Marquis de Sade verfasste seine berühmten Texte "La Philosophie dans le Boudoir",
"Justine" und "Juliette" in der traumatischsten Epoche der französischen
Geschichte. Er sah die Aufgabe der revolutionären Kunst in der radikalen
Deprivatisierung des menschlichen Körpers, weil, so seine Begründung, der
Körper vom Terror bereits politisch expropriiert worden sei. Die Kunst sollte
seiner Meinung nach diese Geste zur logischen Vollendung bringen. De Sade war
ein radikaler Gegner des Christentums; keines der zehn Gebote schien ihm mit
den republikanischen Tugenden des alten Roms oder späterer Epochen vereinbar zu
sein. "... in der Gesellschaft, deren Grundlage Freiheit und Gleichheit sind,"
schrieb er, "gibt es sehr wenige Handlungen, die man als kriminell bezeichnen
kann" (1). Wenn ihr es wagtet, sagte er zu seinen Landsleuten, den König,
Stellvertreter des Gottes, zu köpfen, was kann Euch dann auf Erden überhaupt
noch zurückhalten? Man müsse aus diesem Mord alle logischen Konsequenzen
ziehen; ein verübtes 'Metaverbrechen', wie die Hinrichtung des Königs, mache
gewöhnliche Verbrechen zu etwas natürlichem und ordinärem, denn dadurch
verschwindet die transzendente Sanktion, die die Grundlage jedes Gesetzes
bildet. Nach dem Mord an Gottes Stellvertreter sind die Menschen verpflichtet,
kein Mitleid mit sich selbst zu haben; nach dem Betreten des Todesreiches
können sie sich nicht mehr so verhalten, als sei nichts geschehen. Gewöhnliche
Kriege werden durch die Revolution aufgehoben, die eine radikale Kriegsform der
Gesellschaft gegen sich selbst darstellt. Die Kunst führt die
gottesstürmerische Geste der Revolution weiter und übertritt den Rahmen der
Dekorativität; sie lässt sich nicht im System der spezialisierten Institute lokalisieren.
Ausgerechnet einen solchen Künstler wie de Sade stellten sich die Menschen vor, die am 18.
Januar 2003 die Ausstellung "Vorsicht, Religion!" in einem Museum am
Andrej-Sachrow-Zentrum zertrümmert haben. Ausgerechnet an ihn und an ähnliche Gottesgegner war ihre wichtigste, unendlich oft
wiederholte und vervielfältigte Frage gerichtet: "Warum hassen Sie gerade die
Orthodoxie und die Orthodoxen so maßlos?" Das Bedürfnis danach, gehasst zu
werden, war bei diesen Menschen so gewaltig, dass Beteuerungen des Gegenteils,
an denen es seitens der Künstler und Menschenrechtler nicht mangelte, sie nicht
nur nicht davon abbringen konnten, sondern eher noch mehr in Rage versetzten. Auf der Ausstellung waren Arbeiten von 39 Künstlern zu sehen, neben Moskauern Künstlern
waren auch Künstler aus den USA, Japan, Bulgarien und Tschechien vertreten.
Sensationelles wurde nach meinem Empfinden nicht gezeigt: Der bekannte, seit
Mitte der siebziger Jahre in New York lebende Soz-Art Künstler Aleksandr
Kosolapov setzte eine Serie fort, in der er mit den Markenzeichen von Coca-Cola
spielte – eine Darstellung Christi auf rotem Hintergrund, darüber die
Aufschrift Coca Cola, darunter "this is my blood", die Gruppe "Sinij Sup"
(Blaue Suppe) dokumentierte eine ältere Aktion, bei der die Grossbuchstaben ROK
(Russisch-Orthodoxe-Kirche) mit bunten Lämpchen dekoriert waren, all dies
schienen mir keine besonders radikalen Aktionen zu sein. Umso größer war mein Erstaunen, als die Ausstellung vier Tage nach der Eröffnung von
sechs Männern verwüstet wurde, die später zu Protokoll gaben, orthodoxe
Gläubige zu sein und in der Mehrheit der Ausstellungsstücke eine Verspottung
ihres Glaubens zu erkennen. Ein Teil der Arbeiten wurde mit roter Sprayfarbe
besprüht, ein anderer von den Wänden gerissen, weitere gänzlich zerstört. Wobei
just die christlichen Symbole Schaden nahmen, wogegen die heidnischen
unbeschädigt blieben. Eine Aufseherin rief die Polizei, die Täter wurden
verhaftet, des Vandalismus angeklagt und gegen Kaution freigelassen. Vor zweihundert Jahren hätte de Sade ihnen ungefähr folgendes geantwortet: "Ja, ich
hasse Euch, aber nicht weil Ihr ein Verbrechen begangen habt. Als
Kleinkriminelle und Hooligans handelt Ihr aus der Perspektive der
Revolutionslogik ganz natürlich. Aber ich hasse Euch für die Motive, mit
denen Ihr Eure Handlungen rechtfertigt. Angeblich habt Ihr sie der Religion,
der Heiligkeit wegen und für Gott vollbracht, wobei all diese Werte ausgerechnet
durch Eure eigene Geste wieder aufgehoben werden. Befreit sie doch
von diesen seltsamen Motivationen und randaliert doch einfach aus dem Recht des
Stärkeren heraus. Und dies, umsomehr, weil so Eure revolutionären atheistischen
Vorgänger vor kurzem genauso handelten». "Ideen-Verbrechen" entstehen im Element des Erhabenen, in der Sphäre des sich selbst verkündenden
Gesetzes, das sich mit einem gewöhnlichen geschriebenen Gesetz nicht
vereinbaren lässt. Sie stellen vor allem eine Demonstration der Kraft dar, doch
beim Fehlen von Widerstand können sie sich mit den Attributen der Heiligkeit,
des Asketen- und Märtyrertums schmücken; ihre Autoren fordern sogar für sich
eine Belohnung. "Die Frau, die ein antisemitisches Plakat abgerissen hatte, hat
der Präsident mir einem Orden ausgezeichnet", schreibt Priester Šergunov, dessen
Messdiener die Ausstellung zertrümmerten. Es wäre logisch, sich vorzustellen,
dass die Menschen, die das Christentum verteidigt haben, das ganze russische
Volk mit seinen jahrhundertealten Werten und Heiligtümern, (von ihm) den
Ehrentitel Helden Russlands empfangen würden (2). Dabei "vergisst" er zu
erwähnen, dass die antisemitischen und anderen rassistischen Plakate vom Gesetz
verboten, die Ausstellungen der zeitgenössischen Kunst hingegen erlaubt sind.
Zudem war das Plakat vermint und die Frau erlitt beim Abriss schwere
Verbrennungen, wohingegen die sechs
Randalierer auf der Ausstellung das Gesetz verletzten, ohne zu Schaden zu
kommen. Diese einfachen Wahrheiten lassen sich jedoch schwerlich den Revolutionären der
Religion vermitteln, die offen gegen die Verfassung und Gesetze des Landes
auftreten, in dem sie leben. Im Angesicht des Antichrists fordern sie für sich
Sonderrechte ein. Priester Šergunov schreibt: "Wir möchten die offensichtliche
Wahrheit, dass die Zeit des Antichrist gekommen ist und wir uns dem Ende
nähern, nicht noch mal wiederholen," (3). Die konventionelle zeitgenössische
Kunst kann dem Großteil der apokalyptisch gesinnten Menschen nur dann
widerstehen, wenn auch die Gesellschaft ein Bedürfnis danach verspüren würde,
wenn sie nicht bloß ein Zusammentreffen einiger mehr oder weniger erfolgreicher
privater Initiativen wäre, die ihr Interesse vorwiegend auf den äußeren Markt
richten. Das
Thema der Ausstellung "Vorsicht, Religion!" stellte sich unerwarteterweise
für die Künstler selbst als bedeutsam heraus; das Zertrümmern der Ausstellung
war nicht Teil ihres künstlerischen Konzeptes oder das der Kuratoren, und der
Status von "Satanisten" wurde ihnen von Außen zugesprochen aufgrund der
leidenschaftlichen, aber völlig willkürlichen Interpretation jener Personen,
die den Pogrom und die Hetze gegen die an der Ausstellung beteiligten Künstler
organisiert hatten. Die "Entweihung der Heiligtümer" existiert nur in der
erhitzten Einbildung jener, die sich keine Zeit genommen hatten, die angeblich "ketzerische"
Ausstellung zu besichtigen. Als
Resultat davon begann sich die Nische der zeitgenössischen Kunst mit
Ikonenstürmern zu füllen, die sich nun als echte Schöpfer empfanden. Selbst die
Klerikalen mussten zugeben, dass die Ausstellung gerade dank der Zertrümmerung
wahrgenommen wurde. Auch
Priester Šergunov gibt eine Art "Konzeptualismus" und die Vernichtung der
zeitgenössischen Kunst (angeblich mit ihren eigenen Mitteln) vor. Er sagt:
"Diese 'Konzeptualisten' erhielten eine adäquate Antwort auf ihre
Ausstellung... Unsere orthodoxen Konzeptualisten kennen sich eben im
Konzeptualismus auch aus. Die sollen sich nicht einbilden, dass wir ungebildet
oder unmodern sind, nichts wissen. Man könnte einen Topf mit Unrat auf den Kopf
jedes Einzelnen von ihnen ausleeren, das wäre unsere konzeptuelle Antwort" (4).
Wir
haben hier den naiven, aber dadurch um so gefährlicheren Versuch, der bloßen
Gewalt einen ästhetischen Status zu verleihen. Die neuen Vandalen beziehen sich
auf Jesus und den Moment, als er die Händler aus dem Tempel jagte. Darin sehen
sie den Prototypus ihrer Aktion. Es bringt nichts, ihnen beweisen zu wollen,
dass das Sacharov-Museum kein Tempel, das postsowjetische Russland nicht Judäa
und ein Kunstwerk, unabhängig von seinem Wert, kein Heiligtum ist, das entweiht
werden kann. Das ist
all jenen klar, die sich für die zeitgenössische Kunst interessieren, d.h.
einer ziemlich kleinen Gruppe. Ihre Gegner, deren Religiosität bislang immer
noch äußerlich und ritualbezogen ist, setzten faktisch auf die Gewalt. Sie zwingen der Gesellschaft ihre Interpretation von Kunstwerken als die einzig
richtige Wahrheit auf, diese wird über unterschiedliche Kanäle verbreitet und
erreicht genau jene Menschen, die von ihren Lebensumständen traumatisiert sind, Menschen, die sich erst vor kurzem
der Kirche zugewandt haben und für die die Sprache der zeitgenössischen Kunst
ein Buch mit sieben Siegeln ist. Was sind einige Dutzend Unterschriften von
Künstlern, Kunstkritikern, Kuratoren und Galeristen vor dem Hintergrund einer
von den Klerikalen entfesselten Hasskampagne? Wenn nicht das Gesetz, sondern
die Gewalt die Entscheidung trifft, wird es keinen Zweifel am Ausgang der
Konfrontation geben. Im August musste das Moskauer Gericht zugeben, dass die Anklage gegen die "Messdiener"
selbst nur durch eine Verletzung der gültigen Gesetzgebung erhoben werden
konnte. Die Gruppe der Unterstützer, die währenddessen vor dem Gericht beteten,
betrug, schenkt man der Presse Glauben, (5) cirka anderthalb Tausend Menschen.
Unter solchen Umständen würde die Unvoreingenommenheit des Gerichts einem
Heldenakt gleichen, der von normalen Menschen schwerlich zu erwarten ist. Im
Endergebnis wurde eine Atmosphäre geschaffen, in der sozialkritische Kunst (und
der Großteil der zeitgenössischen Kunst ist eine solche) unmöglich wird. Von
nun an wird ihr Existenzrecht jedes Mal von den "Künstlern" der Gewalt, wie
sich die Organisatoren und Helfershelfer der Zertrümmerung der Ausstellung
"Vorsicht, Religion!" begriffen haben, hinterfragt werden. Obwohl sie aus der
ganzen Palette der Kunst lediglich die uralte Vorstellung von einer besonderen
Produktivität der Gewalt entlehnt haben, reicht es aus, um Differenzierungen
unterschiedlicher künstlerischen Gewaltimitation unmöglich zu machen, die in
den 90er Jahren für die Moskauer Kunst repräsentativ gewesen waren. Im
vorliegenden Fall wurden der Akt der Zerstörung von Kunstwerken und die sie
begleitenden Interpretationen selbst zu einem Kunstwerk, das jedes andere
konkurrierende Kunstwerk vernichtet. Wenn der Künstler tatsächlich die
Orthodoxie gehasst und bewusst die Aggressivität der Gläubigen hätte
provozieren wollen, wäre ihre brutale Reaktion nun Teil seines Kunstwerkes.
Aber einen solchen Hintergedanken hat es gar nicht gegeben, diese Absicht wurde
den Künstlern post factum von den aggressiven Klerikalen ungeachtet
zahlreicher Proteste von Seiten der Autoren zugeschrieben. Nach dem 18. Januar, nach der Zerstörung der Ausstellung, hat sich die Logik der
Situation verändert. Fünf Jahre zuvor, als Avdej Ter-Oganjan 1998 im Rahmen
seiner Aktion "Der junge Ketzer" tatsächlich Ikonen zerhackt hatte, wurde die
fundamentalistische Interpretation seiner Handlungen erst nachträglich gegeben.
Im Fall der Ausstellung "Vorsicht, Religion!" hingegen fielen Interpretation
und Zerstörung zusammen. Mit anderen Worten, es wurden denjenigen Autoren
gotteslästerliche Absichten zugeschrieben, deren Werke bereits zerstört worden
waren; sie wurden als "überzeugte Satanisten" bezeichnet und ihre eigenen
Interpretationen interessierte niemanden mehr. Auf der Vernissage haben wir
eine Reihe unterschiedlicher Arbeiten zu dem Thema gesehen, und vier Tage
später verwandelte die maniakalisch-depressive Reaktion der Randalierer diese
Arbeiten in eine satanistische Verschwörung, die sich gegen nichts geringeres
als die Vernichtung der "tausendjährigen Geschichte der russischen
Geistlichkeit" richtete. Die künstlerische Gemeinschaft war nicht auf die Möglichkeit einer solchen
Interpretation vorbereitet. Nach dem Zerfall der UdSSR funktioniert sie als
Teil der halboffiziellen Kultur, doch die Zugehörigkeit zu dieser wurde mit der
Opferrolle, die für den sowjetischen Underground so natürlich gewesen war,
unvereinbar. Wenn das Verbrechen unmittelbar zur Kunst wird, ist die Metapher
der Kunst als Verbrechen, die die Künstler der 90er Jahre inspirierte, nicht
mehr nötig. Eigentlich werden ihre Arbeiten von jenen brutal appropriiert, die
für sich die Rolle ihrer Nachfolger und gleichzeitig ihrer Antagonisten
beanspruchen. In diesem neuen Klima wird die Kunst angespornt, dekorativ zu werden, und es wird
ihr ihre sozial-kritische Funktion genommen. Für ein Land, das zeitgenössische
Kunst produziert, ist es wünschenswert (wenn nicht sogar notwendig), an
einigermaßen wichtigen Segmenten des Marktes teilzunehmen; für eine solche
Gesellschaft wäre die Kultivierung der zeitgenössischen Kunst eine ethische und
technische Notwendigkeit. In einer solchen Gesellschaft hat die Kunst die
wichtige Funktion, die Rationalität des Konsumenten auf einem hohen Niveau zu
halten; gleichzeitig bekommt dieser, der Konsument, den deutlichen Eindruck,
dass es doch möglich ist, den Rahmen des Konsums zu verlassen. Institute der
zeitgenössischen Kunst sind hier in Deutschland durch Tausend Fäden mit der
Wirtschaft verbunden und deswegen außerordentlich überlebensfähig. In
Russland ist dies leider nicht so, die zeitgenössische Kunst wird hier von
einem relativ kleinen Kreis von Enthusiasten hergestellt und konsumiert, und
dies macht sie sowohl wirtschaftlich als auch politisch verwundbar. Die
Kunst ist keine konstante Größe, sie entsteht und funktioniert im
Interaktionsfeld unterschiedlicher Kräfte. Und sie kann von ganz unerwarteten
Kandidaten ersetzt werden, unter anderem von denen, die ihr maximal feindlich
gegenüber stehen. In solchen Fällen wird deutlich, dass das
Erneuerungspotenzial sehr niedrig und die zivile Gesellschaft schwach ist. Auf jene Moskauer Künstler, die ihr Talent als Dekorateure entdeckt hatten, werden
die Geschehnisse vom 18. Januar nicht einwirken; sie haben mit der Religion in
der Tat nichts gemein. Dies
gilt um so mehr, weil Schönheit das neue Schlagwort in Moskau ist:
Beauty-Salons, Schönheits-Institute, Studios und sogar Schönheitsakademien
schießen wie Pilze aus dem Boden. All das sind Orte, wo man Gott, Politik,
Krieg und andere tabuisierte Sujets vergessen kann. Die Schönheitsindustrie
gehört zum Dienstleistungssektor, wohingegen das Pathos der zeitgenössischen
Kunst nicht nur darin besteht, vermögende Menschen zu bedienen, sondern den
eigenen Verbraucher zu erschaffen. Ich komme nun zu einigen Schlussfolgerungen. Die Ausstellung wurde von Menschen mit
künstlerischen Ambitionen zerschlagen; diese Ambitionen hätte man ignorieren
können, wenn die Gesellschaft die zeitgenössische Kunst bräuchte, wenn sie sich
in ihr wie in einem Institut zusammenfinden würde. Dann müsste die
künstlerische Öffentlichkeit dieses Institut nicht im Alleingang beschützen. Da
jedoch die Beschäftigung mit und Ausübung von zeitgenössischer Kunst in
Russland private Züge trägt, gab es niemanden außerhalb der künstlerischen
Gemeinschaft, der auf die Aufforderung der Randalierer antworten konnte. Die
Hauptfrage ließe sich vielleicht folgendermaßen stellen: Wenn das, was Oleg
Kulik (der als Hund auftritt), was Aleksandr Brener (mit seiner öffentlichen
Masturbationen), was Avdej Ter-Oganjan (wenn er Ikönchen zerhackt) und Oleg
Mavromatti (der sich hat kreuzigen lassen), wenn all das Kunst ist, und nicht
einfach eine Schmähung oder Vandalismus, wofür wir sie halten, dann setzen wir, wenn wir die Beispiele dieser Kunst
vernichten, einfach nur die destruktive Geste fort. Wir handeln dann wie die
Künstler (wenngleich wir ein anderes Ziel verfolgen). Doch de Sade würde darauf
antworten: Was für eine Bedeutung hat schon ein Ziel in Zeiten starker
kultureller Erschütterung? Nach dem Vorfall auf der Stockholmer Ausstellung "Interpol" beispielsweise (Kulik
biss dort einen schwedischen Kunstwissenschaftler ins Bein und Brener zerstörte
eine Arbeit eines chinesischen Künstlers) verteidigten die Kuratoren die
Künstler: Sie erinnerten daran, dass auch schon Robert Rauschenberg Werke
anderer Künstler zerstört hatte. Warum, fragten sie, ist es Moskauer Künstlern
nicht erlaubt, dies zu tun, wenn es einem amerikanischen Künstler gestattet
war? Nun fragen aber die "klerikalen Bolschewiken" - so hat die Bewegung "Für
Menschenrechte" die Randalierer auf der Ausstellung "Vorsicht, Religion"
treffend bezeichnet - : "Warum handelt es sich um Kunst, wenn Brener die Arbeit
eines anderen Künstlers zerstört, und warum ist es keine Kunst, sondern ein
Vergehen nach Maßgabe des Strafgesetzbuches, wenn jemand diese Geste an einer
Arbeit von Brener, Ter-Oganjan oder Mavromatti wiederholt? Warum ist es Kulik und Brener in einem bestimmten Kontext
erlaubt, dies zu tun, was in einem anderen Kontext LjukŠin und Zjakin, "
unseren orthodoxen Konzeptualisten", nicht erlaubt ist? Um ihre Mitglieder zu schützen, sollte die künstlerische und intellektuelle
Gemeinschaft die Spielregeln für jene Räume formulieren, die nicht der "Raum
Gottes" sind, sondern Orte, in denen weltliche, sozialrelevante Experimente
stattfinden. Tut sie dies nicht, was eigentlich auch nicht schlecht ist, wird
die künstlerische Gemeinschaft mit einer Rolle in einem der Zweige der
Schönheitsindustrie vorlieb nehmen müssen. Mit noch traumatischeren Erfahrungen verbunden ist die Frage nach dem Recht auf
Kunst (sowie dem Recht auf Philosophie oder Literatur usw.) in einem Land, das
einen Krieg führt. Wenn die intellektuelle Gemeinschaft den Machtdiskurs an
diesem neuralgischen Punkt nicht in Zweifel zieht, wird sie sich auch gegenüber
dem militanten Klerikalismus unsicher fühlen, der seine Operationen auf ihrem
Territorium, also auf dem Territorium der Kunst, vollzieht. Die Gewalt löst
dann die sozialkritische Funktion der Kunst ab und beansprucht eine universelle
therapeutische Funktion, das Recht auf Heilung der sich in den Massen
reproduzierenden Traumata. Die Retro-orientierung eines solchen Verhaltens, das
angeblich darauf aus ist, traditionelle Werte zu bewahren, ist ihrem Wesen nach
nicht minder revolutionär (deswegen passt zu diesem retroaktiven Verhalten auch
der Terminus "klerikaler Bolschewismus", d.h. ein revolutionäres Verhalten in
der Sphäre des Geistes). De Sade verstand, dass das menschliche Verhalten in turbulenten Zeiten nicht der
christlichen Moral entspricht, dass sich die Kunst in solchen Perioden nicht in
spezialisierten Instituten lokalisieren lässt und dass die Gesellschaft keine
allgemein anerkannten Werte besitzt, die zu verteidigen sie bereit wäre. Es ist
möglich, dass die Sprache der zeitgenössischen Kunst viel zu speziell für die
neue Situation ist. Auf jeden Fall war die künstlerische Gemeinschaft, als sie
mit der Aggression konfrontiert wurde, die gegen eine ziemlich zufällige
Sammlung von Werken gerichtet war, nicht darauf vorbereitet, eine genauso
starke Interpretation dieser Interpretation zu geben. Es entstand vielmehr der
Eindruck, dass sie mit der Religion auf etwas unerwartet explosives traf und...
instinktiv die Hand zurückzog.
Moskau, September 2003
(aus dem Russischen von Elena Nowak und Sylvia Sasse)
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