu betrachten oder in der Weise als ein Zeichen zu lesen, wie man es bei einem erzählenden Film gewohnt ist" -- kurz: "Clips entwickeln keine Geschichte und klären über keinen Sachverhalt auf" (16). Es ist mit anderen Worten die Geschwindigkeit, mit der im Clip Bild auf Bild folgen kann (und folgt), die dazu beiträgt, "eine gegenständliche Interpretation des Bildes auszuschalten" (17). Die Gegenständlichkeit, als das bildliche Äquivalent zum Schriftzeichen in der Literatur hier Voraussetzung allen hermeneutisch-interpretatorischen Zugangs, versinkt im speeding-up der Einstellungssequenzen, ist für das Rezipientenauge nicht mehr wahrnehmbar, denn:
Das Prinzip des Clips ist der Zeitmangel [...]. Man gibt dem Betrachter keine Zeit, das Bild als Abbild zu nehmen. Es gilt vielmehr, gerade soviel Zeit zu gewähren, wie ausreicht, um zu sehen, daß eine inhaltliche Betrachtung möglich wäre, wenn eben die Zeit da wäre(18).
Damit läßt sich der Videoclip als formativer Diskurs begreifen als "der Versuch, die reine Sichtbarkeit von Bildern vor einer inhaltlichen Deutung zu bewahren" (19) -- es handelt sich um eine einzige, riesige Leerstelle. Clips weisen einen hohen Grad an Unbestimmtheit auf, weil sie eine für die Rezipientenwahrnehmung zu hohe Dichte an aufeinanderfolgenden Bildern besitzen, weil sie zu "schnell geschnitten" sind, weil zu rasch das eine Bild auf das andere folgt. Interpretatorische Gewißheit ließe sich nur erlangen, die Voraussetzungen für bedeutungskonstitutive Akte wären nur gegeben mit Hilfe eines "freeze":
Das Stoppen eines Clips erzeugt Bestimmtheit. Aus dem formativen Diskurs der vorbeirauschenden Bildsequenz, aus dem formalen Spiel der reinen Sichtbarkeit wird ein einzelnes Standbild mit Stil und Referenz(20)
-- dies aber ist verunmöglicht durch das autonome, sprich: nicht interaktiv angelegte Wesen der Clips. Das Phänomen MTV ist vom Rezipienten ebensowenig zu manipulieren wie der von seinem Autoren autorisierte Text einer Erzählung.
Clips und Spots negieren somit durch ihren formalen Aufbau, die Geschwindigkeit ihrer Bildabfolge, eine Referenzialisierbarkeit, die ihrerseits unabdingbare Voraussetzung für eine Verortung von Bedeutungspotentialen ist. Sie plazieren sich mit dieser Art der Verweigerung neben die Negierung einer strukturalisierenden, Sinn- bzw. Bedeutungsderivierung ermöglichenden Funktion der "Moderationen". Das Phänomen MTV erweist sich als eine Erzählung, die eine einzige Negation ist. Verstärkt wird dieser Eindruck durch seinen im Gegensatz zu herkömmlich-narrativen Erzählungen aufscheinenden Charakter des Unabgeschlossenen, des Infiniten -- es gibt keine Grenze, keinen Rahmen, der es zumindest erleichtern würde, von einem "Ganzen" (wenn auch nicht von einem "sinnvollen Ganzen") zu sprechen. Die Erzählung MTV ist immer unbeendet, unbeendbar, somit akkumulativ und in stetem Wachstum ihrer Komplexität begriffen. Ganz offenkundig unterscheidet sie sich von konventionelleren Erzählungsrastern, welche sie nicht mehr repräsentiert. Ist sie als Erzählung, wie wir darlegen, Leerstelle oder "Negation", "[s]o verortet die Negation den Leser", wie es Iser zum Ausdruck bringt, in der Tat "zwischen einem 'Nicht Mehr' und einem 'Noch Nicht'" (21). Dieses "Noch Nicht" formuliert Iser aus gutem Grund an keiner Stelle aus -- weil es notwendig seinen eigenen Impetus unterlaufen muß, da es jene von der Hermeneutik implizit selbstgezogene Grenze übersteigt, außerhalb derer es keine Bedeutung festzumachen gibt. Das "sinnvolle Ganze" ist im Erzählungsinneren auszumachen ebenso, wie es innerhalb bestimmter Limitierungen dessen festzumachen ist, die das interpretierende Selbst setzen zu können meint. Das "Ganze" ist, so oder so, in einem "Innerhalb" -- von Text-Leser-Interaktion oder zumindest, "einseitig", innerhalb der leserseitig bestehenden hermeneutischen Präsuppositionen. Oder es ist nicht(s). Was aber, fragen wir uns, wenn dieses "Noch Nicht" aus einem für die Hermeneutik unfaßbaren, unvorhergesehenen, dennoch existenten Außen, einer Bedeutung jenseits dieser selbstgezogenen Grenzen besteht, einem "Loch" innerhalb des hermeneutischen Erwartungshorizontes -- einem Außen, das zu einem Innen wird, noch-nicht-aber-bald-und-zwingend, weil es/und den Interpreten verinnert? Ein "Ganzes", das den Namen nur dann verdienen kann, noch-nicht-aber-bald, wenn es sich bezieht auf den ganz in ihn eingehenden, sich ganz, mit seinem ganzen Selbst in ihm wiederfindenen Rezipienten, und das in all seiner Unendlichkeit und Weite und Größe ebenfalls, so hat es den Anschein, die hier zur Debatte stehende Erzählung MTV ist?
II. Der Thermische Musiksender
A man makes a picture
a moving picture
through light projecting
he can see himself up close.
U2, Lemon (1993)
Wir behaupteten, daß sich hermeneutisch motivierte Rezipienten einen Film fahren -- denjenigen, in dem sie als autonome Interpretationsinstanzen, als "Gegenüber" zu einem "kühlen", deswegen ihre konsistenzausgerichtete Kombinationsnotwendigkeit erfordernden Medium agieren. Wir behaupten nun, daß dieses Selbstverständnis vor dem Hintergrund des Phänomens MTV und den hierüber angestellten Reflexionen einer Selbstverblendung gleichkommt -- an die Stelle von Distanz zum Phänomen kommt es zu einem Erkennen ihrer selbst vermittels bzw. wörtlich in der Form MTV. Die spekulare Großprojektion markiert den Akt des Ankommens im "Noch Nicht".
Der von der hermeneutisch informierten Lesetheorie konturierte Rezipient residiert in einem "Innen", das er als solches nicht wahrnimmt -- für ihn ist es absoluter, exklusiver Modus der Welt-, hier spezifisch: der Texterfassung. Führen wir aus seiner Warte die Insignien des besonderen Textes, der Erzählung MTV, zusammen: Sie war Negation seines interpretatorischen Erwartungsrepertoires insofern, als daß sie sich nicht im Sinne eines "Ganzen" begreifen ließ, sich in keine seinen Vorgaben entsprechende "konsistente" Form fügen ließ. Das Dilemma dieser Situation wird deutlich, rekurriert man auf die implizite Voraussetzung einer solchen leserseitigen Annahme, die insofern unerläßlich ist, als sie den Allgemeingültigkeit (Exklusivität) postulierenden Habitus einer solchen Art des Rezipierens erst legitimiert: sinnvolles "Ganzes" -- oder gar nicht(s). Das Phänomen MTV dagegen ist nicht ein solches "Ganzes" (es ist eben statt dessen: Negation), damit ist es aber längst nicht umkehrschlüssig auch: gar nicht(s). Denn als Phänomen -- ist MTV. Unabhängig von der Frage nach seinem Status als "Ganzes" gilt: MTV ist "nicht" -- und nicht: MTV ist nicht(s).
Dies zeitigt irreversible Rückwirkungen auf das angedeutete Selbstverständnis des prototypisch-hermeneutischen Rezipienten, denn sein Grundaxiom, "Ganzes" -- oder gar nicht(s), ist somit außer Kraft gesetzt. Es gibt, so die hieraus sich ergebende Einsicht, nicht "Nichts" außerhalb der eigenen logischen Wahrnehmungs- und Interpretationsweise -- es gibt statt dessen, "logisch", in der Tat: ein Außen, sozusagen ein nicht-negierbares, "positives" Externes, das dem eigenen Verfahrensmodus als Phänomen, aber auch seinerseits als Modus, nämlich dem seines Außen-Daseins, entgegensteht. Das (An)Erkennen eines oppositional arrangierten Außen und der von hier Ausgang nehmenden Rückwirkungen auf die eigene, "innere" Interpretationsweise, das (An)Erkennen der Tatsache des Innenseins selbst, das (An)Erkennen des nicht mehr vorhandenen interpretatorischen Ausschließlichkeitsanspruchs macht aus, was Iser abstrakt "Noch Nicht" genannt hatte, ohne selbst zu einer Konkretisierung dieses Terminus beitragen zu können. Diese von der Negation MTV ausgelöste Einsicht des Verinnerns, des InnenWerdens im Gegensatz zu einem Außen, das MTV selbst mit seinem dialektischen Diskurs von Hermeneutikrepertoire-Negation auf der einen Seite und Nicht-Nicht(s) auf der anderen darstellt, macht, so unser Zwischenfazit, die Signifikanz des Musiksenders als Erzählung für den Betrachter aus. Daß dies eine gänzlich andere Form von Bedeutung ist als diejenige, die der Betrachterprototyp erwartet haben mag, liegt auf der Hand, und es wäre den Versuch wert, eine theoretische Grundlage zu finden, die in Ersetzung der offensichtlich unzureichenden hermeneutischen diesen Kataklysmus des Begriffes "Bedeutung" adäquater zu fassen vermag(22). Sicherlich fließt eine Erfahrung, genauer: eine Kontrasterfahrung in das mit ein, was nun die Signifikanz ausmacht, die sich aus der Konfrontation von Erzählung MTV und Rezipient ergibt. Reduziert auf eine Seite einer Unterscheidung, d.h. nicht mehr in der Lage, das eigene Vorverständnis und die eigenen hermeneutischen Prämissen als absolut zu betrachten, ist dem seine Lage reflektierenden Rezipient zumindest die Möglichkeit gegeben, sich selbst zu erfahren, als "Innen" bzw. "verinnert", eben anhand des Unterschiedes zu jenem anderen "Außen". Er verspürt sich und seine Präsuppositionen im Kontrast zu dem plötzlich erkannten Kontext, den das "Außen" für ihn repräsentiert(23).
Wir möchten abschließend unter Bezugnahme auf eine zweite Bedeutung des Begriffs "Verinnern" noch auf eine zweite, ebenfalls den hermeneutischen Prämissen außenstehende Art von Signifikanz verweisen. Hierzu ist es erforderlich, nochmals auf jene Phase vor der Ausdifferenzierung entlang der Innen/Außen-Unterscheidung zurückzugreifen. MTV als Negation bzw. als eine einzige, infinite Leerstelle, präsentierte sich im Sinne McLuhans als unterkühlte mediale Form, die einen maximalen Grad rezipientenseitiger Involvierung forderte. Als Erzählung zeichnete das Phänomen MTV das gänzliche Fehlen "eigener" bedeutungsevozierender Komponenten im tradiert-hermeneutischen Sinne aus, was umgekehrt vom Rezipienten eine "high participation", wie McLuhan es nannte, voraussetzte. Mit der Realisierung der grundsätzlichen Unmöglichkeit (oder Unfähigkeit), diesem Anspruch gerecht zu werden und MTV zu einer "Erzählung" im herkömmlichen Sinne zu machen (was interpretativ erlangte Gewißheit ebenso umfassen würde wie das Erlangen eines "Abschlußes", einer "letzten Seite", die jene Erzählung "beendet") geht jedoch zwangsläufig auch das Aufgeben der "hochgradigen Beteiligung" des Rezipienten einher(24). MTV besitzt in diesem Sinne nun nicht mehr den Status einer "kalten" medialen Form -- aus Sicht des Rezipienten beginnt die Erzählung MTV, sich, der McLuhanschen Metaphorik entsprechend, zu erwärmen. MTV als thermische, thermodynamische Erzählung.
Wir wollen an dieser Stelle genau differenzieren. Nicht MTV, die mediale Form, die Erzählung erwärmt sich, sozusagen aus sich heraus -- es ist der Rezipient, in dessen Empfinden sich mit der Einsichtnahme in die Insuffizienz seiner tradiert-bedeutungssuchenden Herangehensweise an diese Erzählung etwas wie "Erwärmung" dieser einstellt. Die kataklysmische Erkenntnis, daß MTV eine in diesem Sinne "unbedeutende", insignifikante, im wortwörtlichen Sinne bedeutungslose, aber letztlich doch eine Erzählung repräsentiert, stellt so etwas wie einen Reiz für den Betrachter dar, sich in seiner Rezipientenhaltung umzustellen auf "low participation" -- er selbst macht somit die Erzählung MTV erst zur "heißen" medialen Form, da die Gegenstrategie, MTV als "kalte" Erzählung zu erachten, nur zu einem negativen Resultat führt.
Wieder ist damit eine Negation im Spiel, diesmal auf Seiten des Rezipienten, ausgelöst durch die Negation, die die Erzählung MTV ist, und zugleich ausgelöst vom Rezipienten selbst -- es handelt sich um eine Sequenz von Negationen, die letztendlich bewirkt, daß zum einen der Status des "Uninterpretierbaren" der Erzählung sowie ihre komplexe, leerstellengesättigte Natur aufrechterhalten bleibt -- sie erscheint nun in diesem Sinne "hochaufgelöst", "well filled with data", wie es McLuhan ausdrückt. Zum anderen, Rückwirkung dieser Feststellung auf den Rezipienten, provoziert sie diesen, eine Haltung "niedriger Beteiligung" einzunehmen. Wir sind uns bewußt, daß ein solches Fazit, zumindest an dieser Stelle, widersprüchlich anmutet, da nun Erzählung wie auch Rezipientenhaltung dem zu entsprechen scheinen, was für leerstellenarme (oder, wie Barthes es formuliert: für "lesbare") Texte gilt -- dem aber im Fall der Erzählung MTV mitnichten so ist. "Low participation" im Sinne einer zerstreuten, kursorischen, "unkonzentrierten" Wahrnehmung, die sich rechtfertigen ließe durch Oberflächlichkeit und eingängige Konsumierbarkeit der Erzählung, mag eine "real(istisch)e" Betrachtereinstellung gegenüber MTV sein -- es würde aber gleichzeitig die hier dargelegten Implikationen, die MTV als mit dem Potential zu Umschwüngen und Kataklysmen in der Rezeptionshaltung versehen betrachten, unberücksichtigt lassen und damit seinerseits oberflächlich erscheinen.
"High definition" der Erzählung MTV impliziert nun vielmehr nicht "einfache Konsumierbarkeit", sondern Dichte bzw. Weite (letztgenannter Terminus sagt uns deswegen mehr zu, weil in ihm auch die zeitliche Dimension mitanklingt, die angesichts des infiniten Charakters der Erzählung von Belang ist). Und "low participation" bedeutet nun nicht "einfaches Konsumieren", sondern vielmehr das unumgängliche Herunterfahren, die Reduzierung der Rezipientenautonomie angesichts der "viel autonomer" erscheinenden, mächtigeren, größeren Weite einer Erzählung. Das rezipierende Selbst nimmt deswegen weniger teil, weil es, als Selbst, nunmehr nur noch "weniger" einbringen kann. Es ist weniger als vor dem Handstreich, den die Erzählung MTV mit seiner freigesetzten bzw. ent-deckten "Außen"-Existenz durch und an ihm verübt hat -- weniger, weil der eigenen maximalen Autorität, die seinem hermeneutischen Selbstverständnis eingangs unterlag, verlustig gegangen ist.
Wir formulierten weiter oben, daß es nunmehr ein "Innen" (des Rezipienten) und ein "Außen" (der Erzählung MTV und der ihr inhärenten, zumindest an sie geknüpften Fuktionsmodi) gibt. Wir formulieren jetzt eine alternative Version des kataklysmischen Hergangs, die uns zu einer ebenfalls alternativen Version der nicht-hermeneutischen "Bedeutung" führt. War es vorhin die Kontrasterfahrung und das damit verbundene Selbstverspüren des Rezipienten, das die "neue" Bedeutung angesichts der Konfrontation mit der Erzählung MTV ausmachte, so ist es nun eine Kollapserfahrung, aus der -- möglicherweise -- eine Selbst-Erfahrung hervorgeht. Oben war es ein Verinnern des rezipierenden Selbst -- hier ist es ein Verinnern des rezipierenden Selbst in die Weite der Erzählung.
Mit der Etablierung eines "Innen-Außen-Verhältnisses" ist es uns gegeben, beide Weisen "von innen" zu betrachten -- also auch diejenige, die zwar aus einer Negation hervorging, aber gleichzeitig nicht Nichts war. Dieses "Innen" ist es nämlich, das das andere, bislang "zentralperspektivisch" verwendete (das also bis hierher nach "innen" und "außen" unterscheidende) "Innen" des sich nun nachhermeneutisch gerierenden Rezipienten in sich verinnert. Es in seine hochaufgelöste Dichte einfügt, und ihm somit anträgt, diese Erkenntnis, Variante # 2 des "Verinnerns", als bedeutend zu erachten. Das "andere Innen", das nicht identisch ist mit der Erzählung MTV und allenfalls als ein bestimmter Effekt dieser gesehen werden darf, läßt das rezipierende Selbst in seiner Größe kollabieren -- einer Größe, die eine "Weitung" des Spektrums ist, und die resultiert aus den inkommensurabel zueinander positionierten Erwartungen an eine Erzählung und dem konkreten Erscheinungsbild der Erzählung MTV selbst. Einer Größe, die eine méta-récit zu den beiden soeben erwähnten Erzählungen darstellt ... oder eben eine grand récit, trotz allem: die große Erzählung der Diskurse, wie sie die Gegenwart führt, sei es auf dem Gebiet der Theorien (Hermeneutik gegen/mit Nachhermeneutik), sei es, wie hier vorgeführt, auf dem MTV-(Bild)Schirm.
Markanterweise enden wir mit zwei möglichen Versionen von "neuer" Bedeutung, die erste je nach dem "positiver" anmutend, die zweite, was das "Schicksal" des bedeutungssuchenden Rezipienten anbelangt, vielleicht weniger "erfreulich" erscheinend, beide jedoch auf ihre je spezifische Weise gekennzeichnet durch das Merkmal des "Verinnerns". Markanterweise vor allem deswegen, weil wir es für einen seinerseits markanten Zug der Neohermeneutik halten, im interpretativen Verfahren nicht mehr auf die Bedeutung (wohl aber weiterhin: auf Bedeutung) abzuzielen. Daß wir der Idee verfallen sind, dies anhand einer ebenfalls "neuen" Form der Nutzung des Mediums Fernsehen aufzuzeigen, war von der Motivation unterlegt, einmal nicht am (wie wir finden problematischen) Beispiel von Hypertexten bzw. Hyperfictions darlegen zu wollen, daß die Inhalte zeitgenössischer Theorieoptionen mit medialen Erscheinungsformen kontaktierbar sind(25).
Anmerkungen

(1) Metz, Christian, "Semiologie des Films". München (Fink)
1972. (back)
(2) McLuhan, Herbert Marshall, Understanding Media: The Extensions of Man. New York, London, Sydney, Toronto: McGraw-Hill, 1965; 22f. (back)
(3) Iser, Wolfgang, Der Akt des Lesens. München: UTB, ³1990; 266. (back)
(4) Iser 1990:267. (back)
(5)  Iser 1990:284. (back)
(6)  Iser 1990:194. (back)
(7)  Iser, Wolfgang, "Die Appellstruktur der Texte", in: Warning, Rainer (Hg.), Rezeptionsästhetik. München: UTB, 1975; 228-52; 246. (back)
(8)  Eagleton, Terry, Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart: Metzler, 1988; 48. (back)
(9)  Isers "pragmatisch" orientierter Ansatz hebt hervor, "daß die Pragmatik als eine Dimension der Zeichenverwendung selbstverständlich nicht von der Syntax - der Beziehung der Zeichen untereinander - und der Semantik - der Beziehung der Zeichen auf Objekte - abstrahieren kann" (1990:89). (back)
(10)  Iser 1975:245. (back)
(11)  Iser stellt die Begriffe "Konvention", "Repertoire" und "Negation" in einen unmittelbaren Zusammenhang: "Im Repertoire präsentieren sich insofern Konventionen, als hier der Text eine ihm vorausliegende Bekanntheit einkapselt. Diese Bekanntheit bezieht sich nicht nur auf vorangegangene Texte, sondern ebenso, wenn nicht sogar in verstärktem Maße, auf soziale und historische Normen, auf den sozio-kulturellen Kontext im weistesten Sinne, aus dem der Text herausgewachsen ist" (1990:115). Eine Chance zur rezipientenseitigen Selbstreflexion ist dann gegeben, "wenn die Geltung der gewählten Normen im Textrepertoire negiert ist. [...] Die Negation erzeugt somit eine dynamische Leerstelle auf der paradigmatischen Achse der Lektüre" (328). (back)
(12)  Iser 1990:328. (back)
(13)  Wiesings Anliegen ist es, die zunehmende Selbstreflexion im Bereich "Bild" zu erörtern, die er mit dem Schlagwort "reine Sichtbarkeit" belegt. In diesem Zusammenhang stellt er u.a. einen Nexus zwischen avantgardistisch-abstrakter Malerei des beginnenden 20. Jahrhunderts, dem Film sowie zeitgenössischen Techniken der Bilderherstellung und -vermittlung (digitale Bilder, Computersimulationen) her. So habe Kasimir Malewitsch den "erste[n] kunstgeschichtlich bekannte[n] Versuch" unternommen, "ein Bild nur um seiner reinen Sichtbarkeit willen zu schaffen" (Wiesing, Lambert, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Reinbek: Rowohlt, 1997; 169) -- ein Phänomen, das Wiesing im Folgenden als gemeinsamen Nenner auch für die erwähnten technologischen Innovationen und deren ästhetische Qualität ausmacht, wobei ein vierstufiges "Typensystem der reinen Sichtbarkeit" erstellt wird: starre reine Sichtbarkeit des Tafeldbildes, sich bewegende reine Sichtbarkeit des Films, manipulierbare reine Sichtbarkeit des digitalen Bildes, interaktive reine Sichtbarkeit der Computersimulation (181). In dieses Arrangement reiht er auch den Videoclip ein, dessen Erscheinungsform dadurch gekennzeichnet ist, daß sie "überhaupt keine andere Möglichkeit mehr zuläßt, als sie einzig wegen ihrer Sichtbarkeit zu betrachten" (172). (back)
(14)  Wiesing 1997:174. (back)
(15)  Wiesing 1997:256. (back)
(16)  Wiesing 1997:258. (back)
(17)  Wiesing 1997:259. (back)
(18)  Wiesing 1997:260f. (back)
(19)  Wiesing 1997:261. (back)
(20)  Wiesing 1997:261. (back)
(21)  Iser 1990:328. (back)
(22)  Es bedarf kaum noch der Erwähnung, bei wem wir im Kontext der Innen/Außen-Dichotomie Anleihen genommen haben. Derrida paraphrasiert nicht nur die tradiert-hermeneutische Verstehensweise, wenn er die strukturalistisch-linguistische Leitunterscheidung in ein "Innen" positioniert und den interpretatorischen Impetus als "These" skizziert ("Innerhalb eines vorgeblich natürlichen Verhältnisses zwischen [...] der Ordnung der lautlichen Signifikanten und dem Inhalt der Signifikate [...] beschäftigt sich diese These ausschließlich mit den notwendigen Verhältnissen zwischen determinierten Signifikanten und Signifikaten" - Derrida, Jacques, Grammatologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1983; 77). Auch die "Entdeckung" des Außen (und damit stets verbunden: des rezipientenseitigen "Innen") hallt in seinen Ausführungen wieder: "Wir möchten jenen Punkt erreichen, der gegenüber der Totalität der logozentrischen Epoche in gewissem Sinne äußerlich ist" (279). (back)
(23)  Interessanterweise stellt Stanley Fish, seines Zeichens ebenfalls Lesetheoretiker und als Opponent Isers im Rahmen der rezeptionsästhetischen Debatte der siebziger Jahre bekannt geworden, den Erfahrungsbegriff als die zentrale Bedeutung des Aktes literarischer Rezeption dar (Fish, Stanley, Is there a Text in this Class? Cambridge: Harvard UP, 1980; 32 und 48). (back)
(24)  Am Rande sei erwähnt, daß das, was McLuhan "high participation" nennt und Iser für den Bereich der Literatur als "hohen Unbestimmtheitsgrad" ausmacht, korrelierbar ist mit Roland Barthes "texte scriptible", dem "schreibbaren Text", den im Unterschied zum "lesbaren" (oder "klassischen") auszeichnet, "eine Galaxie von Signifikanten und nicht Struktur von Signifikaten" zu präsentieren (Barthes, Roland, S/Z. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1987; 10). Charakteristischerweise merkt Barthes an, daß ein solcher Text "niemals eine Ganzheit" ergibt (10). (back)
(25)  Anderthalb Dekaden liegen etwa zwischen dem Erscheinen von Derridas Grammatologie und "Video killed the Radio Star", mit dessen Video MTV 1981 den Sendebetrieb aufnahm. Mit anderem Akzent als demjenigen, der die von uns vorgelegte strukturanalytische Einlassung kennzeichnete, argumentiert Diedrich Diederichsen ("MTV und andere" in: Matejovski, Dirk & Kittler, Friedrich (Hg.), Literatur im Informationszeitalter; Frankfurt, New York: Campus, 1995; 219-36). Diedrichsen zufolge gehören wir jener Minorität an, die das Phänomen MTV als eine Sonderform von postmodernem Text lesen (221); im Gegensatz dazu unterstellt Diedrichsen selbst dem Phänomen durchaus gewisse (Bedeutungs-)Intentionen, die sich jedoch zusehends zugunsten einer tendenziell signifikanzlosen Programmatik aufgelöst zu haben scheinen: "MTV hat sich im Gegensatz zu seinem anfänglichen Konzept als flexibler Schwamm zur Verfügung gestellt, alles aufzunehmen, was auch jeder Beobachter der internationalen Pop-Kultur interessant finden würde oder interessant findet" (233), so daß der Musiksender letztendlich "die Aufgeklärtheit, die MTV erfolgreich eingeplant [hat], damit entwaffnet und an Beavis & Butthead delegiert" (235). (back)