Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Kunst & Verbrechen
Das Museum als "Gottes Raum"
Michail Ryklin
Marquis de Sade verfasste seine berühmten Texte "La Philosophie dans le Boudoir", "Justine" und "Juliette" in der traumatischsten Epoche der französischen Geschichte. Er sah die Aufgabe der revolutionären Kunst in der radikalen Deprivatisierung des menschlichen Körpers, weil, so seine Begründung, der Körper vom Terror bereits politisch expropriiert worden sei. Die Kunst sollte seiner Meinung nach diese Geste zur logischen Vollendung bringen. De Sade war ein radikaler Gegner des Christentums; keines der zehn Gebote schien ihm mit den republikanischen Tugenden des alten Roms oder späterer Epochen vereinbar zu sein. "... in der Gesellschaft, deren Grundlage Freiheit und Gleichheit sind," schrieb er, "gibt es sehr wenige Handlungen, die man als kriminell bezeichnen kann" (1). Wenn ihr es wagtet, sagte er zu seinen Landsleuten, den König, Stellvertreter des Gottes, zu köpfen, was kann Euch dann auf Erden überhaupt noch zurückhalten? Man müsse aus diesem Mord alle logischen Konsequenzen ziehen; ein verübtes 'Metaverbrechen', wie die Hinrichtung des Königs, mache gewöhnliche Verbrechen zu etwas natürlichem und ordinärem, denn dadurch verschwindet die transzendente Sanktion, die die Grundlage jedes Gesetzes bildet. Nach dem Mord an Gottes Stellvertreter sind die Menschen verpflichtet, kein Mitleid mit sich selbst zu haben; nach dem Betreten des Todesreiches können sie sich nicht mehr so verhalten, als sei nichts geschehen. Gewöhnliche Kriege werden durch die Revolution aufgehoben, die eine radikale Kriegsform der Gesellschaft gegen sich selbst darstellt. Die Kunst führt die gottesstürmerische Geste der Revolution weiter und übertritt den Rahmen der Dekorativität; sie lässt sich nicht im System der spezialisierten Institute lokalisieren.
Ausgerechnet einen solchen Künstler wie de Sade stellten sich die Menschen vor, die am 18. Januar 2003 die Ausstellung "Vorsicht, Religion!" in einem Museum am Andrej-Sachrow-Zentrum zertrümmert haben.
Ausgerechnet an ihn und an ähnliche Gottesgegner war ihre wichtigste, unendlich oft wiederholte und vervielfältigte Frage gerichtet: "Warum hassen Sie gerade die Orthodoxie und die Orthodoxen so maßlos?" Das Bedürfnis danach, gehasst zu werden, war bei diesen Menschen so gewaltig, dass Beteuerungen des Gegenteils, an denen es seitens der Künstler und Menschenrechtler nicht mangelte, sie nicht nur nicht davon abbringen konnten, sondern eher noch mehr in Rage versetzten.
Auf der Ausstellung waren Arbeiten von 39 Künstlern zu sehen, neben Moskauern Künstlern waren auch Künstler aus den USA, Japan, Bulgarien und Tschechien vertreten. Sensationelles wurde nach meinem Empfinden nicht gezeigt: Der bekannte, seit Mitte der siebziger Jahre in New York lebende Soz-Art Künstler Aleksandr Kosolapov setzte eine Serie fort, in der er mit den Markenzeichen von Coca-Cola spielte – eine Darstellung Christi auf rotem Hintergrund, darüber die Aufschrift Coca Cola, darunter "this is my blood", die Gruppe "Sinij Sup" (Blaue Suppe) dokumentierte eine ältere Aktion, bei der die Grossbuchstaben ROK (Russisch-Orthodoxe-Kirche) mit bunten Lämpchen dekoriert waren, all dies schienen mir keine besonders radikalen Aktionen zu sein.
Umso größer war mein Erstaunen, als die Ausstellung vier Tage nach der Eröffnung von sechs Männern verwüstet wurde, die später zu Protokoll gaben, orthodoxe Gläubige zu sein und in der Mehrheit der Ausstellungsstücke eine Verspottung ihres Glaubens zu erkennen. Ein Teil der Arbeiten wurde mit roter Sprayfarbe besprüht, ein anderer von den Wänden gerissen, weitere gänzlich zerstört. Wobei just die christlichen Symbole Schaden nahmen, wogegen die heidnischen unbeschädigt blieben. Eine Aufseherin rief die Polizei, die Täter wurden verhaftet, des Vandalismus angeklagt und gegen Kaution freigelassen.
Vor zweihundert Jahren hätte de Sade ihnen ungefähr folgendes geantwortet: "Ja, ich hasse Euch, aber nicht weil Ihr ein Verbrechen begangen habt. Als Kleinkriminelle und Hooligans handelt Ihr aus der Perspektive der Revolutionslogik ganz natürlich. Aber ich hasse Euch für die Motive, mit denen Ihr Eure Handlungen rechtfertigt. Angeblich habt Ihr sie der Religion, der Heiligkeit wegen und für Gott vollbracht, wobei all diese Werte ausgerechnet durch Eure eigene Geste wieder aufgehoben werden. Befreit sie doch von diesen seltsamen Motivationen und randaliert doch einfach aus dem Recht des Stärkeren heraus. Und dies, umsomehr, weil so Eure revolutionären atheistischen Vorgänger vor kurzem genauso handelten».
"Ideen-Verbrechen" entstehen im Element des Erhabenen, in der Sphäre des sich selbst verkündenden Gesetzes, das sich mit einem gewöhnlichen geschriebenen Gesetz nicht vereinbaren lässt. Sie stellen vor allem eine Demonstration der Kraft dar, doch beim Fehlen von Widerstand können sie sich mit den Attributen der Heiligkeit, des Asketen- und Märtyrertums schmücken; ihre Autoren fordern sogar für sich eine Belohnung. "Die Frau, die ein antisemitisches Plakat abgerissen hatte, hat der Präsident mir einem Orden ausgezeichnet", schreibt Priester Šergunov, dessen Messdiener die Ausstellung zertrümmerten. Es wäre logisch, sich vorzustellen, dass die Menschen, die das Christentum verteidigt haben, das ganze russische Volk mit seinen jahrhundertealten Werten und Heiligtümern, (von ihm) den Ehrentitel Helden Russlands empfangen würden (2). Dabei "vergisst" er zu erwähnen, dass die antisemitischen und anderen rassistischen Plakate vom Gesetz verboten, die Ausstellungen der zeitgenössischen Kunst hingegen erlaubt sind. Zudem war das Plakat vermint und die Frau erlitt beim Abriss schwere Verbrennungen, wohingegen die sechs Randalierer auf der Ausstellung das Gesetz verletzten, ohne zu Schaden zu kommen.
Diese einfachen Wahrheiten lassen sich jedoch schwerlich den Revolutionären der Religion vermitteln, die offen gegen die Verfassung und Gesetze des Landes auftreten, in dem sie leben. Im Angesicht des Antichrists fordern sie für sich Sonderrechte ein. Priester Šergunov schreibt: "Wir möchten die offensichtliche Wahrheit, dass die Zeit des Antichrist gekommen ist und wir uns dem Ende nähern, nicht noch mal wiederholen," (3). Die konventionelle zeitgenössische Kunst kann dem Großteil der apokalyptisch gesinnten Menschen nur dann widerstehen, wenn auch die Gesellschaft ein Bedürfnis danach verspüren würde, wenn sie nicht bloß ein Zusammentreffen einiger mehr oder weniger erfolgreicher privater Initiativen wäre, die ihr Interesse vorwiegend auf den äußeren Markt richten.
Das Thema der Ausstellung "Vorsicht, Religion!" stellte sich unerwarteterweise für die Künstler selbst als bedeutsam heraus; das Zertrümmern der Ausstellung war nicht Teil ihres künstlerischen Konzeptes oder das der Kuratoren, und der Status von "Satanisten" wurde ihnen von Außen zugesprochen aufgrund der leidenschaftlichen, aber völlig willkürlichen Interpretation jener Personen, die den Pogrom und die Hetze gegen die an der Ausstellung beteiligten Künstler organisiert hatten. Die "Entweihung der Heiligtümer" existiert nur in der erhitzten Einbildung jener, die sich keine Zeit genommen hatten, die angeblich "ketzerische" Ausstellung zu besichtigen.
Als Resultat davon begann sich die Nische der zeitgenössischen Kunst mit Ikonenstürmern zu füllen, die sich nun als echte Schöpfer empfanden. Selbst die Klerikalen mussten zugeben, dass die Ausstellung gerade dank der Zertrümmerung wahrgenommen wurde.
Auch Priester Šergunov gibt eine Art "Konzeptualismus" und die Vernichtung der zeitgenössischen Kunst (angeblich mit ihren eigenen Mitteln) vor. Er sagt: "Diese 'Konzeptualisten' erhielten eine adäquate Antwort auf ihre Ausstellung... Unsere orthodoxen Konzeptualisten kennen sich eben im Konzeptualismus auch aus. Die sollen sich nicht einbilden, dass wir ungebildet oder unmodern sind, nichts wissen. Man könnte einen Topf mit Unrat auf den Kopf jedes Einzelnen von ihnen ausleeren, das wäre unsere konzeptuelle Antwort" (4).
Wir haben hier den naiven, aber dadurch um so gefährlicheren Versuch, der bloßen Gewalt einen ästhetischen Status zu verleihen. Die neuen Vandalen beziehen sich auf Jesus und den Moment, als er die Händler aus dem Tempel jagte. Darin sehen sie den Prototypus ihrer Aktion. Es bringt nichts, ihnen beweisen zu wollen, dass das Sacharov-Museum kein Tempel, das postsowjetische Russland nicht Judäa und ein Kunstwerk, unabhängig von seinem Wert, kein Heiligtum ist, das entweiht werden kann.
Das ist all jenen klar, die sich für die zeitgenössische Kunst interessieren, d.h. einer ziemlich kleinen Gruppe. Ihre Gegner, deren Religiosität bislang immer noch äußerlich und ritualbezogen ist, setzten faktisch auf die Gewalt.
Sie zwingen der Gesellschaft ihre Interpretation von Kunstwerken als die einzig richtige Wahrheit auf, diese wird über unterschiedliche Kanäle verbreitet und erreicht genau jene Menschen, die von ihren Lebensumständen traumatisiert sind, Menschen, die sich erst vor kurzem der Kirche zugewandt haben und für die die Sprache der zeitgenössischen Kunst ein Buch mit sieben Siegeln ist. Was sind einige Dutzend Unterschriften von Künstlern, Kunstkritikern, Kuratoren und Galeristen vor dem Hintergrund einer von den Klerikalen entfesselten Hasskampagne? Wenn nicht das Gesetz, sondern die Gewalt die Entscheidung trifft, wird es keinen Zweifel am Ausgang der Konfrontation geben.
Im August musste das Moskauer Gericht zugeben, dass die Anklage gegen die "Messdiener" selbst nur durch eine Verletzung der gültigen Gesetzgebung erhoben werden konnte. Die Gruppe der Unterstützer, die währenddessen vor dem Gericht beteten, betrug, schenkt man der Presse Glauben, (5) cirka anderthalb Tausend Menschen. Unter solchen Umständen würde die Unvoreingenommenheit des Gerichts einem Heldenakt gleichen, der von normalen Menschen schwerlich zu erwarten ist. Im Endergebnis wurde eine Atmosphäre geschaffen, in der sozialkritische Kunst (und der Großteil der zeitgenössischen Kunst ist eine solche) unmöglich wird. Von nun an wird ihr Existenzrecht jedes Mal von den "Künstlern" der Gewalt, wie sich die Organisatoren und Helfershelfer der Zertrümmerung der Ausstellung "Vorsicht, Religion!" begriffen haben, hinterfragt werden. Obwohl sie aus der ganzen Palette der Kunst lediglich die uralte Vorstellung von einer besonderen Produktivität der Gewalt entlehnt haben, reicht es aus, um Differenzierungen unterschiedlicher künstlerischen Gewaltimitation unmöglich zu machen, die in den 90er Jahren für die Moskauer Kunst repräsentativ gewesen waren. Im vorliegenden Fall wurden der Akt der Zerstörung von Kunstwerken und die sie begleitenden Interpretationen selbst zu einem Kunstwerk, das jedes andere konkurrierende Kunstwerk vernichtet. Wenn der Künstler tatsächlich die Orthodoxie gehasst und bewusst die Aggressivität der Gläubigen hätte provozieren wollen, wäre ihre brutale Reaktion nun Teil seines Kunstwerkes. Aber einen solchen Hintergedanken hat es gar nicht gegeben, diese Absicht wurde den Künstlern post factum von den aggressiven Klerikalen ungeachtet zahlreicher Proteste von Seiten der Autoren zugeschrieben.
Nach dem 18. Januar, nach der Zerstörung der Ausstellung, hat sich die Logik der Situation verändert. Fünf Jahre zuvor, als Avdej Ter-Oganjan 1998 im Rahmen seiner Aktion "Der junge Ketzer" tatsächlich Ikonen zerhackt hatte, wurde die fundamentalistische Interpretation seiner Handlungen erst nachträglich gegeben. Im Fall der Ausstellung "Vorsicht, Religion!" hingegen fielen Interpretation und Zerstörung zusammen. Mit anderen Worten, es wurden denjenigen Autoren gotteslästerliche Absichten zugeschrieben, deren Werke bereits zerstört worden waren; sie wurden als "überzeugte Satanisten" bezeichnet und ihre eigenen Interpretationen interessierte niemanden mehr. Auf der Vernissage haben wir eine Reihe unterschiedlicher Arbeiten zu dem Thema gesehen, und vier Tage später verwandelte die maniakalisch-depressive Reaktion der Randalierer diese Arbeiten in eine satanistische Verschwörung, die sich gegen nichts geringeres als die Vernichtung der "tausendjährigen Geschichte der russischen Geistlichkeit" richtete.
Die künstlerische Gemeinschaft war nicht auf die Möglichkeit einer solchen Interpretation vorbereitet. Nach dem Zerfall der UdSSR funktioniert sie als Teil der halboffiziellen Kultur, doch die Zugehörigkeit zu dieser wurde mit der Opferrolle, die für den sowjetischen Underground so natürlich gewesen war, unvereinbar. Wenn das Verbrechen unmittelbar zur Kunst wird, ist die Metapher der Kunst als Verbrechen, die die Künstler der 90er Jahre inspirierte, nicht mehr nötig. Eigentlich werden ihre Arbeiten von jenen brutal appropriiert, die für sich die Rolle ihrer Nachfolger und gleichzeitig ihrer Antagonisten beanspruchen.
In diesem neuen Klima wird die Kunst angespornt, dekorativ zu werden, und es wird ihr ihre sozial-kritische Funktion genommen. Für ein Land, das zeitgenössische Kunst produziert, ist es wünschenswert (wenn nicht sogar notwendig), an einigermaßen wichtigen Segmenten des Marktes teilzunehmen; für eine solche Gesellschaft wäre die Kultivierung der zeitgenössischen Kunst eine ethische und technische Notwendigkeit. In einer solchen Gesellschaft hat die Kunst die wichtige Funktion, die Rationalität des Konsumenten auf einem hohen Niveau zu halten; gleichzeitig bekommt dieser, der Konsument, den deutlichen Eindruck, dass es doch möglich ist, den Rahmen des Konsums zu verlassen. Institute der zeitgenössischen Kunst sind hier in Deutschland durch Tausend Fäden mit der Wirtschaft verbunden und deswegen außerordentlich überlebensfähig.
In Russland ist dies leider nicht so, die zeitgenössische Kunst wird hier von einem relativ kleinen Kreis von Enthusiasten hergestellt und konsumiert, und dies macht sie sowohl wirtschaftlich als auch politisch verwundbar.
Die Kunst ist keine konstante Größe, sie entsteht und funktioniert im Interaktionsfeld unterschiedlicher Kräfte. Und sie kann von ganz unerwarteten Kandidaten ersetzt werden, unter anderem von denen, die ihr maximal feindlich gegenüber stehen. In solchen Fällen wird deutlich, dass das Erneuerungspotenzial sehr niedrig und die zivile Gesellschaft schwach ist.
Auf jene Moskauer Künstler, die ihr Talent als Dekorateure entdeckt hatten, werden die Geschehnisse vom 18. Januar nicht einwirken; sie haben mit der Religion in der Tat nichts gemein.
Dies gilt um so mehr, weil Schönheit das neue Schlagwort in Moskau ist: Beauty-Salons, Schönheits-Institute, Studios und sogar Schönheitsakademien schießen wie Pilze aus dem Boden. All das sind Orte, wo man Gott, Politik, Krieg und andere tabuisierte Sujets vergessen kann. Die Schönheitsindustrie gehört zum Dienstleistungssektor, wohingegen das Pathos der zeitgenössischen Kunst nicht nur darin besteht, vermögende Menschen zu bedienen, sondern den eigenen Verbraucher zu erschaffen.
Ich komme nun zu einigen Schlussfolgerungen. Die Ausstellung wurde von Menschen mit künstlerischen Ambitionen zerschlagen; diese Ambitionen hätte man ignorieren können, wenn die Gesellschaft die zeitgenössische Kunst bräuchte, wenn sie sich in ihr wie in einem Institut zusammenfinden würde. Dann müsste die künstlerische Öffentlichkeit dieses Institut nicht im Alleingang beschützen. Da jedoch die Beschäftigung mit und Ausübung von zeitgenössischer Kunst in Russland private Züge trägt, gab es niemanden außerhalb der künstlerischen Gemeinschaft, der auf die Aufforderung der Randalierer antworten konnte. Die Hauptfrage ließe sich vielleicht folgendermaßen stellen: Wenn das, was Oleg Kulik (der als Hund auftritt), was Aleksandr Brener (mit seiner öffentlichen Masturbationen), was Avdej Ter-Oganjan (wenn er Ikönchen zerhackt) und Oleg Mavromatti (der sich hat kreuzigen lassen), wenn all das Kunst ist, und nicht einfach eine Schmähung oder Vandalismus, wofür wir sie halten, dann setzen wir, wenn wir die Beispiele dieser Kunst vernichten, einfach nur die destruktive Geste fort. Wir handeln dann wie die Künstler (wenngleich wir ein anderes Ziel verfolgen). Doch de Sade würde darauf antworten: Was für eine Bedeutung hat schon ein Ziel in Zeiten starker kultureller Erschütterung?
Nach dem Vorfall auf der Stockholmer Ausstellung "Interpol" beispielsweise (Kulik biss dort einen schwedischen Kunstwissenschaftler ins Bein und Brener zerstörte eine Arbeit eines chinesischen Künstlers) verteidigten die Kuratoren die Künstler: Sie erinnerten daran, dass auch schon Robert Rauschenberg Werke anderer Künstler zerstört hatte. Warum, fragten sie, ist es Moskauer Künstlern nicht erlaubt, dies zu tun, wenn es einem amerikanischen Künstler gestattet war?
Nun fragen aber die "klerikalen Bolschewiken" - so hat die Bewegung "Für Menschenrechte" die Randalierer auf der Ausstellung "Vorsicht, Religion" treffend bezeichnet - : "Warum handelt es sich um Kunst, wenn Brener die Arbeit eines anderen Künstlers zerstört, und warum ist es keine Kunst, sondern ein Vergehen nach Maßgabe des Strafgesetzbuches, wenn jemand diese Geste an einer Arbeit von Brener, Ter-Oganjan oder Mavromatti wiederholt? Warum ist es Kulik und Brener in einem bestimmten Kontext erlaubt, dies zu tun, was in einem anderen Kontext LjukŠin und Zjakin, " unseren orthodoxen Konzeptualisten", nicht erlaubt ist?
Um ihre Mitglieder zu schützen, sollte die künstlerische und intellektuelle Gemeinschaft die Spielregeln für jene Räume formulieren, die nicht der "Raum Gottes" sind, sondern Orte, in denen weltliche, sozialrelevante Experimente stattfinden. Tut sie dies nicht, was eigentlich auch nicht schlecht ist, wird die künstlerische Gemeinschaft mit einer Rolle in einem der Zweige der Schönheitsindustrie vorlieb nehmen müssen.
Mit noch traumatischeren Erfahrungen verbunden ist die Frage nach dem Recht auf Kunst (sowie dem Recht auf Philosophie oder Literatur usw.) in einem Land, das einen Krieg führt. Wenn die intellektuelle Gemeinschaft den Machtdiskurs an diesem neuralgischen Punkt nicht in Zweifel zieht, wird sie sich auch gegenüber dem militanten Klerikalismus unsicher fühlen, der seine Operationen auf ihrem Territorium, also auf dem Territorium der Kunst, vollzieht. Die Gewalt löst dann die sozialkritische Funktion der Kunst ab und beansprucht eine universelle therapeutische Funktion, das Recht auf Heilung der sich in den Massen reproduzierenden Traumata. Die Retro-orientierung eines solchen Verhaltens, das angeblich darauf aus ist, traditionelle Werte zu bewahren, ist ihrem Wesen nach nicht minder revolutionär (deswegen passt zu diesem retroaktiven Verhalten auch der Terminus "klerikaler Bolschewismus", d.h. ein revolutionäres Verhalten in der Sphäre des Geistes).
De Sade verstand, dass das menschliche Verhalten in turbulenten Zeiten nicht der christlichen Moral entspricht, dass sich die Kunst in solchen Perioden nicht in spezialisierten Instituten lokalisieren lässt und dass die Gesellschaft keine allgemein anerkannten Werte besitzt, die zu verteidigen sie bereit wäre. Es ist möglich, dass die Sprache der zeitgenössischen Kunst viel zu speziell für die neue Situation ist. Auf jeden Fall war die künstlerische Gemeinschaft, als sie mit der Aggression konfrontiert wurde, die gegen eine ziemlich zufällige Sammlung von Werken gerichtet war, nicht darauf vorbereitet, eine genauso starke Interpretation dieser Interpretation zu geben. Es entstand vielmehr der Eindruck, dass sie mit der Religion auf etwas unerwartet explosives traf und... instinktiv die Hand zurückzog.

Moskau, September 2003

(aus dem Russischen von Elena Nowak und Sylvia Sasse)

Anmerkungen

(1) Marquis de Sade. La Philosophie dans le Boudoir, Paris, Gallimard, 1976, p. 204.
(2) «Russkij dom», 2003, Nr 3, S. 12.
(3) Ebenda, S. 11.
(4) Ebenda, S. 12.
(5) Zum Beispiel "Komsomol'skaja pravda" vom 12. August 2003, S. 4