Für die anthropologisch orientierte wissenschaftliche Forschung seit etwa den letzten
10-20 Jahren die literarische und kulturelle Bedeutsamkeit des menschlichen Körpers
Gegenstand eingehender Untersuchungen. Zur Diskussion stehen insbesondere Fragestellungen
nach seiner Lesbarkeit und der Wahrnehmbarkeit non-verbaler Zeichen. Für die Mediävistik
von besonderem Interesse ist die Zeichenhaftigkeit des Körpers, die in der
mittelalterlichen Literatur aufgezeigt wird und die in direktem Zusammenhang mit dem
vieldiskutierten Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder "Aufführung
und Schrift" steht. Angesprochen ist hiermit die Signifikanz non-verbaler Zeichen und
die für die Verständigung wichtige sinnliche Wahrnehmung in einer weitgehend illiteraten
Laiengesellschaft, von der auch die für diese Gesellschaft verfaßte, schriftlich
fixierte Literatur Zeugnis ablegt – zumindest insofern als sie auf textunabhängige
Interaktionsformen und -funktionen, auf soziales Handeln im Raum öffentlicher
Wahrnehmung, auf mündliche face-to-face-, oder wohl genauer: body-to-body-Kommunikation
bezogen bleibt(1). Folgt man den für diesen Untersuchungsbereich vorliegenden
Arbeiten zu höfischem Interaktionsverhalten und höfischem Körperverständnis, wie sie
etwa von Harald Haferland(2), Joachim Bumke(3) oder Horst Wenzel(4)
vorliegen, so wird Verständigung in der oralen Kultur des Hochmittelalters mehr über den
Körper und die Sinne als über den Intellekt hergestellt. Neben der direkten, verbalen
Kommunikation dient auf diese Weise, sich gegenseitig implizierend, auch alles
Körperliche – Körperhaltung, Habitus, gestische und mimische Kompetenz, Modulation
der Stimme und Gesprächsverhalten, Verhalten und Handeln überhaupt – der
Anerkennungs- und Bestätigungsinteraktion im reziproken Wahrnehmungsfeld der
Öffentlichkeit.
Die Darstellungen, wie sie die Kunst und Literatur des Mittelalters überliefern, zeugen
hierbei von dem zutiefst ritualisierten Gepräge der mittelalterlichen Ständegesellschaft(5):
Jeder muß durch Gesten, die von allen geteilt und anerkannt werden, seine Zugehörigkeit
zu einer sozialen Gruppe unter Beweis stellen und immer wieder von neuem bestätigen. So
hat der Priester ein anderes Repertoire an Gesten als der Gaukler, der Gaukler ein anderes
als der Adlige und der Adlige wiederum ein anderes als der in einem Rechtsverfahren
urteilende Richter. Innerhalb von Gemeinschaften ebenso wie zwischen ihnen dienen Gesten
dazu, Hierarchien und Machtverhältnisse erkennbar zu machen, die mit Vorrangstellung oder
mit Ebenbürtigkeit zu tun haben. Aus diesem Grund ist es etwa in der aristokratischen
Gesellschaft von erheblicher Bedutung, wer wem den Steigbügel hält, auf welche Weise ein
besiegter Ritter dem Sieger einen Unterwerfungseid leistet oder wie viele Tränen ein
Herrscher bei der Begrüßung seiner Gäste vergießt. Wenngleich Gesten ebenso wie auch
das gesprochene Wort per se dem Bereich des Ephemeren angehören, hinterläßt ein
virtuoser Umgang mit dem Körper und gestische Kompetenz im Rahmen wechselseitiger
Interaktion ein nachdrückliches Bild, das der Ostentation von sozialem Stand,
statusgerechter Gesinnung und angemessener Erziehung dient.Gesten werden in
mittelalterlicher Zeit freilich nicht nur in literarischen oder künstlerischen Werken als
solche wahrgenommen, beschrieben und dargestellt. Der im weitesten Sinne als motus und
habitus, als Bewegung und Haltung des gesamten Körpers definierte gestus ist auch in der
theoretischen Auseinandersetzung der gelehrten Theologen und Kleriker Gegenstand
politischer, theologisch-philosophischer, vor allem aber ethisch-moralischer
Überlegungen; Überlegungen, die – wie die Untersuchungen von Jean-Claude Schmitt(6)
gezeigt haben – von einer Traditionsgebundenheit an die antiken und frühchristlichen
Autoren geprägt ist: Nach antikem wie mittelalterlichem Verständnis ist die Ausführung
von Gesten auf die innere Haltung des Menschen bezogen. Im Prozeß des Agierens wird die
äußere Erscheinung zum Ausdruck innerer Gesinnung und die Beschaffenheit der Seele durch
das körperliche Gebaren lesbar gemacht. Insbesondere unter moralisch-ethischen
Gesichtspunkten unterscheiden die christlichen Apologeten zwischen den "guten",
d.h. den nach christlichem Verständnis aus tugendhafter Lebensführung resultierenden,
sittlichen Gesten, und den "schlechten", lasterhaften Gesten, die als Indiz
einer lasterhaften Gesinnung gelten. Definitive Aussagen darüber, wie eine positiv
gewertete, tugendhafte Geste auszusehen habe, fehlen in den theoretischen Ausführungen
allerdings weitgehend.Im 12. Jahrhundert entwickelt beispielsweise Hugo von St. Viktor in
seiner für die mittelalterliche Gestikforschung fast schon prominenten Schrift über die
Erziehung der Klosterschüler 'De institutione novitiorum' eine Definition der
Geste, die in der Folgezeit immer wieder aufgegriffen wird: "Eine Geste", so
erklärt Hugo, "ist eine Bewegung und Ausdrucksmöglichkeit des Körpers in dem
Hinblick, daß sie jeglicher Handlung und Haltung angemessen ist."(7) Im Anschluß an diese Definition unternimmt Hugo eine
Klassifizierung der Gesten, nach der eine tugendhafte Geste in erster Linie durch ihre
Kontrastierung mit den lasterhaften Gesten bestimmt wird. Tugendhaftigkeit, so erläutert
er, sei die Mittellinie zwischen entgegengesetzten Lastern, Tugend unterliege der Regel
des rechten Maßes und äußere sich körperlich durch Gesten, die von dem Prinzip des
Nicht-Zuviel und Nicht-Zuwenig getragen seien. Nach diesen zunächst recht abstrakten
Bestimmungen veranschaulicht Hugo anhand populärer biblischer, vor allem
alttestamentarischer Figuren eingehender, was eine von Lasterhaftigkeit geprägte Geste
ausmacht. Mehrmals verweist er hierbei auf den heillosen Menschen, von dem die Sprüche
Salomos (Proverb. 6,12-15) behaupten, daß er mit trügerischem Mund dahergehe, mit den
Augen winke, mit den Füßen Zeichen gebe und mit den Fingern zeige. In einem der weiteren
Beispiele deutet Hugo die unverschämten und wollüstigen Bewegungen der Töchter Zions
(Iesaia 3,16) als Zeichen ihrer Laszivität und ihres Hochmuts: Stolz seien diese eitlen
Frauen, sie gingen mit aufgerecktem Hals, mit lüstern umherschweifenden Blicken und
tänzelnden Schritten einher(8).
Während Hugo von St. Viktor sein Material zur exemplarischen Beschreibung negativ
beurteilter Gesten auf recht traditionelle Weise im Rückgriff auf die verbürgte
Autorität der Heiligen Schrift gewinnt, wird in vielen anderen normativen und
theoretischen Schriften oder Kommentaren dem maßvollen gestus des vorbildlichen
Christenmenschen das übertriebene und moralisch bedenkliche Gestikulieren der Gaukler,
der gestus histrionici gegenübergestellt(9).
Immer wieder ist es das Bewegungsrepertoire, vor allem aber das Tanzen der Histrionen, das
als Negativbeispiel für schamloses Agieren im öffentlichen Raum und Beweis für die
soziale Inkompatibilität des Mimen angesprochen wird.
Den Spieleuten und ihrem audiovisuellen Entertainment begegnen die theologischen Autoren
weitgehend mit rigoroser Ablehnung. Im Rückgriff auf das Gedankengut der
frühchristlichen Autoritäten polemisiert die abendländische Kirche des Mittelalters
vehement gegen die Darbietungen der Histrionen, da sie im Repertoire der Gaukler nicht nur
alte heidnische Traditionen sowie vorchristliche Elemente wiedererkennt und infolgedessen
alles Schauspielerische dem satanischen Götzendienst zuordnet, sondern auch, weil sie das
übertriebene Gebaren der Schauspieler als Anstiftung zu Unkeuschkeit und als Gefährdung
der Moral fürchtet(10). Indem er den
Ursprung aller Spiele auf die Kultspiele zurückführt und das Theater als Verbrechen der
Idolatrie wertet, fordert beispielsweise Tertullian in seiner aszetischen Schrift gegen
die Schauspiele bereits Ende des 2. Jahrhunderts jeden Christen auf, sich den ungehörigen
Vorführungen fernzuhalten(11). Mit
zunehmender Festigung des Christentums werden die Glaubensanhänger durch zahlreiche
Bestimmungen der Konzilien unablässig angewiesen, Schauspiele sowie Feste und Gastmähler
zu meiden, bei denen Mimen auftreten. Die apostolischen Konstitutionen bestimmen sogar,
daß diejenigen, die Theater und Spiele besuchen, von der Taufe ausgeschlossen sein
sollen. Am härtesten von der Theaterfeindlichkeit betroffen sind freilich die mimischen
Darsteller selbst: Bereits im Jahr 452 wird ihnen durch die zweite Synode von Arras die
Kommunion verweigert, solange sie ihren Beruf nicht aufzugeben bereit sind(12). Im 12. Jahrhundert antwortet in diesem Sinne
beispielsweise auch Honorius von Autun auf die Frage eines Schülers, ob ioculatores
Hoffnung auf ewige Seligkeit hätten, knapp und pessimistisch mit einer Verneinung:
Spielleute seien im Grunde ministri Satanae, Diener des Teufels, von denen man sage, daß
sie Gott nicht gekannt hätten(13).
Trotz der apodiktischen Einstellung gegenüber den Histrionen belegen einige
mittelalterliche Quellen, daß die Spielmannsdarbietungen vom kirchlichen Standpunkt aus
unterschiedlich gewertet werden. So plädiert etwa Petrus Cantor in seiner 'Summa de
sacramentis' dafür, daß man zwischen zwei Arten der Spielleute zu unterscheiden
habe: Die Gaukler, die von alten Geschichten singen, um die Herzen mild zu stimmen,
müßten toleriert werden. Seiltänzer, Zauberer und Mimen jedoch seien schlicht
abzulehnen(14). Auf ähnliche Weise
unterteilt auch Thomas Chabham, ein Zeitgenosse Hugos von St. Viktor, in seinem von der
Forschung vielzitierten Traktat 'Summa confessorum' die durch Vielseitigkeit
ausgezeichnete heterogene Gruppe der Spielleute in drei Klassen: In der ersten Kategorie
nennt Thomas mit den Artisten und Tänzern diejenigen, "die ihre Körper durch
unanständige Sprünge (turpes saltus) oder schamlose Gesten (turpes gestus) verdrehen und
verbiegen und die ihre Körper auf liederliche Weise entblößen oder gräßliche Panzer
oder Masken tragen." All diese seien zur absoluten Verdammnis bestimmt, sofern sie
nicht gezwungen werden, ihren Beruf aufzugeben. Als zweite und dritte Gruppe sind nach
Thomas die fahrenden Possenreißer und die Musiker, die ohne festen Wohnsitz seien,
Schmach und Schande über andere verbreiten und die Menschen zur Unkeuschheit anstiften
würden, durchaus verurteilenswert. Als des Abendmahls würdig sind allein jene
ioculatores bezeichnet, die fürstliche Heldentaten oder die Wunder der Heiligen besingen,
weil sie mit ihrem Gesang die Zuhörer trösten und ihnen in ihren Ängsten beistehen,
nicht aber die Schändlichkeiten der Tänzer und Tänzerinnen begehen würden(15). Diesen beispielhaften Ausführungen läßt sich
entnehmen, daß histrionische Darbietungen nicht allein nach ihren Inhalten gewertet
werden. Das theologische Verwerfungsurteil über einen Gaukler lautet auch um so
drastischer, desto stärker seine Tätigkeit mit körperlicher Aktivität verbunden ist.
Bedenkt man hierbei die prinzipiell tanzfeindliche Einstellung der theologischen Gelehrten
von der Antike bis weit in die Neuzeit, so ist es kaum erstaunlich, daß unter den
moralisch verdächtigen Gauklervorführungen das Tanzen als die weitaus verwerflichste
Tätigkeit genannt wird.
Ebenso wie in ihrer Argumentation gegen die Gaukler beruft sich die geistliche Literatur
des Mittelalters in ihrer Polemik gegen das Tanzen weitgehend auf vorgegebene Konzepte der
frühchristlichen Kirche(16). Orientiert
an den patristischen Schriften nachkonstantinischer Provenienz ist das Tanzen nach
Sichtweise der Theologen der Folgezeit eine unsittliche Angelegenheit und ein Instrument
des Teufels, mit dem die Menschheit zu Untugend und Sünde verführt werde. Die Ursache
der frühchristlichen Diabolisierung des Tanzes liegt hauptsächlich darin, daß Tanz und
Musik aufgrund ihrer Ursprünge im heidnischen Kult von theologischer Seite als
Teufelsdienst und Medium heidnisch-religiöser Agitation, das dem Ideal christlicher
Religiosität diametral entgegensteht, interpretiert werden. Neben den angeführten
Bedenken gegen das Tanzen im Allgemeinen ist für die christlichen Prälaten ein weiterer
bedeutender Grund für die Verneinung des Theatertanzes im Besonderen durch das
öffentliche Auftreten von Frauen auf den Bühnenbrettern gegeben. Die schamlosen, ja
obszönen Bewegungen der erwerbsmäßigen Tänzerinnen werden als demoralisierend und als
Gefahr für das Sakrament der Ehe betrachtet, weil sie sexuelle Begierden und unkeusche
Gedanken erwecken würden. In kompromißloser Umkehrung der geforderten
ethisch-moralischen Werte findet das christliche Reinheitsgebot in den Tänzerinnen seinen
Gegenpol. Sie gelten als Huren, als professionelle Verursacherinnen männlicher
Triebturbulenzen und Verführerinnen jedes neuen Adam, sie sind als Sinnbild der Sünde
schlechthin stilisiert. Um die generelle weibliche Sündhaftigkeit zum Ausdruck zu
bringen, bedienen sich die christlichen Apologeten gewissermaßen auf umgekehrtem Weg
häufig des Vergleichs mit den berufsmäßigen Tänzerinnen. Demnach strebe jede
sündhafte Frau nach Putz und weltlicher Eitelkeit, nach Tanz und unbeherrschter Gebärde,
nach Entblößung und Schamlosigkeit, nach Unkeuschheit und Verführung, aber auch nach
jeglicher Form körperlicher Entäußerung im öffentlichen Raum.
Ein offenbar besonders geeignetes Beispiel zur Illustration der Sündhaftigkeit der
Tänzerinnen ist den christlichen Predigern die neutestamentarische Figur der Salome.
Ursache ihrer Stilisierung als Tochter Satans ist ihr seit zweitausend Jahren
unvergessener Tanz vor Herodes, der bekanntlich mit der Enthauptung Johannes des Täufers
endet. Jenseits historischer Kontingenz scheint den christlichen Seelenhütern kein Tanz
in seiner Verkehrtheit so perfekt wie dieser. Da die dramatische Geschichte über den Tod
des Täufers Johannes die wohl epochenübergreifend populärste biblische Tanzszene ist
und gerade die frühchristlichen und mittelalterlichen Kleriker die Salome-Darbietung in
großer Darstellungs- und Deutungsvielfalt unablässig als Negativbeispiel für das
histrionische Gestikulieren und Tanzen diskutieren, kommentieren und verwerfen, sei an
dieser Stelle die Handlung nach der etwas ausführlicheren Fassung des Markus-Evangeliums
(Kap. 6,17-29) kommentierend rekapituliert:
Der Tetrarch Herodes Antipas verstößt seine erste Gattin, um mit seiner Nichte Herodias,
der Frau seines noch lebenden Bruders Herodes Philippus, eine zweite Beziehung einzugehen.
Herodias bringt in dieses neue Verhältnis ihre Tochter Salome, ebenfalls Nichte des
Herodes, aus erster Ehe ein. Nach jüdischem Gesetz und den Bestimmungen des Buches
Levitikus (Kap.18,6; 20,21) wird die Vereinigung des Tetrarchen mit seiner Schwägerin und
Blutsverwandten als ehebrecherisch und inzestuös gewertet. Johannes Baptista übt an
dieser unerlaubten Verbindung Kritik, Herodes läßt ihn daraufhin in Ketten legen und
einkerkern, verzichtet aber auf weitere Maßregelungen, weil er von der Heiligkeit des
Täufers weiß und den Zorn des Volkes fürchtet. Die unversöhnlichere Zweitgattin
Herodias trachtet indessen nach dem Tod des Johannes. Eine günstige Gelegenheit ergibt
sich am festlich begangenen Geburtstag des Herodes, zu dem die privilegiertesten Männer
Galiläas geladen sind. Während des Gastmahls erscheint Herodes' Stieftochter
Salome, tanzt und gefällt den Gästen, vor allem aber Herodes so überaus wohl, daß er
schwört, ihr einen Wunsch zu gewähren, sei es auch die Hälfte seines Reiches(17). Nach kurzer Beratung durch ihre Mutter fern der
Festgesellschaft kehrt Salome zum Symposion zurück und verlangt von Herodes den Kopf des
Täufers in einer Schale zum Lohn für ihren Tanz. Da Herodes seinen Eid vor den Gästen,
d.h. vor Zeugen abgelegt hat, kann er diesen Wunsch zwar bereuen, muß aber der Forderung
nachkommen. Er läßt Johannes enthaupten und den Kopf der Stieftochter bringen, die ihn
wiederum ihrer Mutter übergibt. Die Leiche des Täufers wird daraufhin von seinen
Jüngern geborgen und begraben(18).
Bis auf die Bemerkung zu seiner wohlgefälligen Aufnahme und Wirkung beim Publikum sind
die Angaben zum Tanz an sich in den Evangelien auf ein spärliches filia Herodiadis
saltasset bzw. saltavit beschränkt. Die biblischen Darstellungen des dramatischen Endes
des Täufers lassen damit weder Rückschlüsse auf die choreographische Ausführung des
Tanzes zu, noch vermitteln sie eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber dieser
Bewegungsform(19). Es ist nicht Salomes
Tanz, sondern die Hinterlist ihrer Mutter Herodias, auf die es im Bibeltext ankommt. Erst
auf den Rat der Mutter wünscht die Tochter als grauenvollen Lohn für ihre Vorführung
von Herodes die Enthauptung. Salome kommt damit in der Geschichte eine sprachlose Rolle
zu. Ihre einzige verbale Äußerung ist die Forderung nach dem Täufer-Haupt, die ihr
jedoch von Herodias suffliert wird; die Mutter spricht durch den Mund der Tochter. Das
Verwerfliche der biblischen Tanzszene liegt allenfalls darin, daß eine Fürstentochter
während des Festmahls zur Unterhaltung der Gäste als Tänzerin auftritt(20). Darbietungen von Musikern, Sängern, Tänzern und
anderen Gauklern während eines Gastmahls sind in antiker Zeit durchaus üblich. Diese
Symposien sind allerdings dem männlichen Geschlecht vorbehalten, weibliche Anwesende sind
ausschließlich Tänzerinnen und Gauklerinnen, die unter dem moralischen Verdacht stehen,
Prostitution zu betreiben. Auch wenn Salome im Evangelientext keineswegs als Prostituierte
dargestellt ist, legt die Beschreibung des Festmahls die Tradition eines ausschließlich
von Männern wahrgenommenen antiken Symposions nahe (Salome muß die Festgesellschaft
verlassen, um ihre Mutter um Rat zu fragen). Die biblische Symposion-Situation liefert die
Grundlage der mittelalterlichen literarischen und ikonographischen Reinszenierungen der
Salome-Vorführung, in denen die Darbietung der Fürstentochter als künstlerischer Tanz
nach Art der Spielleute charakterisiert wird. Vor allem in den literarischen
Ausformulierungen der Episode wird Salome durch ihre häufige Apostrophierung als
saltatrix im Lateinischen und als springerin oder spilwîp im Mittelhochdeutschen
unmißverständlich der Welt der Spielleute zugeordnet. Die ihr von den theologischen
Prälaten zugeschriebenen Tanzbewegungen, die weit über die biblische Tanzerwähnung
hinausgehen, werden betont in Szene gesetzt, um Salomes bösartiges Inneres zum Ausdruck
zu bringen.
In seiner poetischen oder bildlichen Umsetzungen kommt der Salome-Tanz ausschließlich in
der religiös geprägten Kunst des Mittelalters vor und steht in engem Zusammenhang mit
dem zeitgenössischen philosophisch-theologischen Diskurs über das berufsmäßige Tanzen,
der zugleich, wie zu zeigen versucht wurde, ein Diskurs über das nach pastoraler Ansicht
verwerfliche Gestikulieren ist. Bei der Beschäftigung mit Texten und Bildern, für die
die mittelalterliche Kirche als Auftraggeberin verantwortlich zeichnet, müssen die an
diesem Thema interessierten wissenschaftlichen Disziplinen freilich über das
oberflächlich Sicht- bzw. Lesbare hinaus und mit weitgehendem Verzicht auf
fachspezifische Fragestellungen - etwa nach der Realitätsbezogenheit eines Denkmals - vor
allem der Frage nachgehen, welche Bedeutungen und Sinngehalte nach mittelalterlichem
Verständnis in den Kunstwerken enthalten sein könnten. Will man also die religiöse
Kunst des Hochmittelalters zum Sprechen bringen, so ist zu berücksichtigen - und hierin
schließe ich mich der Forderung des Altgermanisten Hugo Steger(21) an - , daß diese keine formale, rein dekorative
Ästhetik kennt, sondern gleichzeitig narrative, exegetisch-interpretierende und
didaktisch-vermittelnde Inhalte transportiert.
Zur Ikonographie und Typologie des Salomes-Tanzes im Mittelalter liegen bereits einige
Arbeiten von kunsthistorischer Seite vor(22).
Die meisten dieser Untersuchungen sind auf eine ordnende Bestandsaufnahme des Materials
beschränkt. Wenn ich im Folgenden auf die bereits vorhandenen Benennungen einzelner
Tanztypen wie etwa "Gauklertanz", "Handtanz" etc. verzichte, so liegt
das einerseits an dem inkonsequenten und von einander abweichenden Gebrauch dieser
Bezeichnungen in der Kunstwissenschaft, andererseits sind solche Benennungen m.E.
problematisch, weil sie selbst interpretierend sein können und insofern mögliche
weitergehende Interpretationen verdecken könnten. Die Bezeichnung "Gauklertanz"
für einen bestimmten Typus ist beispielsweise mißlich, weil alle mittelalterlichen
Salomedarstellungen auf das Millieu der Spielleute verweisen. Schließlich muß bei einer
Übernahme der kunsthistorischen Benennungen durch die Literaturwissenschaft bedacht
werden, daß Bilder statisch sind und jeweils nur eine, bei Simultandarstellungen
höchstens zwei Momentaufnahmen eines komplexen Bewegungsablaufs wiedergeben. In
literarischen Darstellungen werden indessen häufig mehrere dieser Bewegungen in einem
einzigen Textbeleg beschrieben, so daß der Verdacht naheliegt, daß es sich nicht um
verschiedene Tanzformen, sondern lediglich um mehrere Momentaufnahmen ein und desselben
Tanzes handelt. Hierzu einige Textbeispiele aus frühchristlicher und mittelalterlicher
Zeit: Über Salomes Tanz empört sich Ende des 4. Jahrhunderts etwa Ambrosius von Mailand.
Ihm zufolge rege nichts mehr zur Lüsternheit an, als ihre durch unsittliche Bewegungen
verursachte Entblößung jener Körperteile, die dem Auge normalerweise von Natur aus oder
durch Züchtigkeit entzogen seien; Salome spiele neckisch mit den Augen, verdrehe den
Nacken und lasse das gelöste Haar
fliegen, dieser Tanz könne zu recht eine Beleidigung Gottes genannt werden(23).
Im 5. Jahrhundert schreibt Basileus von Seleuca, die zum Tanz herausgeputzte Tochter sei
als getreues Ebenbild der zuchtlosen Mutter vor das Publikum eines Gastmahls gesprungen,
schamlose Blicke herumwerfend habe sie ihren Körper verrenkt und ihren Geist einem
Lusttaumel überlassen, die Arme habe sie gen Himmel gereckt und die Beine in die Höhe
geschwungen, herausschreiend vor aller Augen halbnackt ihre eigene Schändlichkeit
öffentlich gemacht(24). Noch im 12.
Jahrhundert stellt Theophanus Cerameus mit ähnlichen Beschreibungselementen einen Bezug
zum Dionysischen her. Nach ihm habe die saltatrix Salome, indem sie ihr Haar schüttelte,
sich unziemlich verdrehte, die Arme emporstreckte, die Brüste entblößte, die Füße
abwechselnd in die Höhe warf, durch die Geschwindigkeit der wirbelnden Bewegung ihren
Körper enthüllte und sogar ihre Scham den Blicken preisgab, tobend wie eine Bacchantin
getanzt(25). Einige in den patristischen
Kommentaren formelhaft wiederkehrenden Beschreibungsmerkmale des Salome-Tanzes – ihre
tranceartige Raserei, die mehr enthüllende als verdeckende Bekleidung, der
zurückgeworfene Kopf, das gelöste Haar, die nach oben gereckten Arme - assoziieren ein
Bild, das in spätantiker Zeit nicht unbekannt ist: Die Mänade. Diese Amalgamierung von
spielmännisch-diabolischen und heidnisch-dionysischen Elementen in den verschiedenen
Auslegungen dient vorrangig der theologischen Didaxe, durch die mit dem abschreckenden
Beispiel der tänzerischen Verführungsgewalt Salomes der berufsmäßige Tanz als
Teufelswerk verdammt werden soll. In diesen Kommentaren der Kirchenväter und den darin
immer wieder toposhaft verwendeten Charakteristika ihrer Tanzdarbietung liegen die
frühesten Quellen des mittelalterlichen Salome-Bildes. Mehr oder weniger angereichert,
aktualisiert und überzeichnet durch offenbar zeitgenössische Vorstellungen von
histrionischen Tanzweisen, schwinden in der Folgezeit zwar die mänadisch-bacchantischen
Züge der Bewegungen Salomes, doch sind diese Züge oft noch in Texten und Bildern des
Mittelalters erkennbar
Im Folgenden möchte ich mich auf Ausführungen zu den drei signifikantesten Tanztypen in
der Salome-Darstellung beschränken, die vom 11. bis 14. Jahrhundert in ganz Europa immer
wieder literarisch und ikonographisch dargestellt sind. Mein erstes Bildbeispiel, ein um
1020 entstandenes Bronzerelief an der Bernward-Säule im Hildesheimer Mariendom zeigt
einen zu dieser Zeit häufig dargestellten Tanztypus. Nach Torsten Hausamann, der sich in
seiner Arbeit mit der tanzenden Salome in der Kunst beschäftigt, gehören derartige
Tanzdarstellungen zu den letzten Zeugnissen einer langen Tradition, die bis zu den antiken
Mänaden zurückführen(26). Salome tanzt
hier mit einem erhobenen und einem in gerader Linie zum erhobenen Arm verlaufenden nach
unten gerichteten Arm. Mit seitlich geneigtem Kopf folgt die Blickrichtung der Figur dem
zu Boden weisenden Arm. Besonders auffällig ist der Hüftschwung mit vorgestrecktem Bauch
und das der Bewegungsrichtung folgende fließende Gewand. Diese Torsion des Körpers
findet sich auch in literarischen Salome-Beschreibungen, so berichtet z.B. bereits im 4.
Jahrhundert der spanische Kleriker Juvencus von Salomes "weichen rhythmischen
Hüftbewegungen"(27) und Petrus
Chrysologus spricht im 5. Jahrhundert von einer "fließenden und kunstfertigen
Bewegung des Bauches" (fluentibus ex arte visceribus)(28).
Paschasius Radbertus greift im 9. Jahrhundert die Fomulierung von Petrus erneut auf(29). Ende des 13. Jahrhunderts heißt es in der mhd.
Bibeldichtung 'Der Saelden Hort', daß man die springerin Salome während des
Gastmahls "fur und wider springen, sich prengen und biegen"(30) sah. Das Vorschieben von Hüfte und Bauch interpretieren
die theologischen "Bewegungsanalytiker" zum einen von der moralischen
Deutungsebene als weichliche und verführerische Geste, die die Laszivität Salomes zum
Ausdruck bringe. Darüber hinaus öffnen sich mit diesem Tanztypus aber auch
Möglichkeiten der heilsgeschichtlichen Lesart: Ist Dionysos der heidnische Gott der
Schauspiele, so ist Salome nach christlicher Deutung offenbar die ihm huldigende
Bacchantin. Aus ihrem im Bibeltext nur durch ein Wort erwähnten Tanz wird eine pagane
Darbietung und und ein ekstatischer Götzendienst zu Ehren heidnischer Götter, der die
Verworfenheit der Figur lesbar und damit diagnostizierbar erscheinen läßt
Bei einem zweiten, insbesondere in der Ikonographie des 13. und 14. Jahrhunderts
vertretenen Typus sind Salomes tänzerische Bewegungen weitgehend auf das Spiel mit Armen
und Händen beschränkt. Das von mir ausgewählte Bildbeispiel zeigt einen Ausschnitt aus
dem in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts angefertigten Kuppelmosaik des
Baptisteriums S. Giovanni in Florenz. Vor der Festtafel, an der Herodes und seine Gäste
sitzen, tanzt Salome zur Musik eines Fiedlers. Ihre Oberarme sind rechtwinklig vom Körper
abgehoben, ihr rechter Unterarm ist aufwärts, der linke mit nach außen gedrehter
Handfläche nach unten geneigt. Das gestenreiche Spiel ihrer Hände zeigt offensichtlich
das, was mit der in antiker Zeit geläufigen Formulierung manu loquax, mit
"geschwätziger Hand", bezeichnet wurde. Auch dafür finden sich entsprechende
literarische Beispiele: Auf die vielfach in den frühchristlichen Schriften erwähnten
erhobenen Arme habe ich bereits hingewiesen. In einer Ende des 13. Jahrhunderts anonym
verfaßten Predigt auf Johannes Baptista heißt es etwa: Salome "sprang und sang vor
dem tische vnd hat maniger hand geberde mit vrlaup gesprochen rechte als ein
spilweib."(31) Mit ähnlichem
Vokabular ist Salomes Tanz an einer Stelle in 'Der Saelden Hort' beschrieben:
"nach maniger hand geberden, si warf es [gemeint ist das Haupt des Täufers] uf die
erden."(32) Salome scheint hier nicht
mit Stimme und Mund, sondern mit der Sprache der Hände zu kommunizieren. Auf die oben
bereits angesprochene Sprachlosigkeit Salomes kommen die kirchlichen Kommentatoren häufig
zurück. Petrus Chrysologus etwa schreibt Salome animalische Züge zu: Bis diese
raubtierhafte Bestie ihre Beute nicht erhalten habe, behauptet Petrus, habe sie Schaum vor
dem Mund und knirsche mit den Zähnen(33).
Sie schreie und – so heißt es an anderer Stelle in deutlicher Anknüpfung an Evas
Sündenfall - zische wie eine Schlange, denn eine Schlange sei in dem Weib verborgen und
ihr unheilvolles Gift habe sich in ihrem Körper ergossen und von dort auch die Gäste mit
ihrer Raserei infiziert(34). Insofern
ließe sich die Handsprache Salomes in Zusammenhang mit ihrer verbalen
Artikulationsunfähigkeit deuten. Die Unfähigkeit, sich in der menschlichen Sprache
auszudrücken, interpretiert eine theologische Deutungstradition abermals als
Teufelsbesessenheit, da auch der Teufel nicht der menschlichen Sprache habhaft sei(35). Zu bedenken ist allerdings auch die kommunikative
Bedeutung von Handzeichen im musikalischen Leben des Mittelalters. Einige Texte, etwa eine
in dem lateinischen Versroman 'Ruodlieb' um 1050 beschriebene Tanzszene(36), legen nahe, daß zwischen Tänzern und Musikern
körperlich produzierte Zeichen ausgetauscht wurden, um etwa das Ende von Tanz und Musik
zu signalisieren. Die Mitbestimmung der Musik durch bestimmte Signale eines Tänzers gibt
es beispielsweise auch noch heutzutage im indischen oder afrikanischen Tanz.
Der m.E. interessanteste und deutungsreichste Tanztypus ist schließlich der akrobatische
Tanz: Angesprochen sind hiermit artistische Tanzbewegungen, die vom extrem rückwärts
geneigten Oberkörper über den Brückenschlag bis hin zum vollendeten Handstand
verschiedene Momente eines sogenannten Flic-Flac enthalten. Mein erstes Bildbeispiel für
diesen Bewegungskomplex zeigt eine Miniatur in einem um 1220 entstandenen englischen
Psalter. Im oberen Bildteil liegt eine Simultandarstellung vor, die mit Hilfe der deutlich
sichtbaren Redegesten zwischen den Hauptakteuren Herodias, Salome und Herodes mehrere
kommunikative Akte gleichzeitig wiedergibt: In oberen Register befindet sich Herodes
inmitten seiner Gäste an der Festtafel und weist mit seiner rechten Hand auf Salome, um
sie entweder zum Tanzen oder zur Wunschäußerung aufzufordern. Nach antiker Tradition vom
Männertisch getrennt sitzt Herodias auf einem Stuhl und weist mit einer Hand auf ihre
Tochter, mit der anderen zeigt sie als Leseanweisung auf die im unteren Bilddrittel
dargestellte Enthauptungsszene. Offenbar suffliert Herodias hier der Tochter die Forderung
nach dem Haupt des Täufers. Salome selbst ist in drei Phasen figuriert: Links stehend
dargestellt interagiert sie gestisch mit Herodes und äußert scheinbar ihre Forderung. Im
Zentrum der Darstellung tanzt sie mit weit zurückgebeugtem Oberkörper, mit den Händen
auf ihre Mutter und Johannes Baptista zeigend. Im Kellergewölbe unter dem Festsaal
vollführt der Henker sein blutiges Amt an Johannes, Salome empfängt mit Herodias
zugewandtem Gesicht das Haupt, nach dem die auf einem Faltstuhl sitzende Mutter bereits
verlangt.
Mein zweites Bildbeispiel zeigt eine Marginalie in einem Missale aus Amiens von 1323: Im
linken Bildteil steht Salome mit dem Haupt in den Händen an der Festtafel, an der
Herodes, Herodias und ein Gast in offenbar erregtem Gespräch sitzen, die rechte
Bildhälfte zeigt die tanzende Salome begleitet von einem Fiedler in extremer
Rückwärtsneigung, bei der ihre Hände bereits den Boden, ja sogar die eigenen Füße
berühren.
In meinem letzten Bildbeispiel, der gezeichneten Legende von Johannes Baptista im
sogenannten Krumauer Bildercodex, entstanden nach 1350, ist im mittleren Register –
dem Titulus "hic Herodes sedet in convivio, hic filia Herodis saltat"
entsprechend – ein auf Salome weisender Herodes mit zwei Gästen und die im Handstand
tanzende Fürstentochter dargestellt. An den äußeren Seiten der Zeichnung befinden sich
zwei Spielleute mit Saiteninstrumenten.
Bildliche Tanzdarstellungen wie die drei vorgestellten sind in der mittelalterlichen Kunst
des 11. bis 14 Jahrhunderts überaus geläufig. Insbesondere Darstellungen, die Salome
oder tanzende Gaukler und Gauklerinnen in der "Brücke"-Position zeigen, treten
in diesem Zeitraum häufig auf. In literarischen Tanzbeschreibungen finden sich
entsprechende Formulierungen, so ist auch in den oben zitierten Kommentaren von Basileus
von Seleuca und Theophanus Cerameus bereits von den in die Höhe geworfenen Beinen Salomes
und von ihrem verdrehten Körper die Rede. Dementspechend lautet es Ende des 12.
Jahrhunderts in einer mittelhochdeutschen Johannes-Baptista-Predigt Priester Konrads: sie
"spranch unde ubirwarf sich da vor dem tiske(37)
oder wiederum in der Bibeldichtung 'Der Saelden Hort': daz kint kam frolichen
springen [...] in sprungen es sich ubirwarf(38).
Das mittelhochdeutsche Verb ubirwerfen spricht zweifellos genau jene Bewegungselemente an,
die ein rückwärts gerichteter Handstandüberschlag erfordert. Zahlreiche Textbeispiele
aus der altfranzösischen und englischen Literatur ließen sich anschließen. In der
Interpretation der theologischen Exegeten öffnen sich mit der Vorstellung des
Nach-unten-gerichtet-Seins des Körpers zugleich allegorische und eschatologische
Bedeutungsebenen. Mit Salome steht auch die Welt verkehrt herum auf dem Kopf: Johannes als
praefigura Christi und Repräsentant der ecclesia erduldet aufgrund des Tanzes zwar den
Märtyrertod, gewinnt damit zugleich aber das ewige Leben, während die in
allegorisch-typologischer Deutung für die synagoga stehende Herodes-Sippe ihr irdisches
Leben fortführt, für den Mord aber mit ewiger Höllenqual gestraft wird(39). Auch in eschatologischer Hinsicht verweist der Handstand
bzw. die Brücke Salomes auf den Höllensturz: Auf zahlreichen bildlichen Darstellungen
des Jüngsten Gerichtes stürzen Verdammte in eben dieser Bewegung kopfüber rückwärts
in den Höllenschlund, während die Himmelsanwärter auf dem "rechten Weg" von
Petrus an der Himmelspforte empfangen werden.
Zweifellos liegen mit den von mir vorgestellten Tanzformen einige spekulativ verbleibende
Interpretationen vor. Unverkennbar aber kommen die jüngeren christlichen Interpretatoren
immer wieder auf die als "wahr" und "authentisch" geltenden
Äußerungen der älteren Autoritäten zurück, so daß in Form einer Art
"Zitiergemeinschaft" recht einheitliche Deutungen bis ins Mittelalter zustande
kommen. Die religiös-didaktischen Kunstwerke und die darin dargestellten ikonographischen
Gesten dienen vorrangig als Propagandainstrument der christlichen Kirche des Mittelalters;
mit ihnen wird nicht nur Salome, sondern die gesamte körperlich agierende Gauklerwelt in
sozialer Hinsicht desavouiert und in moralischer Hinsicht als unsittlich abgeurteilt.
Darüber hinaus haben diese Denkmäler auch eine abschreckende Funktion, denn wer sich
nach Art und Weise der Salome bewegt, d.h. um Lohn tanzt, oder wer sich wie Herodes und
seine Gäste von solchen Darbietungen fesseln läßt, der handelt engegen der christichen
Lehre und den erwartet ohne jegliche Hoffnung auf Errettung allein der ewige Tod. Salome,
die monströse Mänade und geschickte Artistin – das eine schließt das andere
durchaus nicht aus – demonstriert der Christenheit exemplarisch das Unheilsame der
gesamten Tanzkunst. Diese Zuschreibung bleibt über mehrere Jahrhunderte erhalten und
macht aus einer biblischen Gestalt ein theologisches Konstrukt von zwiespältiger
Faszination. Als Sinnbild einer Verkehrung der normativen Moralisierungsvorgaben steht
Salome und mit ihr jeder tanzende Gaukler als Ungeheuer im Mittelpunkt der
theologisch-philosophischen Erörterungen und ist in diesem Zusammenhang von evidentem
Nutzen, dienen die Darstellungen der Grenzüberschreitung doch der Affirmation der Norm.
In dem transitorischen Moment einer Bewegung des Körpers, in dem eine als diszipliniert
oder ekstatisch gewertete Geste über Partizipation oder Exklusion in einer Ordnung
bestimmt, ist das Verwerfliche, Negativ-Beurteilte insofern ein zentraler Bestandteil
jener Ordnung, die ihren Sinn erst durch diese Dynamik gewinnt.
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