 Ich klaue manchmal Bücher im Laden. Erstaunlicherweise habe ich keine
Gewissensbisse dabei. Ich fühle mich leicht unheimlich und belustigt
zugleich. Aber noch kein einziges Mal hatte ich ein schlechtes Gewissen
wegen der begangenen 'schlechten Tat'. Ich wurde noch nie geschnappt,
obwohl ich an der Front des Buchdiebstahls sehr aktiv bin. Das spricht
jedoch nicht von meiner Meisterschaft, sondern von der Verkäufer, ihre
Ware vor Diebstahl zu schützen. Ich begann, Bücher zu stehlen, als die Preise in Folge der verdammten Finanzkrise ins Unermeßliche
stiegen. Obgleich die Verkäufer behaupten, dass die Anzahl der Diebstähle
nicht gestiegen sei. Am Anfang gab ich mir Mühe, fair zu sein, gewissen
Konventionen und Regeln zu beachten: ich kaufte ein Buch, stahl zwei, drei
und senkte damit nur die überhöhten Buchpreise. Dazu hatte ich noch
Mitleid mit den Verkäufern, weil ich glaubte, dass ihnen der gestohlene
Wert vom Gehalt abgezogen würde. Als ich später begann, meine Diebstähle
als eine Art Kulturpraktik zu begreifen, gingen diese
Diebstahlskonventionen vollends in den Bereich der Ästhetik über. So im
Stil von Micky und Melory Nox - alle ermorden ausser einem, der bevor er
zusammenbricht noch ausrufen kann: "Das waren Micky und Melory
!" Zu jener Zeit trugen meine Freunde schon ohne schlechtes Gewissen
ganze Bücherberge aus den Geschäften getragen. Bücher klauen ist ganz leicht. Viele Leute stehlen und zwar sehr viel. Für die
Geschäfte ist das kein Problem, sondern wird als eine natürliche
Tatsache behandelt. Ein Käufer, der freien Zugang zu den Büchern hat,
wird sicher einige mitgehen lassen. Vom Lohn der Verkäufer wird nichts
abgezogen, sondern bei der Gewinnabrechnung wird ein gewisser Koeffizient
berücksichtigt: das sind circa 300 Rubel in der Woche. Also, man geht ins Geschäft und fragt den Verkäufer irgendetwas. Fragen oder
intellektuelle Gespräche mit dem Freund lenken die Aufmerksamkeit ab.  "Haben Sie den 'Eindimensionalen Menschen' von Marcuse ?" -
dieses Buch ist seit Jahren nirgendwo mehr zu haben. Nach
der verneinenden Antwort greift man mit besorgtem Gesicht, leicht verwirrt
und ohne lange zu wählen mit den Worten "Na gut, dann nehme ich eben
das..." nach irgendeinen billigen Kram, kauft ihn und schlendert mit
diesem in den Händen weiter durchs Geschäft, ohne dabei zu versäumen
die für einen selbst wichtigen Veröffentlichungen zu stehlen. Diebstahl in der Buchhandlung ist eines der banalsten und weitverbreitetsten Delikte.
Aber für den traditionellen Intellektuellen gerade eine der schlimmsten
Schandtaten. Der Intellektuelle, der erlesene Bücherkenner, der die Schönheit
des Wortes schätzt, kann sich nicht vorstellen, dass Bücher gestohlen
werden könnten. Die Mitarbeiter des Buchladens unterstützen diesen
Mythos von ganzem Herzen: Plakate mit dem Text 'Diebstahl wird gesetzlich
verfolgt' im Laden aufzuhängen hindert sie aber die feine Mentalität des
russischen Intellektuellen, der von einem solchen Verdacht instantan
beleidigt wäre. Der gleiche Intellektuelle wird Dich jedoch, falls er
Dich erwischt, nicht verraten - da existiert so etwas wie ein
unausgesprochenes Bündnis – sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit wird
er - nun angeregt - selbst
etwas stehlen. Meine umfassende Praxis hat dies mehr als einmal bewiesen. Neben diesen archaischen Mythologien der Intelligenz im Bewußtsein der Buchhändler
existieren völlig konfliktlos die postmoderne Vorstellung der Entfremdung
des Textes von der Realität. Ein Paradox.
Um das folgende Paradox, noch beeindruckendere Paradox zu erhellen,
braucht man noch nicht einmal das Problem von Theorie und Praxis zu
studieren. Auf die Frage hin, ob Sie nicht denken, dass manche der Texte,
die man in ihren Geschäften verkauft, zu ihrem eigenen Diebstahl
auffordern, hören wir die Antwort, dass diese Texte nur humanitäre
Studien seien und in keiner nichts mit der Realität zu tun haben. Die
Bibel dagegen steht in einer sehr direkten Verbindung zur Realität. Und überhaupt, was diskutiert man. Stehlen darf man nicht, das ist nicht gut.
Aber das ist es ja: das Stehlen ist nicht gut, aber auch nicht schlecht.
Ursprünglich existiert kein Problem "kaufen oder klauen". Die
Dichotomie von Gut und Böse und als Folge ihre Auflösung in die Entscheidung über
Gutes und Schlechtes ist vollständig
aufgezwungen vom herrschenden Diskurs und legitimierte durch einen
phantomhaften gesellschaftlichen Willkür von Strafgesetzbuch, der
Verfassung, der gesellschaftlichen Meinung, Moral, eins ethischen Kanons
etc. Ich begann zu stehlen, als mein bisher verdecktes Entscheidungsproblem durch
den Preisanstieg ultra-aktualisiert wurde. Die Unmöglichkeit des Besitzes (sein Fehlen) ist physisch, aber physische
Kommunikation ist die intensivste. Solange ich ohne Schaden für mein
Budget so viele Bücher kaufen konnte, wie ich brauchte, klaute ich nicht
und sogar heute ist es so: wenn ich Geld habe, kaufe ich Bücher. Wenn
nicht, dann klaue ich. Wenn du Geld hast- kaufe, wenn nicht dann klaue. Aber tabuisiere das Thema
nicht durch diesen Dir aufgezwungenen repressiven Diskurs zwischen Gutem
und Bösem. Weder die erste noch die zweite Theorie existieren. Und es ist
nicht richtig, sich ausschliesslich auf eine Weise zu verhalten. "Dann heisst das mit anderen Worten, man kann auch Menschen umbringen",
schreien die Moralisten auf. "Ja, wenn es für Sie aktuell ist, dann
töten Sie." Ich liebe lesen sehr und kann mich diesem Vergnügen
nicht entziehen. Lesen ist aktuell genug für mich, um einen Diebstahl zu
begehen. Wenn die Eier der Pusteblume Lichatschow in einer Zange
zerquetscht würden, und er in der Hand eine Pistole hätte, dann nehme
ich an, dass es für ihn aktuell genug wäre, seinen Quäler zu
erschiessen, auch wenn es der Papst wäre. Zur Erinnerung 1. Verkäufer können keine Gedanken lesen. Ihnen steht nicht ins Gesicht
geschrieben, dass Sie gerade dabei sind, einige Bücher zu klauen. Für
einen Verkäufer sind Sie einer aus einer endlosen Masse der Käufer. Er
schaut Sie weder an, noch beobachtet er Sie. 2. Eine einheitliche Methodologie existiert nicht (wie man sie nimmt, wohin
man sie steckt). Improvisieren Sie. Nur: Es ist nicht sinnvoll sich zwei Stunden im Geschäft aufzuhalten
und zu gehen, ohne etwas zu kaufen – das ruft Verdacht hervor und man
kann verfolgt werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass man Dich reinholt.
Auch ist es nicht sinnvoll, diese Empfehlungen alphabetisch zu befolgen.
Es ist möglich, dass auch die Verkäufer sie schon gelesen haben. 3. Besser ist es, alleine zu klauen. 4. Nimm entweder das am meisten gewünschte Buch oder eins, von dem Du nicht
weißt, ob es gut ist oder schlecht. Bei dem letzteren ist der Grund
"ich möchte kein Geld für etwas ausgeben, was ich nicht kenne"
stärker als "ich möchte unbedingt etwas riskieren, egal wofür". 5. Wenn das Buch zu gross und dick ist, heisst das noch nicht, dass man es
nicht klauen kann. 6. Wenn Sie geschnappt werden, steht nicht sicher fest, was folgt. Sie müssen
sich dann nach der Situation richten. Wird Ihnen Moral angetragen, dann
bitten Sie darum, das Buch zurück ins Regal stellen zu dürfen. Es ist
nicht ausgeschlossen, dass man sie rausführt und versucht, Sie
zusammenzuschlagen. Zur Miliz wird man man in der Regel nicht gebracht und
es wird auch keine Strafanzeige erstattet – da regiert Faulheit.
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