Zunächst möchte ich, nach mehreren Jahren, endlich einmal von einem Ort erzählen,
an dessen realer Existenz ich lange gezweifelt habe. Mir kam es vor, als
habe ich von diesem Ort nur geträumt oder ihn mir sogar ausgedacht, aber
ausgedacht mit dem "ganzen Bewusstsein", mit all seinen "Ressourcen".
Eigentlich ist dieser Ort in seinem reinen Zustand eine "Ressource", ein
Raum der Reserve.
Manchmal versuchte ich, diesen Ort zu zeichnen. In einer der Episoden des Romans "Mythogene
Liebe der Kasten" gerät Dunaev an einen "Ort, der das Glück an und für
sich bedeutet". Das heißt nicht, dass man an diesem Ort glücklich wird,
nein, der Ort selbst ist das "Glück", er ist ein Vertreter dieses
Zustands inmitten anderer Orte, so, wie es wahrscheinlich Orte gibt, die den
Zustand der "Verwirrung" oder der "Ruhe" vertreten. Nun
zum Ort selbst. Es ist ein verwilderter, vom Gras überwucherter Abhang. Dicht
an seinem Rand ist ein pilzförmiges Holzschutzdach und ein alter,
halbverfallener Sandkasten. Unten am Abhang liegt im dichten Gras ein Wagenrumpf
aus den fünfziger Jahren. Diese Zusammenstellung der Dinge, so wie sie im Raum
verteilt waren, hatte etwas beklemmendes, grenzwertiges. Mir war klar, dass
diese Grenze die halluzinogene Grenze zwischen dem Gedächtnis und dem Vergessen
ist. Lange
Zeit trat die Erinnerung an diesen Ort unwillkürlich ein: Sie kam und
verschwand wieder und ließ sich nicht nach meinem Wunsch wiederherstellen. Die
Möglichkeit, diese Erinnerung durch "den reinen Willen zum Entsinnen"
hervorzurufen, entstand erst dann, als es mir gelang, mich zu erinnern, dass der
Weg zu diesem Ort über ein Erbsenfeld führte. Vor
einem Jahr beschrieb ich diesen Ort in einem Gespräch mit meinem Vater, und er
erkannte ihn meiner Beschreibung nach. Diesen Ort gab es wirklich, und ich hatte
ihn als sehr kleines, ungefähr zweijähriges Kind gesehen.
Diese Erinnerung ist nicht deshalb verwunderlich, weil sie sich plötzlich einstellte,
als Folge der Berührung irgendeiner "Saite meiner Seele". Sie ist deshalb erstaunlich, weil sie, wenn sie auftritt, in sich nur
ihren eigenen, emotionalen Inhalt birgt. Das Wort "Glück" passt nicht ganz,
für dieses Gefühl gibt es keine Worte, weil sie nur in dieser einzigen
Erinnerung besteht, weil sie ein Punkt (Sehnsucht) auf der Oberfläche
psychischer Erfahrung ist, eine Sehnsucht, die (wenn man absolut ehrlich ist)
keinen Sinn durch einen Vergleich mit anderen Sehnsüchten (Punkten) bekommen
kann. Sie existiert nur in der Einsamkeit. Und ich schließe nicht aus, dass, möglicherweise,
gemeinsam mit mir, in der Reihe anderer "Bewohner" meiner Seele Jemand lebte,
dessen einziger Grund für seine Existenz darin lag, diesen Ort zu erblicken. In
dem Moment, als der Ort erblickt wurde, verschwand dieser Jemand, und lediglich
eine Spur seiner erfüllten (übrigens ohne besondere Aufschübe und Verzögerungen)
Lebensmission blieb im Gedächtnis anderer Bewohner meiner Seele erhalten, um
von Zeit zu Zeit eine besondere Erstarrung, eine besondere "Haltestelle"
hervorzurufen, deren psychedelische Akustiken – leider oder glücklicherweise
- sich nicht beschreiben lassen. P.S.
Die Problematik ähnlicher mnemonischer Exzesse berührt vor allem energetische
Parameter, geht es doch um eine Kraft, die Kraft der Suggestion. Die Form des
Kuchens Madeleine, eine Muschel, stimmt mit der Muschel auf dem Logo der Firma
"SHELL" überein. Das
Gebäck stellt eine geöffnete Muschel mit einer nackten Frau in ihrem Innern
dar. Die Dehermetisierung, das Öffnen der Muschel, die in Wirklichkeit erst
danach geöffnet werden kann, und die Aufdeckung des Schatzes im Inneren,
inszeniert die Situation der Geburt. Indem man sich ans Vergessene erinnert,
wird man durch diesen Akt neu geboren. Allerdings macht der deutliche süßsaure
Geschmack der Zitronenschale im Biscuitteig
sowie der sanfte, zurückhaltend therapeutische Geschmack des Lindenblütentees
diese zweite Geburt zu einer Variante der Genesung nach einer leichten und nicht
sehr beschwerlichen Krankheit. In diesem Sinne erweist sich ein solches
Abenteuer wie die Erinnerung an das vergessene Haus der Tante Leonija in Combray
oder jene Erinnerung an den Abhang hinter dem Erbsenfeld als eine Art leuchtende
Leere, die jene Beobachter auf jeden Fall enttäuschen wird, die mit einem
dramatischen Charakter solcher Funde rechnen sollten. Hier fehlt völlig jenes
detektivisches Sujet, das in so einem Fall die Psychoanalyse oder deren "Regisseur"
Hitchcock hätten herausfinden müssen. Die psychedelischen Effekte dieser Art
sind nicht übertragbar, sie sind immer nur Kino für einen einzelnen. Und in
dieser ihrer Qualität sind sie eine Verspottung der Kunst. Vermutlich haben
eben gerade dieses pilzförmige Holzschutzdach, der Sandkasten und der
verrostete Wagen aus den Fünfzigern mich persönlich daran gehindert, die Kunst
gebührend erst zu nehmen. Pavel
PepperŠtejn, die Aufnahme erfolgte am 23. Oktober 1997, Köln 13.00 –––––––––––––––––––––––––––––––––––––
"Combray, Combray, Combray, Com-bray" Wahrscheinlich
doch "combre", d.h. "comme" und "(a)mbre". Was haben diese Begriffe
mit einander zu tun? Das Gebäck "Madeleine" ohne Geruch, den "ambre",
trocken, aber ein "Klumpen", "kom", ein Knäuel der Assoziationen, der
zerbissen werden muss, bleibt zerKNüllt. Nur das Wort "Combray" ist im
Bewusstsein anwesend. Noch ein Schluck..., und es bekommt eine Perspektive, am
Horizont schimmern undeutlich ein Glockenturm und ein weißer, sandiger Weg...
Combre, com-bre, com-bre, den Knäuel des Deliriums lässt man lieber in Ruhe,
als einen kleinen essbaren Rest am Rande der Untertasse. Anna Alčuk. Die Aufnahme erfolgte am 21. Februar 1998. Moskau 18.55 –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
1. Die Hauptsache ist doch der "Lindenblütentee". Sowohl im direkten als auch
im übertragenen Sinne. Proust kannte den übertragenen Sinn des Wortes "Lipa" ("Linde" / "Fälschung")
nicht, und auf diesem Nicht-Wissen beruhte der Mechanismus des unwillkürlichen
Erinnerns. Mit anderen Worten ist das entweder "Combray" oder "Fälschung"
("lipa"). Madeleine ruft "Combray" mithilfe vom
Lindenblütetee ohne "Fälschung" ins Gedächtnis. Bei uns war das bislang nicht möglich. 2. "Combray" gibt es nicht – mit "Linde/Fälschung" oder ohne sie, mit
"Madeleine" oder nicht. Es gibt nur die Zeit des Verschlingens von Kuchen
und Tee, die einen narkotischen Effekt hervorruft. Combray ist in diese Zeit genauso eingelötet wie Moskau und jeder andere Ort. 3. Ich bin mit Deleuze einverstanden ("Proust und Zeichen"), dass die Aktion des
"Madeleine" von sensiblen Literaturwissenschaftlern unverantwortlich in
die Höhe getrieben wurden, um das Treffen mit dem wichtigsten Proustschen
"Satori" mit den luftfreien Zeichen der Kunst zu vermeiden. Auch der von ihnen aufgebrühte Lindenblütentee genügt nicht, um die
"Madeleine" zum schmelzen zu bringen. 4. Unter Halluzinogenen gibt es im Unterschied zu Menschen keine Eliten.
Mittlerweile beanspruchen das "Madeleine", die "Schnürsenkel" und die
"Platten eines venezianisches Hofes vor dem Palazzo" eben diesen Rang. Den
bekommen nicht sie, sondern die Zeichen. 5.Wir trinken den Tee, den wir verdient haben. Ich trinke aus einer Tasse mit einer ziemlich geschmacklosen Rose, die einigen
Moskauern prächtig vorkommt. Der Löffel ist aus Stahl, sollte aber aus Silber sein. 6. Wie kann man Russland "madeleinisieren"? 7. In Paris habe ich oft "Madeleine" gegessen, aber dort ist das ein Teil der
Lebensroutine. Meine Wirtin machte ausgezeichneten Lindenblütentee. Geträumt werden musste da von ganz anderen Themen. Unter ihnen war keines von Proust. "Die Suche" ist ein tolles Buch, mit Madeleine oder ohne. 8. Alles existiert während der Zeit des Schreibens, inklusive des Tees und der
"Madeleine". Die Schreibzeit bemächtigte sich Proust just in dem Augenblick, als er vorhatte,
sie ihr zu bemächtigen. (Aber die Leser müssen nichts davon wissen). 9. "Madeleine" kann man nicht aufessen, sie lässt sich lediglich degustieren. 10. Der Tod geht allem voran... und folgt allem. Zum Glück gelang es bislang keinem,
den Tod aufzuschreiben. Der Autor gehört dem Buch nicht; er möchte weiterleben.
Bislang macht er temporäre Scheinsärgchen, er nähert sich dem, was er vor
sich herschiebt. "Madeleine" ist die Festlegung der Tatsache, dass der Autor einige Tage früher sterben wird. Michail Ryklin Die Aufnahme erfolgte am 21. Februar 1998. Moskau 19.25 ––––––––––––––––––––––––––––––––––
Warum ist das ausgerechnet ein Aufguss aus Lindenblüten, und worin liegt die
Besonderheit des Lindenblütengeschmacks? Das Gebäck, eine Art Keks, hat einen
angenehmen Geschmack, aber erinnert mich kaum an etwas. Er steht irgendwie für
sich alleine, obwohl ich weiche Kuchen (oder mindestens einen Eclair) lieber mag, denn ich habe ein Problem mit den Zähnen. Mir gefällt die
Folie, die Verpackung von diesem Madeleine, sie erinnert mich sofort an die
silberne Kugel aus der Aktion der KD "M" sowie an andere Aktionen, bei denen
Folie benutzt wurde. Überhaupt ist das irgendwie ein "Wald, vom weiten
gesehen". Diese Kombination von durchsichtigem, eher herbstlichem Wald, in den
man sich vertiefen und in dem man spazierengehen kann, und überall ist es hell.
Unter den Füßen ist schon gelbliches Gras.
Aber ich möchte nicht die Literatur aufziehen. Ich muss den Rest vom Madeleine
sorgfältig in dieses Stück Folie einwickeln. Welche Form ergibt sich dann?
Eine Form, für die ein Schnürchen oder ein Faden nötig sind, um die Rolle
festzuhalten... Andrej Monastyrskij Die Aufnahme erfolgte am 22. Februar 1998. Moskau, 19.00 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Also, ich empfinde... Was empfinde ich denn? Wie dieser, mit Verlaub zu sagen, Tee
herunterfällt. Ja, nicht herunterfließt noch abläuft, sondern gerade
herunterfällt. Er fällt herunter, als ob er irgendwelche kleine Schnellen
entlang meine Eingeweide überwindet, irgendwelche ovalen kleinen Schnellen,
sagen wir aus Duraleminium. Und der
Kuchen? Es ist komisch, ich habe keine Empfindungen, die direkt mit dem Kuchen
zu tun hätten. Er verblieb irgendwo ganz oben wie ein unaufweichbarer kleiner
Deckel – wie ein verschwundener Deckel verblieb er. Wahrscheinlich gibt es
nichts, was ihn aufweichen und die Trockenheit dieses Kekses in den Organismus
einfügen könnte. Nur spurlos verschwinden, ohne ein Geschmack zu hinterlassen,
konnte er. Diesen Tee, - ach, nein, nicht Tee, was ist das schon für ein Tee! – diese Substanz
spüre ich unverändert. Hier sammelt sie sich wie ein See aus Quecksilber um
das Sonnengeflecht herum, dort beginnt sie zu gerinnen. Oh, ich habe verstanden!
Er gerinnt dort in mir zu einem neuen Madeleine-Gebäck, jetzt spüre ich schon
drinnen sein festes ganzheitliches ovales Körperchen! So verschwand spurlos der
obere Kuchen Madeleine, und das Lindengetränk ging von alleine dazu über, eine
neue Madeleine zu bilden. So verschwand spurlos die obere Trockenheit, und das
heruntergefallene Getränk ging runter, um als neue Trockenheit wieder zu
gerinnen. Und es gab keine Gerüche, weder oben, wo alles spurlos verschwand,
noch unten, wo alles allmählich zu einem neuen ovalen Körperchen gerann, es
gab keine Gerüche, absolut keine. Jurij Lejderman Die Aufnahme erfolgte am 27. Februar 1998. Moskau, 15.15
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