1. Autopoietisches Europa Der Ostblock war, in unserer Vorstellung, immer
schwarz-weiß. Reisen in die DDR oder nach Polen bedeutete, daß wir aus dem bunten
Westeuropa plötzlich in einen Film aus den vierziger oder fünfziger Jahren gerieten. Wir
konnten uns nachher einfach an keine Farben erinnern, nichteinmal an das Grün der Bäume
oder das Rot der Backsteine. Wenn wir ins Kino gingen, um Filme von Wajda, Kieslowski oder
Tarkowsky anzusehen, verstärkte deren experimenteller Umgang mit Farben diesen Eindruck
nur, der Osten war grau und Europa hatte offensichtlich eine ideologisch motivierte
Farbwahrnehmungsneurose. Diese Art europäischen Orientalismus' wird nun müde.
Bald zehn Jahre nach dem gesellschaftlichen Umbruch hören die Länder Osteuropas auf,
'der Ostblock' zu sein. Sie treten allmählich aus dem Schatten des sowjetischen
Reiches, gewinnen in der internationalen Wahrnehmung wieder ihr jeweils eigenes Gesicht
und werden als Teilnehmer am europäischen Patchwork erkennbar. Während die EU versucht, die Festung Europa doch noch
irgendwie zu verteidigen und in den Beitrittsverhandlungen mit den zentraleuropäischen
Ländern noch einmal auf ihre eigenen Unzulänglichkeiten geworfen wird, während die NATO
mit ihren Erweiterungsplänen die Front des Kalten Kriegs durch Verschieben zu erhalten
versucht, während die Arme Westeuropas sich unablässig für Flüchtlinge und Migranten
öffnen und schließen, öffnen und schließen, verzweigen sich die Netze der
geschäftlichen Kontakte und der persönlichen Bekanntschaften und rückt das Europa der
Europäer langsam und kontinuierlich näher zusammen. Zum gegenseitigen Verständnis
tragen hierbei die kleinen Medien, Briefe, Fax, lokale Radios und Internet-Mailinglisten
scheinbar weitaus mehr bei als staatliche Prestigeobjekte wie die deutsch-französische
Fernsehkooperation ARTE, oder die exklusiven Aktionsprogramme der Europäischen
Kommission. Um die europäischen Differenzen zu verstehen und produktiv zu machen braucht
es ein Gewimmel an kleinen Sätzen, ein Gewimmel an kleinen Bildern. Bisweilen freilich treten in den heimischen Pantoffelkinos
auch echte Helden auf. So erscheint Mitte der achtziger Jahre ein neuer Popstar am
globalen Medienfirmament: Gorby Superstar, ein sowjetischer Zentralsekretär der Sprechen,
Laufen und Lachen kann, tatsächlich ein Mensch, obwohl doch Russe. Nach der Senilokratie
der Stagnationsperiode seit Mitte der siebziger Jahre reist Gorbatschow ab 1985 durch die
Lande, spricht zu seinen eigenen Leuten von Glasnost und Perestroika, signalisiert
aufgeschlossene Dialogbereitschaft bei Reagan, verhält sich bürgerlich-charmant
gegenüber Thatcher, tritt fast reuig vor den Papst, unterhält sich vertrauenserweckend
mit Kohl - und das alles vor laufenden Fernsehkameras. Endlich einer, der den westlichen
Werbeagenten, die schlechte Politik wie Cola und Eiskrem verkaufen müssen, das Wasser
reichen kann, und der die moderne Propagandamaschine besser zu spielen weiß als NATO und
KPdSU zusammen. Kein Wunder, daß Gorbatschow für andere Länder des
Warschauer Pakts, wie z. B. die DDR, zu einem ideologischen Unsicherheitsfaktor und damit
zur innenpolitischen Gefahr wird. Als im Juni 1987 drei britische Rockgruppen am
Brandenburger Tor ein Konzert veranstalten, drehen sie auch Lautsprecherboxen nach Osten,
wo sich Tausende junger Leute versammeln, um das Konzert mitzuverfolgen. Als es zur
Konfrontation mit den Sicherheitsorganen der DDR kommt, rufen sie nicht nur "Die
Mauer muß weg", sondern auch "Gorbatschow, Gorbatschow", den sie in dieser
Sache auf ihrer Seite vermuten. Zwei Jahre später, bei der Vierzig-Jahresfeier der DDR,
sprach Gorbatschow den Herren vom Ostberliner Staatsrat selber diese Empfehlung aus. Die
kamen jedoch zu spät und wurden flugs vom Leben, von den demonstrierenden Massen und dem
fernsehenden Volk mit Auftrittsverbot bestraft. Die vom Gorbatschow-Fanclub ausgelösten Veränderungen
fallen in eine Zeit, in der Dinge sich besonders dann zu ereignen scheinen, wenn eine
Kamera anwesend ist. Wie der Fall der Berliner Mauer haben sich zum Beispiel auch der
zweite Golfkrieg, der Putsch in Rußland oder die Fernsehrevolution in Rumänien vor allem
als Medienereignisse eingeschrieben. Politik reagiert, national wie international,
zunehmend nur noch auf Medienereignisse, nur noch das, was medial und damit öffentlich
wahrgenommen wird, zwingt zum Handeln. Angeblich hatten Präsident Clintons Berater 1992
beschlossen, daß der Krieg in Jugoslawien keine amerikanischen Belange betraf, und hatten
deshalb Informationen hierüber vom Präsidenten ferngehalten. Dies änderte sich, nachdem
Clinton durch Zufall in einem Tokyoer Hotel Fernsehberichte über die Belagerung von
Sarajevo sah und eine amerikanische Einmischung forderte. Daß die Medien, und augenblicklich vor allem das
Fernsehen, einen solchen Einfluß ausüben, ist natürlich nicht neu. Schon im Ersten
Weltkrieg wurden Schlachten geschlagen oder abgebrochen wegen der öffentlichen Meinung an
der Heimatfront. Und daß mediale Darstellungen die Wirklichkeit nicht einfach
widerspiegeln sondern konstruieren, wußten auch Photographen des 19.Jahrhunderts und
griechische Philosophen. Deshalb ist es auch nicht ganz nachzuvollziehen, wie es in den
achtziger Jahren zu der bekannten Pariser Wirklichkeitskrise kommen konnte (Baudrillard,
Virilio). Glückliche Konsequenz des propagandistischen Parteiauftrags war es, daß die
Medien östlich des Eisernen Vorhangs von niemandem als Orte der Wahrheitsproduktion
angesehen wurden, eine Illusion, der man im pseudo-Westen hartnäckig anhängt. Mediale
Techniken wie Flüstern, Weghören oder zwischen den Zeilen lesen sind Ausdruck jener
nützlichen mitteleuropäischen Tugenden - Zögern, Skepsis und Ironie. Den Kalten Krieg hindurch erzählten die öffentlichen
Propagandamaschinen in Ost und West ihre großen Erzählungen, vom verbrecherischen
Ausbeutungssystem und vom Reich des Bösen. Dabei wurden die Ost-Seher und -Leser besser
auf das vorbereitet, was folgte und nun nicht nur den pseudo-Osten betrifft, nämlich
leben lernen zu müssen, wie die Agentur Bilwet es nennt, in der Gesellschaft des
Debakels. Der kreative Umgang mit dem Unmöglichen, das Vermeiden des scheinbar
Notwendigen, sich nicht negativ zu identifizieren mit erzwungenem Versagen, Motto:
Dummstellen schafft Freizeit, das sind die Überlebensstrategien der postindustriellen
Gesellschaft. Die kleinen Erzählungen dieser Tradition werden gemeinhin von den kleinen,
unabhängigen Propagandamaschinen erzählt, von Flugblattverteilern und Plakatklebern, von
lokalen Piratenradios, Studentenzeitschriften und den Netzwerken, in denen verbotene
Bücher und Schallplatten zirkulieren. Das ist nicht so sehr eine romantische Rückschau,
sondern ein Blick in die Werkzeugkiste des Medienalltags.
2. Osteuropa sieht fern Eine der ersten Lektionen, die uns noch im Aufgehen des
Eisernen Vorhangs erteilt wurden, ist, daß der Osten nicht einer und der Ostblock kein
Block im Sinne eines homogenen, festgefügten Ganzen ist. Unterschiedliche Mentalitäten
und unterschiedliche Sozialismen wurden da unter großen und kleinen roten Fahnen
zusammengefaßt, die dem Großen Bruder mehr galten als den übrigen Geschwistern.
Distanz, oft auch tiefsitzende Skepsis, trennte die Länder des Warschauer Pakts. Der
ungarische Schriftsteller György Dalos beschreibt 1985 einige der Gründe für die
Unterschiede zwischen den kleinen mittel- und osteuropäischen Nationen:
"Unterschiedlich ist ihr religiöser Hintergrund: katholische, evangelische,
russisch-orthodoxe und islamische Traditionen leben nebeneinander, und die historischen
Erfahrungen sind nicht weniger divergent. Es gibt Länder, wo sich im 19. Jahrhundert
mächtige Revolutionen abgespielt haben (Ungarn, Polen), es gibt solche, wo keine
stattgefunden haben (Rumänien, Tschechoslowakei). Einige Staaten der Region sind
Vielvölkerstaaten (Rumänien, CSSR), in anderen sind die nationalen Minderheiten
unbedeutend. Politisch differenziert sich das Bild auch danach, ob die einzelnen Länder
am Zweiten Weltkrieg als Verbündete von Nazideutschland oder als Mitglieder der
antifaschistischen Koalition teilgenommen haben. Zu diesen vergangenen oder auf die
Vergangenheit zurückführenden Unterschieden kommen noch diejenigen, die aus der heutigen
Lage der einzelnen Länder resultieren. Es sind solche der Größe, der ökonomischen
Stärke, des Konsumniveaus, der Rolle der Öffentlichkeit, der Bewegungsfreiheit der
Öffentlichkeit usw." (2) Diese historischen und kulturellen Unterschiede werden seit
Beginn der neunziger Jahre zu einem wichtigen Instrument im Wettlauf nach Westen. Slavoj
Zizek, Lacan-Schüler und Psychoanalytiker, auf dessen Sofa in Ljubljana das Neue Europa
liegt, sagt über die wiederbelebten, strategischen Differenzierungen: "Was in der
Tat auf dem Spiel steht in der gegenwärtigen Krise der postsozialistischen Staaten, ist
genau der Kampf um den eigenen Platz, nun, da sich die Illusion des 'dritten Weges'
verflüchtigt hat: wer wird 'herein' gelassen, integriert in die entwickelte
kapitalistische Ordnung, und wer wird von ihr ausgeschlossen bleiben? Ex-Jugoslawien ist
vielleicht der exemplarische Fall hierfür: jeder Akteur im blutigen Spiel seines
Zusammenbruchs gibt sich Mühe, seinen Platz 'drinnen' zu legitimieren, indem er sich als
die letzte Bastion der europäischen Zivilisation (die gegenwärtige Bezeichnung für das
kapitalistische 'Drinnen') angesichts der orientalischen Barbarei präsentiert." (3) Und dann beschreibt Zizek ein Spiel, das auch in
Ostdeutschland, Polen, Ungarn, Slowakien, usw. usf., gespielt wird - die postmoderne
Variante vom Schwarzen Peter: "Für die rechten Nationalisten Österreichs [sind]
diese imaginäre Grenze [die] Karawanke[n], die Bergkette zwischen Österreich und
Slowenien: dahinter beginnt die Herrschaft der slawischen Horden. Für die
nationalistischen Slowenen ist diese Grenze der Fluß Kolpa, der Slowenien von Kroatien
trennt: wir sind Mitteleuropa, während Kroaten schon Balkan sind, verwickelt in die
irrationalen ethnischen Fehden, die uns eigentlich nicht betreffen - wir sind auf ihrer
Seite, wir sympathisieren mit ihnen, jedoch so, wie man mit dem Dritte-Welt-Opfer einer
Aggression sympathisiert... Für Kroaten ist diese entscheidende Grenze natürlich die
zwischen ihnen und den Serben, d.h. zwischen der westlichen katholischen Zivilisation und
dem östlichen orthodoxen Kollektivgeist, der die Werte des westlichen Individualismus
nicht erfassen kann. Die Serben schließlich halten sich für die letzte
Verteidigungslinie des christlichen Europas gegen die fundamentalistische Gefahr, die die
moslemischen Albaner und Bosnier verkörpern. (Es sollte nun klar sein, wer innerhalb des
Gebietes Ex-Jugoslawiens sich tatsächlich auf zivilisiert-'europäische' Weise verhält:
diejenigen auf der untersten Sprosse dieser Leiter, die von allem Ausgeschlossenen -
Albaner und moslemische Bosnier.)" (4) Nur in Rußland wird das Spiel andersherum gespielt. Einige
unserer Freunde aus St. Peters-burg, allesamt KünstlerInnen und Intellektuelle, bestehen
darauf, daß Rußland nicht zu Europa, sondern zu Asien gehört. Sie sind in Sibirien, in
Kasachstan oder im Ural geboren und aufgewachsen, verweisen auf ihr teilweise tartarisches
Blut und sprechen von Petersburg als einer russischen Simulation dessen, was europäisch
ist. So reicht Europa von England, das von Europa als einem fremden Kontinent spricht, bis
nach Rußland, dem vielleicht letzten großen Imperium des 19. Jahrhunderts, wo die
Leugnung Europas den Anspruch auf die asiatischen Kolonien rechtfertigen muß. Neben diesen Abgrenzungsversuchen und Bemühungen, westlich
des Ostens zu sein, hat es allerdings von seiten europäischer Intellektueller immer auch
Verständigungsversuche über die künstlich aufgerichteten Grenzlinien hinweg gegeben. In
kritischen Zeiten, ob 1956 (Ungarn-aufstand), 1968 (Prager Frühling), 1977 (Charta 77,
Prag), 1979-81 (Solidarnosc-Bewegung in Polen), oder im Zusammenhang mit der Inhaftierung
oder Ausweisung von Dissidenten wie Biermann, Solschenitsyn, Havel oder Sacharow, fanden
breite internationale Solidarisierungs-bewegungen statt, die auf die Grenzenlosigkeit der
Menschenrechte bestanden, und die auf das Vorhandensein einer Vielzahl inoffizieller
Kommunikationskanäle hinwiesen. Ein wichtiger Moment in der Vorgeschichte von 1989 war
auch die Wiederbelebung des Mitteleuropa-Gedankens durch Philosophen und Schriftsteller
Anfang der achtziger Jahre. Die Debatte war sowohl als Abgrenzung von der Hegemonie der
Sowjetunion gemeint, als auch als Erinnerung an eine Zeit, in der Europas Mitte nicht
geteilt war. Über die den Mitteleuropäern eigene Skepsis schreibt Vaclav Havel 1985:
"ein wenig geheimnisvoll, ein wenig nostalgisch, häufig tragisch, und manchmal gar
heroisch, hin und wieder gar ein wenig unverständlich in ihrer genügsamen
Schwerfälligkeit, zärtlichen Grausamkeit und in ihrer Fähigkeit, die Provinzialität
der äußeren Erscheinung mit weltgeschichtlicher Voraussicht zu kombinieren". (5) Derartige Verkreuzungen und Überlagerungen im Verständnis
dessen, was 'Europa' sei, sorgten dafür, daß die Debatte über die vielen
Zentren des Kontinents - Brüssel, Krakau, Berlin, Sarajevo, ... - sich so schnell von der
Hyperbel Washington-Moskau entfernen konnte. Eine Vielfalt an unterschiedlichen Karten gab es auch auf
dem Gebiet der Medien, und eine Durchlässigkeit und Semitransparenz der Grenzen nicht nur
zum Westen, sondern auch innerhalb des Ostens. So konnten 80% der Ostdeutschen mit ihren
normalen Hausantennen Westfernsehen empfangen, und nur im Tal der Ahnungslosen, der
südöstlichen Region um Dresden, war man vor den propagandistischen Westsendern sicher.
Dort aber gab's polnisches und tschechisches Fernsehen, je nach geographischer Lage,
und somit ein differenziertes Bild der verschiedenen televisuellen Staatsräsons in den
Bruderländern. Im Westen Rumäniens konnte man, wie der Rumänien-deutsche Schriftsteller
Richard Wagner berichtet, neben dem rumänischen auch das jugoslawische und das
bulgarische Programm empfangen. In einer seiner Erzählungen schreibt Wagner: "Gleich
beginnt das Spiel, sagt er. Die Serben zeigen das Derby im Fernsehen. Und heute abend soll
ein Film sein. Mit der mit den großen Titten. Bei denen sieht man ja noch was. Die
schneiden nicht gleich die Szenen raus, wie die unseren." (6) Neben den nationalen Fernsehstationen und den offiziellen
Zeitungen, die, wie Karl Schlögel bemerkt, überall gleich dünn, mit den gleichen
schlechten Photos und den gleichen chemisch gereinigten Artikeln erschienen, spielten
wegen ihrer viel größeren Reichweite die inter-nationalen westlichen Radiostationen wie
der BBC World Service oder die Deutsche Welle eine äusserst wichtige Rolle im Verbreiten
von Nachrichten und Diskussionen, die von den osteuropäischen Staatsmedien nicht gemeldet
wurden. Herausragend war die Bedeutung des US-amerikanischen Radio Free Europe, das von
München aus als Dissidentenfunk und Sprachrohr der amerikanischen Position im Kalten
Krieg den ganzen mittel- und osteuropäischen Raum erreichte. Außerdem gab es natürlich auf lokaler Ebene eine Unmenge
kleiner, inoffizieller Medien, Nischenmedien, die oft kurzlebig waren und doch einen
Informationsaustausch und eine Kommunikation in Gang zu halten wußten, die es nach
offizieller Darstellung nicht geben konnte. Schallplatten und Audiocassetten waren
hierfür ebenso bedeutsam wie mündlich weitergegebene Witze - Radio Eriwan! -,
abgezeichnete Landkarten und endlos herum-gereichte Buchexemplare. In Ländern, in denen
es Fotokopierer für den privaten Bedarf in keinem Fall geben durfte, erfand man zur
Verbreitung von Ideen eine Vielzahl von illegalen Publikationsstrategien, die meist unter
dem Begriff Samizdat zusammengefaßt werden. Ein verwandtes Prinzip ist ramka, das
ursprünglich polnisch war, dann aber auch in Ungarn und anderswo Verbreitung fand. Miklos
Haraszti schreibt: "Die ramka im Osten entspricht dem Kopiergerät im Westen.
Das Rezept für die ramka heißt: Sowjetmacht minus Elektrifizierung. Übrigens,
diese Kreuzung von Siebdruck- und Abzugsgerät kann man in zwei Stunden Heimarbeit basteln
- sie bringt es auf mehrere Tausend Abzüge. Es gibt Zeiten, wo die Polizei wie ein
sorgsamer Gärtner den üppig wuchernden Samizdat bis auf die Wurzeln abmäht. Doch die ramka
ist unausrottbar. Ramka ist virtuelle Pressefreiheit; der mit Druckerschwärze
beschmierte Finger des professionellen Menschenrechtlers zeigt in die freie, elektronische
Zukunft." (7) In Zeiten elektronischer Vernetzung sollten
wir nicht vergessen, daß eine Hand-presse eine praktische Würde haben kann, die das
kontrollanfällige Internet wohl niemals erreichen wird. 3. Lösliche Geschichte Die mittel- und osteuropäischen
'Revolutionen' der achtziger Jahre haben in jedem Land ein jeweils eigenes
Gesicht und einen eigenen Ablauf gehabt: vom polnischen 'interruptus', über die
abgetriebene russische Perestroika und den ungarischen Schleichweg zu den kapitalistischen
Fleischtöpfen, dem jähen Kollaps des ostdeutschen Regimes, bis hin zu dem brutalen
rumänischen Weihnachtsspiel. Im Baltikum waren es Gesänge, in Prag samtene Worte, in
Berlin Kerzen und schlechte Schuhe, die das neue Zeitalter einläuteten. Obwohl im Nachhinein deutlich ist, daß es in der
Entwicklung der späten achtziger Jahre eine gewisse Logik gab, von Gorbatschows
Perestroika über die politische Liberalisierung in Ungarn und Polen, bis hin zur
Besetzung der westdeutschen Botschaften in Prag und Warschau durch DDR-Bürger im Sommer
1989, kamen die Ereignisse im Spätherbst in ihrer Form doch einigermaßen unerwartet.
Überall waren die westlichen Medien dabei, oder besser: sie wollten überall dabei sein.
Denn die Ereignisse ließen sich nur schwer mit Flugplänen und Hotelbuchungen in den
Griff bekommen. Wohin schickt eine amerikanische oder japanische Fernsehanstalt Anfang
Dezember 1989 ihr Kamerateam: nach Berlin, um die Öffnung des Brandenburger Tors
abzuwarten, nach Prag, wo die Studenten auf den Straßen sind, oder doch lieber ins
dunkelgraue Bukarest, wo sich eine transsylvanische Selbstzerfleischung ereignen könnte.
Nocheinmal bestrafte das Leben die Zuspätgekommenen. Unmögliche Wahl, und ein
Glücksfall für Fernsehzuschauer mit Satellitenschüssel, die sich zappend über die
vielfältigen Seiten der Tagesereignisse bewegen konnten, indem sie die Nachrichten aus
Berlin, Bonn, Paris, London und Atlanta nebeneinanderlegten. Was sich dennoch ergab, war ein wochenlanger Teppich von
spannenden Medienereignissen, während derer wir den Live-Medien sogar die endlosen
Wiederholungen der immergleichen Videobänder vergeben wollten. Hier fand das Leben statt,
hier ereignete sich Geschichte vor unseren Augen. Und nicht nur für westliche
Fernsehzuschauer, sondern auch für die Menschen in den Ländern selber hatte vor allem
das Fernsehmedium eine wichtige katalytische Funktion. Wochenlang sahen sich die Leipziger
in den westdeutschen Spätnachrichten auf ihren Montagsmärschen und gingen in der
Folgewoche noch zahlreicher hin. Immerhin haben sie sich am Ende so ihre Warholschen
'15 minutes of fame' ergattert. Über die Rolle des Fernsehens in der
rumänischen Revolution sagte die Kunstkritikerin Magda Câ rneci auf dem Symposium
'The Media are with us!', das schon im April 1990 in Budapest abgehalten wurde:
"Das Fernsehen war nicht nur ein riesiges, unermüdliches Auge, das kontinuierlich
die absolut unvermeidlichen Bilder ausstrahlte, sondern es fungierte auch als eine Art
kollektives Gehirn: es empfing, selektierte und verbreitete Nachrichten in der gesamten
Nation, die unentbehrlich waren zur Koordination und Aufrechterhaltung des Kampfgeistes,
und erzeugte einen Bewußtseinszustand, der kohärent auf Kampf, Wachsamkeit und Sieg
ausgerichtet war. Das Fernsehen machte das ganze Volk zu einer Art hochsensiblem Netzwerk,
innerhalb dessen jedes Individuum sich körperlich wie geistig am Akt der Revolution
beteiligte. (...) In gewisser Weise rechtfertigte das Fernsehen für die meisten Menschen
die Revolution." (8) Schon kurze Zeit später freilich gerann die revolutionäre
Wirklichkeit und stellte sich angesichts der großen Anzahl konkurrierender authentischer
Dokumente Zweifel an den miterlebten Ereignissen selber ein. So bemerkte Câ rneci kaum
vier Monate nach den Dezemberereignissen: "Seit den ersten Tagen der Revolution haben
sich die Dinge rapide geändert. Was man jetzt über die rumänische Revolution im
Fernsehen sieht, wandelt sich, so scheint mir, immer mehr in Fiktion." (9) Ähnliche Verschiebungen fanden in der DDR und in der
Tschechoslowakei statt, wo konkurrierende Versionen der Geschichte kursierten und den
kleinbürgerlichen Revolutionären der Straße ihren Sieg streitig machten. Innerhalb
weniger Wochen erwies sich, nicht zuletzt durch die unablässige Suche der Journalisten
nach neuen 'Fakten', die unentwirrbare und widersprüchliche Komplexität
dessen, was zuerst, am Bildschirm wie auch vor Ort, als authentisch erfahren wurde.
Realität und Fiktion wurden einander angenähert und ineinander überblendet. Das
vermeintliche Erlebnis von instant history erwies sich als so authentisch wie eine
Tasse löslichen Kaffees: if you believe in me, I exist. Für den Westen ergab sich die zusätzliche Schwierigkeit,
daß aus dem medial Vermittelten Handlungsanweisungen destilliert werden mußten. Während
die Bösen und die Guten 1989 noch deutlich verteilt schienen und somit vor allem
optimistische, futurologische Weitsicht gefragt war, war die westliche Wahrnehmung des
Kriegs in Jugoslawien ab 1992 schon wesentlich unsicherer. Aber wie läßt sich auch eine
politisch und historisch komplexe Geschichte in dreieinhalb Minuten packen. Westliche
Intellektuelle wie Peter Handke, Alain Finkielkraut und Susan Sontag gingen in Belgrad,
Zagreb und Sarajevo auf die Suche nach der 'Authentizität der Erfahrung' und
der 'Wirklichkeit des Lebens', eine Suche, die 1914 deutsche und französische
Künstler und Intellektuelle in sich gegenüberliegende Schützen-gräben brachte. Und
während Historiker und Militärstrategen sich um die Gleichungen von Verstehen und
Intervention zankten, erzeugten die Medien eine perzeptive Schieflage, die zum Handeln
hätte zwingen müssen. Sie erreichten allerdings das Gegenteil, und die
Bericht-erstattung über den Balkankrieg führte zur Lähmung statt zum
Interventionswillen westlicher Beobachter. Der Medientriumph von 1989, als die Medien
Geschichte machen konnten, fand sein Verdun in Dubrovnik, Srebrenica, Gorazde und
Sarajevo, wo sie Geschichte nicht verhindern konnten. 4. 'Open Society' und 'New World Order' Das 'Ende der Geschichte' (Fukuyama), das 1989 schon in
greifbarer Nähe erschien, wurde durch die plötzliche 'Wiederkehr der Geschichte' ad
absurdum geführt. Und doch: der kurze Augenblick zwischen dem vermeintlichen Nullpunkt
der Geschichte und dem unerwartenen 'Eintritt in die Gegenwart' (10)
gab für einen Moment den Blick auf ein in seiner Klarheit erstaunliches Schauspiel frei.
Im Herbst '89 sitzt der australische Kulturwissenschaftler McKenzie Wark vor seinem
Fernseher und verfolgt die Ereignisse in Europa, die sich für ihn einbinden in das
kontinuierliche globale Medienspektakel, das aus Bildern und verkürzten Erzählungen die
Illusionen von Identität und Geschichte entwirft: "One thinks of Europe in 1989 as
the opening night at the theater where the curtain goes up and the audience comes face to
face - with another audience. One has to be outside the theater altogether to see the
whole thing together as one big spectacular show." (11)
Das westliche Publikum hat die Revolutionen von 1989 mit Enthusiasmus verfolgt, wobei
jedoch das Objekt seines faszinierten Blicks nicht die bloße Neuentdeckung der Demokratie
als solche war: Der Westen kennt nur allzu gut die Mängel und Sackgassen der real
existierenden liberalen Demokratie, um sich noch von ihr faszinieren zu lassen. Was die
westlichen 'Zuschauer' faszinierte, war vielmehr, wie Zizeks slowenischer Kollege Rado
Riha schreibt, "eine unterstellte vorbehaltlose Faszinierung der osteuropäischen
Akteure mit der westlichen Demokratie, ihr naiver, sozusagen blinder Glauben an sie.
Der Westen hat somit im Osten sich selbst, die Bestätigung seiner eigenen Wahrheit
gesehen. (...) In der unterstellten Faszination des Ostlers von der Demokratie konnte er
sich selbst in seiner 'reinen', von empirischen Desillusionen und Fehlschritten noch nicht
verunstalteten demokratischen Gestalt sehen, sich sozusagen am unbefleckten Ursprung
seines demokratischen Seins fassen." (12) Bestärkt durch eben jenen vermuteten naiven Blick des
Ostens auf das Faszinosum West begannen Akteure unterschiedlichster Couleur (Sekten,
Banken, Parteien, Kultur, private Einrichtungen und Non-Governmental Organisations [NGOs])
einen Wettlauf darum, wer als erster den Osten beglücken und sich an ihm gesundstoßen
darf. Die von George Bush Ende der achtziger Jahre beschworene 'Neue Weltordnung' fand
ihren ersten Ausdruck in der Besetzung des Ostens durch ideologische Pioniere. Allein in
Kroatien zeugen heute 790 Vertretungen internationaler oder regional-partikularer NGOs vom
unglaublichen Boom des nicht-staatlichen Sektors. Gegenwärtig wird das in vielen
post-sozialistischen Länder Osteuropas durch staatlichen Rückzug entstandene Vakuum
zunehmend durch die sich öffentlicher Kontrolle entziehenden und nicht regulierten
Aktivitäten von NGOs übernommen. NGOs sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen tätig und
gelten allgemein als 'Stimme der Zivilgesellschaft'. Sie setzen sich für die Einhaltung
der Menschenrechte (z.B. amnesty international) oder den Umweltschutz (Greenpeace) ein
oder leisten humanitäre Hilfe (z.B. Internationales Rotes Kreuz). Finanziert werden NGOs
durch Unternehmen, Stiftungen, Privatleute, regionale oder globale Körperschaften (z.B.
EG oder UNHCR) oder Regierungen (z.B. USAID). Eine der wichtigsten und einflußreichsten NGOs in
Osteuropa ist heute die 'Soros Foundation for an Open Society'. Neben ihrem Engagement in
den Bereichen Bildung, humanitäre Hilfe, Menschenrechte, Kunst und Kultur (letzteres
durch die Soros Centers for Contemporary Art [SCCA]) sowie der Förderung sozialer,
rechtlicher und wirtschaftlicher Reformen, engagiert sich diese Stiftung besonders für
den Aufbau und die Unterstützung unabhängiger Medien (z.B. Radio Zid/Sarajevo,
Arkzin/Zagreb, Radio B-92/Belgrad, die Tageszeitung Koha Jone/Albanien, sowie Internet und
e-mail Kommunikation). Mit der Finanzierung regierungs-unabhängiger Medien,
Organisationen und Projekte soll die Entwicklung eines neuen politischen Bewußtseins
gefördert und so ein Grundstein für Entwicklung der Zivilgesellschaft bzw. einer
'offenen Gesellschaft' gelegt werden. Mit der Unterstützung der jungen osteuropäischen
Demokratiebewegungen hat sich die Soros Stiftung bei den jeweiligen Regierungen durchaus
nicht immer beliebt gemacht. (13) Das seit Ende der 80er Jahre entstehende 'Soros Foundation'
Netzwerk besteht inzwischen aus ca. 30 autonomen nationalen Stiftungen in fast allen
post-sozialistischen Ländern Mittel- und Südosteuropas, der ehemaligen Sowjetunion und
Zentralasien. Die beiden Open Society Institutes (OSI) in New York und Budapest stellen
die für die Arbeit der nationalen Stiftungen nötigen administrativen, finanziellen und
technischen Mittel zur Verfügung (1995 insgesamt $350 Millionen US Dollar). Auch die
Central European University (CEU; erst in Warschau, Budapest und Prag, heute nur noch in
Warschau und Budapest) und das - inzwischen aufgelöste - Open Media Research Institute
(OMRI; hervorgegangen aus dem Münchner Radio Free Europe/Radio Liberty Research
Institute) gehören zu diesem Imperium der Wohltätigkeit. Aufgrund unzureichender oder völlig fehlender
anderweitiger - staatlicher oder privater - Unterstützung sind die Stiftungen von George
Soros in Osteuropa vielerorts zum einzigen Geldgeber für unabhängige Projekte geworden.
Hier fließen beträchtliche Summen, die jedoch weder einer demokratischen Kontrolle
unterliegen, noch in irgendeiner Form öffentlich reguliert werden. Soros' 'Offene
Gesellschaft' impliziert parallele, regierungsähnliche Strukturen, bevölkert von neuen
Bürokraten. Die daraus resultierenden Probleme für die Souveränität eines Landes sowie
die möglichen wirtschaftlichen Interessen liegen für John Horvath auf der Hand:
"The most likely use of the ISF [International Soros Foundation], however, would seem
to be as a means for shrewd market penetration in an economically prostrate region. By
concentrating on the media and telecommunications infrastructure development, to what
extent is the ISF building a Soros-controlled telecommunications empire that spans from
the Pacific to Central Europe?" (14) Über die 'wahre' Motivation Soros' zirkulieren zahlreiche
Meinungen, und Verschwörungs-theoretikern ist er ein gefundenes Fressen. Seine Strategien
schwanken zwischen selbstloser Philanthropie, westlich-kapitalistischem Utilitarismus und
alternativen Staats- und Gesellschaftskonzepten, eine Herangehensweise, die man im
Vergleich zum 'Mutter-Theresa-Syndrom' anderer NGOs wohl eher als
'Bruder-George-Strategie' wird bezeichnen müssen. Die selbstlosere, vielleicht
protestantischere Variante wird zum Beispiel von der niederländischen Organisation Press
Now vertreten, die von Amsterdam aus seit Jahren den Erhalt und weiteren Aufbau
unabhängiger Medien im jetzt ehemaligen Jugoslawien unterstützt. Kleine Radio-stationen
in der Provinz, oppositionelle Wochenzeitschriften und individuelle Journalisten werden
oft unbürokratisch unterstützt - unumgänglich in einer Situation der unablässigen
politisch-tektonischen Verschiebungen. Freilich gerät auch Press Now gelegentlich in moralische
Dilemmas, oder in politische Bedrängnis, denn wie bemißt sich die politische
Unabhängigkeit von Radiosendern wie Radio 101 in Zagreb oder Zid in Sarajevo? Und die
nationalen Regierungen in Slowenien, Kroatien oder Serbien haben natürlich ihre eigene
Auffassung darüber, daß unbequeme Geister, die sie womöglich als gefährliche Radikale
einschätzen, vom Ausland aus am Leben gehalten werden. Doch die Strukturen, aus denen
heraus Press Now arbeitet, beruhen auf den Kontakten zwischen individuellen Menschen und
kleinen Gruppen, und es sind solche persönlichen Kontakte, die auch die Motivation für
viele der Einladungen, Reisen und Projekte, die durch unabhängige, staatlich geförderte
Organisationen wie Press Now und seiner Mitarbeiter ermöglicht werden. 5. Alltägliche Medienkunst Die Grenzen zwischen journalistischer Praxis und
künstlerischen Arbeitsweisen sind nicht immer scharf zu ziehen. Seit 1989 befindet sich
die osteuropäische Medienlandschaft in Aufruhr: es begann mit einer Art medialer
Supernova, die ein explosionsartiges Ansteigen kommerzieller Radio- und Fernsehsender zur
Folge hatte. Eine Zeit lang bot sich der Raum der öffentlichen Medien als Spielwiese für
Künstler und Medienaktivisten an. Der rumänische Künstler Calin Dan, der heute in den
Niederlanden lebt, falls sie ihn lassen, schreibt 1995: "In Romania, the media
environment turned from an ideological desert (prior to December 1989) to a complete
jungle. Everything began with the printed media revolution, which created from the very
beginning a climate of vulgarity, violence, new-age fabulations, and conspiracy theories.
The local pulp fictions and the big global truths were blended in a way that flattened the
senses and modified attention. The new radio-scape became another example of the media
environment as numerous independent radio stations mushroomed immediately after the
revolution, and Bucharest became one of the most interesting radio broadcast cities in
Europe." (15) Von neuen, extravaganten Fernseherfahrungen berichtet auch
eine Freundin, die im Mai 1995 in Skopje war: Spätabends kam im ersten Programm des
nationalen mazedonischen Fernsehens Der dritte Mann. Die Bekannte war fasziniert;
hatte sie diesen Film dank des deutschen Fernsehens doch noch nie im
nicht-synchronisierten, englischsprachigen Original gesehen. Vielleicht sollte man besser
sagen gehört - von dem Fernsehbild war nämlich wenig zu sehen. Zunächst gab es
französische Untertitel, über die dann - jeweils mit einer geringen Zeit-verzögerung -
mazedonische Untertitel geblendet wurden. Sie überstrahlten die Hälfte des Bildes.
Rechts oben war das Logo eines westeuropäischen Fernsehsenders zu sehen, der diesen Film
original ausstrahlte, die linke obere Bildecke wurde vom Logo des mazedonischen nationalen
Fernsehens verdeckt. Die Bekannte war verzweifelt. Auf die Frage nach dem tieferen Sinn
dieser Übung entgegnete ihr mazedonischer Gastgeber, daß ihr doch sicherlich die großen
Satellitenschüsseln auf dem Dach des Nationalen Rundfunkgebäudes aufgefallen wären. Die
solle sie sich einfach als eine Art riesigen Staubsauger vorstellen, dessen Funktion auf
"supersaugen" eingestellt sei. Die angesaugten Datenmengen würden dann entweder
gespeichert oder sofort über das Fernsehen abgegeben. Enes Zlatar aus Sarajevo, Mitarbeiter des dort erst jüngst
eingerichteten Soros Centers for Contemporary Art (SCCA), sagt ähnliches über die
Medienszene in Bosnien nach dem Krieg: "Independent production of home videos
continues. The national TV experiences programmatic and productional involution. The only
TV show made by young, creative and professional authors, within the youth programme, is a
monthly show, 'Vatrene Ulice' (Streets on Fire). There is a new phenomenon of emergence of
many small, local TV stations which do not have an interest for author production. The
programmes of these stations consist mainly of stolen satellite programmes and bootleg
films on VHS." Strategien und Formen der Medienkunst waren und sind in den
einzelnen Ländern aufgrund der unterschiedlichen Möglichkeit des freien Zugangs zu neuen
Medien (z.B. Videokameras, Computer, Fotokopierer, etc.) sowie der Duldung von
'unabhängigen' Massenmedien und 'abweichender' Meinungen sehr verschieden. Während z.B.
in Jugoslawien - hier vor allem in Slowenien - die sogenannte subkulturelle oder
alternative Szene seit Beginn der 80er Jahre mit dem Medium Video arbeitete und das
jugoslawische Fernsehen - spätabends, aber immerhin! - experimentelle Videokunst sendete,
in Polen und Ungarn sich die Videokunst in den 80er Jahren auf Erfahrungen des
experimentellen Films der 70er Jahre stützen konnte, war die Situation in Ländern wie
z.B. der Tschechoslowakei, der DDR, Rumänien, oder Bulgarien eine vollkommen andere, denn
dort war der Zugang zu technischen Mitteln entweder aus politischen oder aus ökonomischen
Gründen verwehrt. Die Petersburger Gruppe 'Piratskoe Televidenie' (Piratenfernsehen,
1988-92) produzierte allen Schwierigkeiten zum Trotz alternative, exzentrische und
meistens alogische Fernsehprogramme, die mit Hilfe militärischer Übertragungstechnik in
die staatlichen Fernsehkanäle eingespeist werden sollten. Unterschiedliche Strategien auch auf dem Gebiet der
Performance: Während in den 80er Jahren das multimediale Künstlerkollektiv Neue
Slowenische Kunst mit der Rockmusikgruppe Laibach in der Vorreiterrolle nicht müde wurde,
sich öffentlich und lautstark mit der sozialistischen Ideologie Jugoslawiens
'überzuidentifizieren' und das Publikum und den Staat gleichermaßen in Rage zu
versetzen, arbeitete die tschechoslowakische Geheimorganisation B.K.S. (Bude Konec Sveta -
das Ende der Welt naht) seit Mitte der 70er Jahre im Verborgenen an der Schaffung eigener
Gesetze, eigener Strukturen, eigener Rituale und einer eigenen Mythologie, einer eigenen
Kunst und eigenen Traditionen; kurz: an einer autonomen Kultur. Nach den analogen Avantgarden der 80er Jahre wird die
Medienkunst in den 90er Jahren digital. In den letzten Jahren sind in vielen
post-sozialistischen Staaten Osteuropas neue Medienzentren und -initiativen entstanden.
Sie beschäftigen sich mit verschiedenen Formen der Medienkunst und Internetprojekten und
nehmen verstärkt an der globalen digitalen Kultur teil. Das E-Lab in Riga, das WWWArt
Center in Moskau, C3 (Center for Culture and Communication) in Budapest, die
SCCA-Medienlabore im mazedonischen Skopje und im bulgarischen Sofia sind hierfür nur
einige Beispiele. 6. Kritische Technologie Bart Rijs kam in seinem Artikel in der Volkskrant
(2.12.1996) zu einer erstaunlichen Einsicht: Nicht nur habe, so Rijs in der gleichnamigen
Überschrift, die Revolution in Serbien mit einer Homepage im Internet begonnen, nein:
"Even revolutions aren't what they used to be, since there is internet. The times of
illegal printing-presses in wet cellars, seditious pamphlets spread by revolutionaries in
duffle coats, are over." Fast könnte man meinen, daß der Autor hier den
Verlockungen utopischer Technophilie erliegt: Das Internet als Subjekt der Geschichte -
die revolutionäre Homepage als das perfekte Beispiel für die befreiende Macht von
Computern und Internet. Eine vielleicht etwas voreilige Feststellung, wie John Horvath
meint, denn schließlich werde die Revolution von Serben gemacht, und nicht von der
Internet community. Internetzugänge sind in Serbien spärlich gesät. Nicht, daß die
Homepage der protestierenden Studenten nutzlos sei, ganz im Gegenteil: uns
vermittele sie eine persönlichere Sichtweise auf die Vorgänge. Medien und Technologien
jedoch eine revolutionäre Qualität zu unterstellen führe, so Horvath, zu einem kruden
Mißverständnis der Situation: "No doubt John Perry Barlow et al will distort the
reality of what is happening and start extolling the revolutionary virtues of the
Internet, thereby missing the whole point of what is going on in Belgrade and, to some
extent, downgrade the heroism and courage of those who still revert to the 'by-gone
methods' of 'illegal printing-presses in wet cellars' and 'seditious pamphlets spread by
revolutionaries in duffle coats'." (16) In einem Land, wo
die 'neuen' Medien noch keine weite Verbreitung gefunden haben, sollte man die Bedeutung
der 'alten' Medien nicht unterschätzen. Zugleich freilich bieten dieselben, von gewissem Erfolg
gekrönten Belgrader Winterproteste von 1996-97 ein gutes Beispiel für die überraschende
Macht, die mithilfe des Internets ausgeübt werden kann. Die lokale Radiostation B-92,
Soros-unterstützter Herd der kulturellen und politischen Opposition in der serbischen
Hauptstadt, hatte seit dem Herbst 1996 regelmäßig englische und serbische
Nachrichtenprogramme als Audio-Files auf das Internet gelegt und so einem internationalen
Publikum zugänglich gemacht. Als die Proteste im November und Dezember an Kraft gewannen,
konnten Journalisten in aller Welt, aber auch die weitverstreute serbische Diaspora, die
letzten Neuigkeiten aus erster Hand erfahren. Als die serbische Regierung durch
Störsender und schließlich durch Abschalten von B-92 versuchte, diese unabhängige
Berichterstattung zu unterbinden, bot der Hersteller der RealAudio-Software dem Sender die
Möglichkeit, sein Programm 24 Stunden täglich live über das Netz auszustrahlen. Das
Lokalradio, das in Belgrad nur ein paar Häuserblöcke weit zu hören ist, wurde
plötzlich zur bekanntesten Radiostation der Welt, deren Signal über einen Server beim
Amsterdamer Internetdienst XS4ALL vom Netz zu ziehen war. Die dadurch erzeugte
Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit übte zusätzlichen Druck auf das
Milosevic-Regime aus und dürfte dazu beigetragen haben, daß nach dreimonatigen Protesten
die Ergebnisse der Kommunalwahlen doch noch anerkannt wurden. Eine nicht zu unterschätzende Rolle für die
internationale Verbreitung kritischer Nachrichten spielen auch die informellen Netzwerke,
Newsgroups und Internet-Mailing-Listen, über die oft hunderte von Leuten miteinander in
Kontakt stehen und miteinander Neuigkeiten austauschen und diskutieren. Hervorragendes
Beispiel hierfür ist die Nettime-Liste, die sich der Netzkritik und zahlreichen
angrenzenden Themen widmet, von Zensur und Verschlüsselung bis zur Netzkunst und dem Web
TV der Zukunft. Nettime, ins Leben gerufen und moderiert von Pit Schultz in Berlin und
Geert Lovink in Amsterdam, ist ein filigraner Kanal, ein intellektuelles Medium und eine
internationale Gemeinschaft, vorwiegend europäisch aber mit vielen Mitgliedern auf allen
anderen Kontinenten, ein schnelles, taktisches, kleines Medium der besten Art, das nicht
zufällig als "die europäische Antwort auf Wired" (Wark) bezeichnet worden ist. Die Verwendung von Technologie in Kunst- und Medienpraxis
verweist somit weder auf eine grundsätzlich kritische noch auf eine - wie die Politisch
Korrekten unter uns immer noch nicht müde werden zu behaupten - per se affirmative
Haltung gegenüber der Technologie. Interessant wird es dann, wenn man fragt, inwiefern
Technologie normativ für kulturelle und soziale Handlungsweisen sind, inwiefern sie sich
'vereinheitlichend' auf diese Handlungsweisen auswirkt. Es geht dabei im weitesten Sinn um
die Frage danach, inwieweit Technologie eine individuelle künstlerische Ausdrucksweise
zuläßt oder verhindert. Führen der Einsatz von Technologie - und die der translokalen
Technologie immanenten vereinheitlichenden bzw. 'normativen' Tendenzen - gar zu einem
Schleifen kultureller Differenzen, oder, abgeschwächt: behindert sie spezifische lokale
Ausdrucksweisen? Kann Technologie überhaupt 'kulturneutral' sein ? Oder - so fragte man
sich anläßlich eines im Dezember 1996 in Prag veranstalteten Symposiums, "does
media art imply [a] kind of thinking which is West-orientated and linear, masculine
etc."? Aus Bratislava kam prompt Martin Sperkas mindestens ebenso schwer-wiegende
Gegenfrage: "feminist thinking is East-oriented and non-linear?" Die Bedeutung medienkultureller Praxis ist nicht nur
technologischer und damit translokaler Natur, sondern entfaltet sich stets in lokalen
Kontexten. Ein differenzierender Blick auf lokale Kulturen und die lokalen Kodes ist daher
dringend geboten. Verschiedene Künstler aus Osteuropa haben wiederholt auf die Bedeutung
des immer schon gebrochenen Verhältnisses zu 'den Medien' hingewiesen. Der albanische
Künstler Eduard Muka sagte 1996 in einem Interview: "We inherited a sort of hatred
towards the media. There were a lot of lies, nothing was exact, there was only propaganda.
Still there is only one state television channel and it is even worse than it used to be.
The distrust towards media could be a good starting point for artists to make their
critical approach in regards to media. I look at media as the highest degree of
manipulation humanity has ever invented. In this sense, this could be really used [to]
raising social or individual imperatives." (17) Auch Lev
Manovich unterstreicht - angeregt durch Alexej Shulgins polemischen Text 'Art, Power
and Communication' - die Bedeutung der unterschied-lichen Erfahrungen: "The
experiences of East and West structure how new media is seen in both places. For the West,
interactivity is a perfect vehicle for the ideas of democracy and equality. For the East,
it is yet another form of manipulation, in which the artist uses advanced technology to
impose his / her totalitarian will on the people." (18) Die Heterogenisierung eines derartigen Denkens in Blöcken
könnte die Aufgabe kleiner Medien sein. Die Agentur Bilwet fordert 1995 in der
'Gesellschaft des Debakels': "If, as Kroker maintains, in the new Europe, with its
new, invisible, electronic war, everything is about 'the bitter division of the world into
virtual flesh and surplus flesh', then it is up to the independent media like Zamir, B-92
and ARKZIN to ridicule this split, and in an ironic, existential manner, to give shape to
the universal technological desire, cyberspace." 7. Going East, Going West Reisen in Europa bleibt auch heute schwierig und wird
doch einfacher und normaler. Die Grenzen sind durchlässiger geworden, auch wenn
Visaangelegenheiten und Sprachbarrieren noch immer viele Begegnungen in Europa verhindern.
Langsam schwindet das Gefälle und es beginnt die Wiederentdeckung eines nicht nur
historisch begriffenen Kulturraumes in Europa. Zynisch betrachtet sind Städte wie Sarajevo, Moskau und
Tirana seit Jahren die nicht-anerkannten kulturellen Hauptstädte Europas (von welcher
europäischen Stadt hat man so viele Bilder gesehen wie von diesen?), in denen das
hard-core europäische kulturelle Erbe verhandelt wird, dessen Mittelmaß sich in
Kopenhagen, Antwerpen und Prag präsentieren darf. Aber wieso werden Albanien, der
'Balkan', Rußland, Tschetschenien etc. medial so ausgiebig abgedeckt? Doch wohl nicht
weil sie schon ein 'normaler' Teil Europas sind, sondern vielmehr weil sich die
Medienberichterstattung maximiert, je blutiger es wird, und die Massenmedien (vor allem
das Fernsehen) dort live über 'Ausnahmezustände' (wahlweise 'ethnische Säuberungen',
staatlicher Kollaps, blutige Aufstände, menschliche Tragödien, Abspaltungs-prozesse,
diverse Putschversuche) berichten können. Das mediale Bild von Osteuropa ist durch
'Ausnahmezustände' charakterisiert; die Normalität wird jedoch kaum kommuniziert. Die Bedeutung der 'kleinen Medien' dagegen besteht darin,
daß sie - eher als die 'großen Medien' - imstande sind, etwas über die 'Normalität' zu
vermitteln und Verständnis und Selbstverständigung zu ermöglichen. Die 'kleinen
Erzählungen' als Alternative zu den 'großen Erzählungen'. Das nennen wir die kleine
östliche Mediennormalität. Berlin, im April 1997
|
|