Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Gestik
"Gestus histrionici". Zur Darstellung professioneller Tanzformen in Texten und Bildern des Mittelalters
Julia Zimmermann
Für die anthropologisch orientierte wissenschaftliche Forschung seit etwa den letzten 10-20 Jahren die literarische und kulturelle Bedeutsamkeit des menschlichen Körpers Gegenstand eingehender Untersuchungen. Zur Diskussion stehen insbesondere Fragestellungen nach seiner Lesbarkeit und der Wahrnehmbarkeit non-verbaler Zeichen. Für die Mediävistik von besonderem Interesse ist die Zeichenhaftigkeit des Körpers, die in der mittelalterlichen Literatur aufgezeigt wird und die in direktem Zusammenhang mit dem vieldiskutierten Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder "Aufführung und Schrift" steht. Angesprochen ist hiermit die Signifikanz non-verbaler Zeichen und die für die Verständigung wichtige sinnliche Wahrnehmung in einer weitgehend illiteraten Laiengesellschaft, von der auch die für diese Gesellschaft verfaßte, schriftlich fixierte Literatur Zeugnis ablegt – zumindest insofern als sie auf textunabhängige Interaktionsformen und -funktionen, auf soziales Handeln im Raum öffentlicher Wahrnehmung, auf mündliche face-to-face-, oder wohl genauer: body-to-body-Kommunikation bezogen bleibt(1). Folgt man den für diesen Untersuchungsbereich vorliegenden Arbeiten zu höfischem Interaktionsverhalten und höfischem Körperverständnis, wie sie etwa von Harald Haferland(2), Joachim Bumke(3) oder Horst Wenzel(4) vorliegen, so wird Verständigung in der oralen Kultur des Hochmittelalters mehr über den Körper und die Sinne als über den Intellekt hergestellt. Neben der direkten, verbalen Kommunikation dient auf diese Weise, sich gegenseitig implizierend, auch alles Körperliche – Körperhaltung, Habitus, gestische und mimische Kompetenz, Modulation der Stimme und Gesprächsverhalten, Verhalten und Handeln überhaupt – der Anerkennungs- und Bestätigungsinteraktion im reziproken Wahrnehmungsfeld der Öffentlichkeit.
Die Darstellungen, wie sie die Kunst und Literatur des Mittelalters überliefern, zeugen hierbei von dem zutiefst ritualisierten Gepräge der mittelalterlichen Ständegesellschaft(5): Jeder muß durch Gesten, die von allen geteilt und anerkannt werden, seine Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe unter Beweis stellen und immer wieder von neuem bestätigen. So hat der Priester ein anderes Repertoire an Gesten als der Gaukler, der Gaukler ein anderes als der Adlige und der Adlige wiederum ein anderes als der in einem Rechtsverfahren urteilende Richter. Innerhalb von Gemeinschaften ebenso wie zwischen ihnen dienen Gesten dazu, Hierarchien und Machtverhältnisse erkennbar zu machen, die mit Vorrangstellung oder mit Ebenbürtigkeit zu tun haben. Aus diesem Grund ist es etwa in der aristokratischen Gesellschaft von erheblicher Bedutung, wer wem den Steigbügel hält, auf welche Weise ein besiegter Ritter dem Sieger einen Unterwerfungseid leistet oder wie viele Tränen ein Herrscher bei der Begrüßung seiner Gäste vergießt. Wenngleich Gesten ebenso wie auch das gesprochene Wort per se dem Bereich des Ephemeren angehören, hinterläßt ein virtuoser Umgang mit dem Körper und gestische Kompetenz im Rahmen wechselseitiger Interaktion ein nachdrückliches Bild, das der Ostentation von sozialem Stand, statusgerechter Gesinnung und angemessener Erziehung dient.Gesten werden in mittelalterlicher Zeit freilich nicht nur in literarischen oder künstlerischen Werken als solche wahrgenommen, beschrieben und dargestellt. Der im weitesten Sinne als motus und habitus, als Bewegung und Haltung des gesamten Körpers definierte gestus ist auch in der theoretischen Auseinandersetzung der gelehrten Theologen und Kleriker Gegenstand politischer, theologisch-philosophischer, vor allem aber ethisch-moralischer Überlegungen; Überlegungen, die – wie die Untersuchungen von Jean-Claude Schmitt(6) gezeigt haben – von einer Traditionsgebundenheit an die antiken und frühchristlichen Autoren geprägt ist: Nach antikem wie mittelalterlichem Verständnis ist die Ausführung von Gesten auf die innere Haltung des Menschen bezogen. Im Prozeß des Agierens wird die äußere Erscheinung zum Ausdruck innerer Gesinnung und die Beschaffenheit der Seele durch das körperliche Gebaren lesbar gemacht. Insbesondere unter moralisch-ethischen Gesichtspunkten unterscheiden die christlichen Apologeten zwischen den "guten", d.h. den nach christlichem Verständnis aus tugendhafter Lebensführung resultierenden, sittlichen Gesten, und den "schlechten", lasterhaften Gesten, die als Indiz einer lasterhaften Gesinnung gelten. Definitive Aussagen darüber, wie eine positiv gewertete, tugendhafte Geste auszusehen habe, fehlen in den theoretischen Ausführungen allerdings weitgehend.Im 12. Jahrhundert entwickelt beispielsweise Hugo von St. Viktor in seiner für die mittelalterliche Gestikforschung fast schon prominenten Schrift über die Erziehung der Klosterschüler 'De institutione novitiorum' eine Definition der Geste, die in der Folgezeit immer wieder aufgegriffen wird: "Eine Geste", so erklärt Hugo, "ist eine Bewegung und Ausdrucksmöglichkeit des Körpers in dem Hinblick, daß sie jeglicher Handlung und Haltung angemessen ist."(7) Im Anschluß an diese Definition unternimmt Hugo eine Klassifizierung der Gesten, nach der eine tugendhafte Geste in erster Linie durch ihre Kontrastierung mit den lasterhaften Gesten bestimmt wird. Tugendhaftigkeit, so erläutert er, sei die Mittellinie zwischen entgegengesetzten Lastern, Tugend unterliege der Regel des rechten Maßes und äußere sich körperlich durch Gesten, die von dem Prinzip des Nicht-Zuviel und Nicht-Zuwenig getragen seien. Nach diesen zunächst recht abstrakten Bestimmungen veranschaulicht Hugo anhand populärer biblischer, vor allem alttestamentarischer Figuren eingehender, was eine von Lasterhaftigkeit geprägte Geste ausmacht. Mehrmals verweist er hierbei auf den heillosen Menschen, von dem die Sprüche Salomos (Proverb. 6,12-15) behaupten, daß er mit trügerischem Mund dahergehe, mit den Augen winke, mit den Füßen Zeichen gebe und mit den Fingern zeige. In einem der weiteren Beispiele deutet Hugo die unverschämten und wollüstigen Bewegungen der Töchter Zions (Iesaia 3,16) als Zeichen ihrer Laszivität und ihres Hochmuts: Stolz seien diese eitlen Frauen, sie gingen mit aufgerecktem Hals, mit lüstern umherschweifenden Blicken und tänzelnden Schritten einher(8).
Während Hugo von St. Viktor sein Material zur exemplarischen Beschreibung negativ beurteilter Gesten auf recht traditionelle Weise im Rückgriff auf die verbürgte Autorität der Heiligen Schrift gewinnt, wird in vielen anderen normativen und theoretischen Schriften oder Kommentaren dem maßvollen gestus des vorbildlichen Christenmenschen das übertriebene und moralisch bedenkliche Gestikulieren der Gaukler, der gestus histrionici gegenübergestellt(9). Immer wieder ist es das Bewegungsrepertoire, vor allem aber das Tanzen der Histrionen, das als Negativbeispiel für schamloses Agieren im öffentlichen Raum und Beweis für die soziale Inkompatibilität des Mimen angesprochen wird.
Den Spieleuten und ihrem audiovisuellen Entertainment begegnen die theologischen Autoren weitgehend mit rigoroser Ablehnung. Im Rückgriff auf das Gedankengut der frühchristlichen Autoritäten polemisiert die abendländische Kirche des Mittelalters vehement gegen die Darbietungen der Histrionen, da sie im Repertoire der Gaukler nicht nur alte heidnische Traditionen sowie vorchristliche Elemente wiedererkennt und infolgedessen alles Schauspielerische dem satanischen Götzendienst zuordnet, sondern auch, weil sie das übertriebene Gebaren der Schauspieler als Anstiftung zu Unkeuschkeit und als Gefährdung der Moral fürchtet(10). Indem er den Ursprung aller Spiele auf die Kultspiele zurückführt und das Theater als Verbrechen der Idolatrie wertet, fordert beispielsweise Tertullian in seiner aszetischen Schrift gegen die Schauspiele bereits Ende des 2. Jahrhunderts jeden Christen auf, sich den ungehörigen Vorführungen fernzuhalten(11). Mit zunehmender Festigung des Christentums werden die Glaubensanhänger durch zahlreiche Bestimmungen der Konzilien unablässig angewiesen, Schauspiele sowie Feste und Gastmähler zu meiden, bei denen Mimen auftreten. Die apostolischen Konstitutionen bestimmen sogar, daß diejenigen, die Theater und Spiele besuchen, von der Taufe ausgeschlossen sein sollen. Am härtesten von der Theaterfeindlichkeit betroffen sind freilich die mimischen Darsteller selbst: Bereits im Jahr 452 wird ihnen durch die zweite Synode von Arras die Kommunion verweigert, solange sie ihren Beruf nicht aufzugeben bereit sind(12). Im 12. Jahrhundert antwortet in diesem Sinne beispielsweise auch Honorius von Autun auf die Frage eines Schülers, ob ioculatores Hoffnung auf ewige Seligkeit hätten, knapp und pessimistisch mit einer Verneinung: Spielleute seien im Grunde ministri Satanae, Diener des Teufels, von denen man sage, daß sie Gott nicht gekannt hätten(13).
Trotz der apodiktischen Einstellung gegenüber den Histrionen belegen einige mittelalterliche Quellen, daß die Spielmannsdarbietungen vom kirchlichen Standpunkt aus unterschiedlich gewertet werden. So plädiert etwa Petrus Cantor in seiner 'Summa de sacramentis' dafür, daß man zwischen zwei Arten der Spielleute zu unterscheiden habe: Die Gaukler, die von alten Geschichten singen, um die Herzen mild zu stimmen, müßten toleriert werden. Seiltänzer, Zauberer und Mimen jedoch seien schlicht abzulehnen(14). Auf ähnliche Weise unterteilt auch Thomas Chabham, ein Zeitgenosse Hugos von St. Viktor, in seinem von der Forschung vielzitierten Traktat 'Summa confessorum' die durch Vielseitigkeit ausgezeichnete heterogene Gruppe der Spielleute in drei Klassen: In der ersten Kategorie nennt Thomas mit den Artisten und Tänzern diejenigen, "die ihre Körper durch unanständige Sprünge (turpes saltus) oder schamlose Gesten (turpes gestus) verdrehen und verbiegen und die ihre Körper auf liederliche Weise entblößen oder gräßliche Panzer oder Masken tragen." All diese seien zur absoluten Verdammnis bestimmt, sofern sie nicht gezwungen werden, ihren Beruf aufzugeben. Als zweite und dritte Gruppe sind nach Thomas die fahrenden Possenreißer und die Musiker, die ohne festen Wohnsitz seien, Schmach und Schande über andere verbreiten und die Menschen zur Unkeuschheit anstiften würden, durchaus verurteilenswert. Als des Abendmahls würdig sind allein jene ioculatores bezeichnet, die fürstliche Heldentaten oder die Wunder der Heiligen besingen, weil sie mit ihrem Gesang die Zuhörer trösten und ihnen in ihren Ängsten beistehen, nicht aber die Schändlichkeiten der Tänzer und Tänzerinnen begehen würden(15). Diesen beispielhaften Ausführungen läßt sich entnehmen, daß histrionische Darbietungen nicht allein nach ihren Inhalten gewertet werden. Das theologische Verwerfungsurteil über einen Gaukler lautet auch um so drastischer, desto stärker seine Tätigkeit mit körperlicher Aktivität verbunden ist. Bedenkt man hierbei die prinzipiell tanzfeindliche Einstellung der theologischen Gelehrten von der Antike bis weit in die Neuzeit, so ist es kaum erstaunlich, daß unter den moralisch verdächtigen Gauklervorführungen das Tanzen als die weitaus verwerflichste Tätigkeit genannt wird.
Ebenso wie in ihrer Argumentation gegen die Gaukler beruft sich die geistliche Literatur des Mittelalters in ihrer Polemik gegen das Tanzen weitgehend auf vorgegebene Konzepte der frühchristlichen Kirche(16). Orientiert an den patristischen Schriften nachkonstantinischer Provenienz ist das Tanzen nach Sichtweise der Theologen der Folgezeit eine unsittliche Angelegenheit und ein Instrument des Teufels, mit dem die Menschheit zu Untugend und Sünde verführt werde. Die Ursache der frühchristlichen Diabolisierung des Tanzes liegt hauptsächlich darin, daß Tanz und Musik aufgrund ihrer Ursprünge im heidnischen Kult von theologischer Seite als Teufelsdienst und Medium heidnisch-religiöser Agitation, das dem Ideal christlicher Religiosität diametral entgegensteht, interpretiert werden. Neben den angeführten Bedenken gegen das Tanzen im Allgemeinen ist für die christlichen Prälaten ein weiterer bedeutender Grund für die Verneinung des Theatertanzes im Besonderen durch das öffentliche Auftreten von Frauen auf den Bühnenbrettern gegeben. Die schamlosen, ja obszönen Bewegungen der erwerbsmäßigen Tänzerinnen werden als demoralisierend und als Gefahr für das Sakrament der Ehe betrachtet, weil sie sexuelle Begierden und unkeusche Gedanken erwecken würden. In kompromißloser Umkehrung der geforderten ethisch-moralischen Werte findet das christliche Reinheitsgebot in den Tänzerinnen seinen Gegenpol. Sie gelten als Huren, als professionelle Verursacherinnen männlicher Triebturbulenzen und Verführerinnen jedes neuen Adam, sie sind als Sinnbild der Sünde schlechthin stilisiert. Um die generelle weibliche Sündhaftigkeit zum Ausdruck zu bringen, bedienen sich die christlichen Apologeten gewissermaßen auf umgekehrtem Weg häufig des Vergleichs mit den berufsmäßigen Tänzerinnen. Demnach strebe jede sündhafte Frau nach Putz und weltlicher Eitelkeit, nach Tanz und unbeherrschter Gebärde, nach Entblößung und Schamlosigkeit, nach Unkeuschheit und Verführung, aber auch nach jeglicher Form körperlicher Entäußerung im öffentlichen Raum.
Ein offenbar besonders geeignetes Beispiel zur Illustration der Sündhaftigkeit der Tänzerinnen ist den christlichen Predigern die neutestamentarische Figur der Salome. Ursache ihrer Stilisierung als Tochter Satans ist ihr seit zweitausend Jahren unvergessener Tanz vor Herodes, der bekanntlich mit der Enthauptung Johannes des Täufers endet. Jenseits historischer Kontingenz scheint den christlichen Seelenhütern kein Tanz in seiner Verkehrtheit so perfekt wie dieser. Da die dramatische Geschichte über den Tod des Täufers Johannes die wohl epochenübergreifend populärste biblische Tanzszene ist und gerade die frühchristlichen und mittelalterlichen Kleriker die Salome-Darbietung in großer Darstellungs- und Deutungsvielfalt unablässig als Negativbeispiel für das histrionische Gestikulieren und Tanzen diskutieren, kommentieren und verwerfen, sei an dieser Stelle die Handlung nach der etwas ausführlicheren Fassung des Markus-Evangeliums (Kap. 6,17-29) kommentierend rekapituliert:
Der Tetrarch Herodes Antipas verstößt seine erste Gattin, um mit seiner Nichte Herodias, der Frau seines noch lebenden Bruders Herodes Philippus, eine zweite Beziehung einzugehen. Herodias bringt in dieses neue Verhältnis ihre Tochter Salome, ebenfalls Nichte des Herodes, aus erster Ehe ein. Nach jüdischem Gesetz und den Bestimmungen des Buches Levitikus (Kap.18,6; 20,21) wird die Vereinigung des Tetrarchen mit seiner Schwägerin und Blutsverwandten als ehebrecherisch und inzestuös gewertet. Johannes Baptista übt an dieser unerlaubten Verbindung Kritik, Herodes läßt ihn daraufhin in Ketten legen und einkerkern, verzichtet aber auf weitere Maßregelungen, weil er von der Heiligkeit des Täufers weiß und den Zorn des Volkes fürchtet. Die unversöhnlichere Zweitgattin Herodias trachtet indessen nach dem Tod des Johannes. Eine günstige Gelegenheit ergibt sich am festlich begangenen Geburtstag des Herodes, zu dem die privilegiertesten Männer Galiläas geladen sind. Während des Gastmahls erscheint Herodes' Stieftochter Salome, tanzt und gefällt den Gästen, vor allem aber Herodes so überaus wohl, daß er schwört, ihr einen Wunsch zu gewähren, sei es auch die Hälfte seines Reiches(17). Nach kurzer Beratung durch ihre Mutter fern der Festgesellschaft kehrt Salome zum Symposion zurück und verlangt von Herodes den Kopf des Täufers in einer Schale zum Lohn für ihren Tanz. Da Herodes seinen Eid vor den Gästen, d.h. vor Zeugen abgelegt hat, kann er diesen Wunsch zwar bereuen, muß aber der Forderung nachkommen. Er läßt Johannes enthaupten und den Kopf der Stieftochter bringen, die ihn wiederum ihrer Mutter übergibt. Die Leiche des Täufers wird daraufhin von seinen Jüngern geborgen und begraben(18).
Bis auf die Bemerkung zu seiner wohlgefälligen Aufnahme und Wirkung beim Publikum sind die Angaben zum Tanz an sich in den Evangelien auf ein spärliches filia Herodiadis saltasset bzw. saltavit beschränkt. Die biblischen Darstellungen des dramatischen Endes des Täufers lassen damit weder Rückschlüsse auf die choreographische Ausführung des Tanzes zu, noch vermitteln sie eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber dieser Bewegungsform(19). Es ist nicht Salomes Tanz, sondern die Hinterlist ihrer Mutter Herodias, auf die es im Bibeltext ankommt. Erst auf den Rat der Mutter wünscht die Tochter als grauenvollen Lohn für ihre Vorführung von Herodes die Enthauptung. Salome kommt damit in der Geschichte eine sprachlose Rolle zu. Ihre einzige verbale Äußerung ist die Forderung nach dem Täufer-Haupt, die ihr jedoch von Herodias suffliert wird; die Mutter spricht durch den Mund der Tochter. Das Verwerfliche der biblischen Tanzszene liegt allenfalls darin, daß eine Fürstentochter während des Festmahls zur Unterhaltung der Gäste als Tänzerin auftritt(20). Darbietungen von Musikern, Sängern, Tänzern und anderen Gauklern während eines Gastmahls sind in antiker Zeit durchaus üblich. Diese Symposien sind allerdings dem männlichen Geschlecht vorbehalten, weibliche Anwesende sind ausschließlich Tänzerinnen und Gauklerinnen, die unter dem moralischen Verdacht stehen, Prostitution zu betreiben. Auch wenn Salome im Evangelientext keineswegs als Prostituierte dargestellt ist, legt die Beschreibung des Festmahls die Tradition eines ausschließlich von Männern wahrgenommenen antiken Symposions nahe (Salome muß die Festgesellschaft verlassen, um ihre Mutter um Rat zu fragen). Die biblische Symposion-Situation liefert die Grundlage der mittelalterlichen literarischen und ikonographischen Reinszenierungen der Salome-Vorführung, in denen die Darbietung der Fürstentochter als künstlerischer Tanz nach Art der Spielleute charakterisiert wird. Vor allem in den literarischen Ausformulierungen der Episode wird Salome durch ihre häufige Apostrophierung als saltatrix im Lateinischen und als springerin oder spilwîp im Mittelhochdeutschen unmißverständlich der Welt der Spielleute zugeordnet. Die ihr von den theologischen Prälaten zugeschriebenen Tanzbewegungen, die weit über die biblische Tanzerwähnung hinausgehen, werden betont in Szene gesetzt, um Salomes bösartiges Inneres zum Ausdruck zu bringen.
In seiner poetischen oder bildlichen Umsetzungen kommt der Salome-Tanz ausschließlich in der religiös geprägten Kunst des Mittelalters vor und steht in engem Zusammenhang mit dem zeitgenössischen philosophisch-theologischen Diskurs über das berufsmäßige Tanzen, der zugleich, wie zu zeigen versucht wurde, ein Diskurs über das nach pastoraler Ansicht verwerfliche Gestikulieren ist. Bei der Beschäftigung mit Texten und Bildern, für die die mittelalterliche Kirche als Auftraggeberin verantwortlich zeichnet, müssen die an diesem Thema interessierten wissenschaftlichen Disziplinen freilich über das oberflächlich Sicht- bzw. Lesbare hinaus und mit weitgehendem Verzicht auf fachspezifische Fragestellungen - etwa nach der Realitätsbezogenheit eines Denkmals - vor allem der Frage nachgehen, welche Bedeutungen und Sinngehalte nach mittelalterlichem Verständnis in den Kunstwerken enthalten sein könnten. Will man also die religiöse Kunst des Hochmittelalters zum Sprechen bringen, so ist zu berücksichtigen - und hierin schließe ich mich der Forderung des Altgermanisten Hugo Steger(21) an - , daß diese keine formale, rein dekorative Ästhetik kennt, sondern gleichzeitig narrative, exegetisch-interpretierende und didaktisch-vermittelnde Inhalte transportiert.
Zur Ikonographie und Typologie des Salomes-Tanzes im Mittelalter liegen bereits einige Arbeiten von kunsthistorischer Seite vor(22). Die meisten dieser Untersuchungen sind auf eine ordnende Bestandsaufnahme des Materials beschränkt. Wenn ich im Folgenden auf die bereits vorhandenen Benennungen einzelner Tanztypen wie etwa "Gauklertanz", "Handtanz" etc. verzichte, so liegt das einerseits an dem inkonsequenten und von einander abweichenden Gebrauch dieser Bezeichnungen in der Kunstwissenschaft, andererseits sind solche Benennungen m.E. problematisch, weil sie selbst interpretierend sein können und insofern mögliche weitergehende Interpretationen verdecken könnten. Die Bezeichnung "Gauklertanz" für einen bestimmten Typus ist beispielsweise mißlich, weil alle mittelalterlichen Salomedarstellungen auf das Millieu der Spielleute verweisen. Schließlich muß bei einer Übernahme der kunsthistorischen Benennungen durch die Literaturwissenschaft bedacht werden, daß Bilder statisch sind und jeweils nur eine, bei Simultandarstellungen höchstens zwei Momentaufnahmen eines komplexen Bewegungsablaufs wiedergeben. In literarischen Darstellungen werden indessen häufig mehrere dieser Bewegungen in einem einzigen Textbeleg beschrieben, so daß der Verdacht naheliegt, daß es sich nicht um verschiedene Tanzformen, sondern lediglich um mehrere Momentaufnahmen ein und desselben Tanzes handelt. Hierzu einige Textbeispiele aus frühchristlicher und mittelalterlicher Zeit: Über Salomes Tanz empört sich Ende des 4. Jahrhunderts etwa Ambrosius von Mailand. Ihm zufolge rege nichts mehr zur Lüsternheit an, als ihre durch unsittliche Bewegungen verursachte Entblößung jener Körperteile, die dem Auge normalerweise von Natur aus oder durch Züchtigkeit entzogen seien; Salome spiele neckisch mit den Augen, verdrehe den Nacken und lasse das gelöste Haar fliegen, dieser Tanz könne zu recht eine Beleidigung Gottes genannt werden(23).
Im 5. Jahrhundert schreibt Basileus von Seleuca, die zum Tanz herausgeputzte Tochter sei als getreues Ebenbild der zuchtlosen Mutter vor das Publikum eines Gastmahls gesprungen, schamlose Blicke herumwerfend habe sie ihren Körper verrenkt und ihren Geist einem Lusttaumel überlassen, die Arme habe sie gen Himmel gereckt und die Beine in die Höhe geschwungen, herausschreiend vor aller Augen halbnackt ihre eigene Schändlichkeit öffentlich gemacht(24). Noch im 12. Jahrhundert stellt Theophanus Cerameus mit ähnlichen Beschreibungselementen einen Bezug zum Dionysischen her. Nach ihm habe die saltatrix Salome, indem sie ihr Haar schüttelte, sich unziemlich verdrehte, die Arme emporstreckte, die Brüste entblößte, die Füße abwechselnd in die Höhe warf, durch die Geschwindigkeit der wirbelnden Bewegung ihren Körper enthüllte und sogar ihre Scham den Blicken preisgab, tobend wie eine Bacchantin getanzt(25). Einige in den patristischen Kommentaren formelhaft wiederkehrenden Beschreibungsmerkmale des Salome-Tanzes – ihre tranceartige Raserei, die mehr enthüllende als verdeckende Bekleidung, der zurückgeworfene Kopf, das gelöste Haar, die nach oben gereckten Arme - assoziieren ein Bild, das in spätantiker Zeit nicht unbekannt ist: Die Mänade. Diese Amalgamierung von spielmännisch-diabolischen und heidnisch-dionysischen Elementen in den verschiedenen Auslegungen dient vorrangig der theologischen Didaxe, durch die mit dem abschreckenden Beispiel der tänzerischen Verführungsgewalt Salomes der berufsmäßige Tanz als Teufelswerk verdammt werden soll. In diesen Kommentaren der Kirchenväter und den darin immer wieder toposhaft verwendeten Charakteristika ihrer Tanzdarbietung liegen die frühesten Quellen des mittelalterlichen Salome-Bildes. Mehr oder weniger angereichert, aktualisiert und überzeichnet durch offenbar zeitgenössische Vorstellungen von histrionischen Tanzweisen, schwinden in der Folgezeit zwar die mänadisch-bacchantischen Züge der Bewegungen Salomes, doch sind diese Züge oft noch in Texten und Bildern des Mittelalters erkennbar
Im Folgenden möchte ich mich auf Ausführungen zu den drei signifikantesten Tanztypen in der Salome-Darstellung beschränken, die vom 11. bis 14. Jahrhundert in ganz Europa immer wieder literarisch und ikonographisch dargestellt sind. Mein erstes Bildbeispiel, ein um 1020 entstandenes Bronzerelief an der Bernward-Säule im Hildesheimer Mariendom zeigt einen zu dieser Zeit häufig dargestellten Tanztypus. Nach Torsten Hausamann, der sich in seiner Arbeit mit der tanzenden Salome in der Kunst beschäftigt, gehören derartige Tanzdarstellungen zu den letzten Zeugnissen einer langen Tradition, die bis zu den antiken Mänaden zurückführen(26). Salome tanzt hier mit einem erhobenen und einem in gerader Linie zum erhobenen Arm verlaufenden nach unten gerichteten Arm. Mit seitlich geneigtem Kopf folgt die Blickrichtung der Figur dem zu Boden weisenden Arm. Besonders auffällig ist der Hüftschwung mit vorgestrecktem Bauch und das der Bewegungsrichtung folgende fließende Gewand. Diese Torsion des Körpers findet sich auch in literarischen Salome-Beschreibungen, so berichtet z.B. bereits im 4. Jahrhundert der spanische Kleriker Juvencus von Salomes "weichen rhythmischen Hüftbewegungen"(27) und Petrus Chrysologus spricht im 5. Jahrhundert von einer "fließenden und kunstfertigen Bewegung des Bauches" (fluentibus ex arte visceribus)(28). Paschasius Radbertus greift im 9. Jahrhundert die Fomulierung von Petrus erneut auf(29). Ende des 13. Jahrhunderts heißt es in der mhd. Bibeldichtung 'Der Saelden Hort', daß man die springerin Salome während des Gastmahls "fur und wider springen, sich prengen und biegen"(30) sah. Das Vorschieben von Hüfte und Bauch interpretieren die theologischen "Bewegungsanalytiker" zum einen von der moralischen Deutungsebene als weichliche und verführerische Geste, die die Laszivität Salomes zum Ausdruck bringe. Darüber hinaus öffnen sich mit diesem Tanztypus aber auch Möglichkeiten der heilsgeschichtlichen Lesart: Ist Dionysos der heidnische Gott der Schauspiele, so ist Salome nach christlicher Deutung offenbar die ihm huldigende Bacchantin. Aus ihrem im Bibeltext nur durch ein Wort erwähnten Tanz wird eine pagane Darbietung und und ein ekstatischer Götzendienst zu Ehren heidnischer Götter, der die Verworfenheit der Figur lesbar und damit diagnostizierbar erscheinen läßt
Bei einem zweiten, insbesondere in der Ikonographie des 13. und 14. Jahrhunderts vertretenen Typus sind Salomes tänzerische Bewegungen weitgehend auf das Spiel mit Armen und Händen beschränkt. Das von mir ausgewählte Bildbeispiel zeigt einen Ausschnitt aus dem in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts angefertigten Kuppelmosaik des Baptisteriums S. Giovanni in Florenz. Vor der Festtafel, an der Herodes und seine Gäste sitzen, tanzt Salome zur Musik eines Fiedlers. Ihre Oberarme sind rechtwinklig vom Körper abgehoben, ihr rechter Unterarm ist aufwärts, der linke mit nach außen gedrehter Handfläche nach unten geneigt. Das gestenreiche Spiel ihrer Hände zeigt offensichtlich das, was mit der in antiker Zeit geläufigen Formulierung manu loquax, mit "geschwätziger Hand", bezeichnet wurde. Auch dafür finden sich entsprechende literarische Beispiele: Auf die vielfach in den frühchristlichen Schriften erwähnten erhobenen Arme habe ich bereits hingewiesen. In einer Ende des 13. Jahrhunderts anonym verfaßten Predigt auf Johannes Baptista heißt es etwa: Salome "sprang und sang vor dem tische vnd hat maniger hand geberde mit vrlaup gesprochen rechte als ein spilweib."(31) Mit ähnlichem Vokabular ist Salomes Tanz an einer Stelle in 'Der Saelden Hort' beschrieben: "nach maniger hand geberden, si warf es [gemeint ist das Haupt des Täufers] uf die erden."(32) Salome scheint hier nicht mit Stimme und Mund, sondern mit der Sprache der Hände zu kommunizieren. Auf die oben bereits angesprochene Sprachlosigkeit Salomes kommen die kirchlichen Kommentatoren häufig zurück. Petrus Chrysologus etwa schreibt Salome animalische Züge zu: Bis diese raubtierhafte Bestie ihre Beute nicht erhalten habe, behauptet Petrus, habe sie Schaum vor dem Mund und knirsche mit den Zähnen(33). Sie schreie und – so heißt es an anderer Stelle in deutlicher Anknüpfung an Evas Sündenfall - zische wie eine Schlange, denn eine Schlange sei in dem Weib verborgen und ihr unheilvolles Gift habe sich in ihrem Körper ergossen und von dort auch die Gäste mit ihrer Raserei infiziert(34). Insofern ließe sich die Handsprache Salomes in Zusammenhang mit ihrer verbalen Artikulationsunfähigkeit deuten. Die Unfähigkeit, sich in der menschlichen Sprache auszudrücken, interpretiert eine theologische Deutungstradition abermals als Teufelsbesessenheit, da auch der Teufel nicht der menschlichen Sprache habhaft sei(35). Zu bedenken ist allerdings auch die kommunikative Bedeutung von Handzeichen im musikalischen Leben des Mittelalters. Einige Texte, etwa eine in dem lateinischen Versroman 'Ruodlieb' um 1050 beschriebene Tanzszene(36), legen nahe, daß zwischen Tänzern und Musikern körperlich produzierte Zeichen ausgetauscht wurden, um etwa das Ende von Tanz und Musik zu signalisieren. Die Mitbestimmung der Musik durch bestimmte Signale eines Tänzers gibt es beispielsweise auch noch heutzutage im indischen oder afrikanischen Tanz.
Der m.E. interessanteste und deutungsreichste Tanztypus ist schließlich der akrobatische Tanz: Angesprochen sind hiermit artistische Tanzbewegungen, die vom extrem rückwärts geneigten Oberkörper über den Brückenschlag bis hin zum vollendeten Handstand verschiedene Momente eines sogenannten Flic-Flac enthalten. Mein erstes Bildbeispiel für diesen Bewegungskomplex zeigt eine Miniatur in einem um 1220 entstandenen englischen Psalter. Im oberen Bildteil liegt eine Simultandarstellung vor, die mit Hilfe der deutlich sichtbaren Redegesten zwischen den Hauptakteuren Herodias, Salome und Herodes mehrere kommunikative Akte gleichzeitig wiedergibt: In oberen Register befindet sich Herodes inmitten seiner Gäste an der Festtafel und weist mit seiner rechten Hand auf Salome, um sie entweder zum Tanzen oder zur Wunschäußerung aufzufordern. Nach antiker Tradition vom Männertisch getrennt sitzt Herodias auf einem Stuhl und weist mit einer Hand auf ihre Tochter, mit der anderen zeigt sie als Leseanweisung auf die im unteren Bilddrittel dargestellte Enthauptungsszene. Offenbar suffliert Herodias hier der Tochter die Forderung nach dem Haupt des Täufers. Salome selbst ist in drei Phasen figuriert: Links stehend dargestellt interagiert sie gestisch mit Herodes und äußert scheinbar ihre Forderung. Im Zentrum der Darstellung tanzt sie mit weit zurückgebeugtem Oberkörper, mit den Händen auf ihre Mutter und Johannes Baptista zeigend. Im Kellergewölbe unter dem Festsaal vollführt der Henker sein blutiges Amt an Johannes, Salome empfängt mit Herodias zugewandtem Gesicht das Haupt, nach dem die auf einem Faltstuhl sitzende Mutter bereits verlangt.
Mein zweites Bildbeispiel zeigt eine Marginalie in einem Missale aus Amiens von 1323: Im linken Bildteil steht Salome mit dem Haupt in den Händen an der Festtafel, an der Herodes, Herodias und ein Gast in offenbar erregtem Gespräch sitzen, die rechte Bildhälfte zeigt die tanzende Salome begleitet von einem Fiedler in extremer Rückwärtsneigung, bei der ihre Hände bereits den Boden, ja sogar die eigenen Füße berühren.
In meinem letzten Bildbeispiel, der gezeichneten Legende von Johannes Baptista im sogenannten Krumauer Bildercodex, entstanden nach 1350, ist im mittleren Register – dem Titulus "hic Herodes sedet in convivio, hic filia Herodis saltat" entsprechend – ein auf Salome weisender Herodes mit zwei Gästen und die im Handstand tanzende Fürstentochter dargestellt. An den äußeren Seiten der Zeichnung befinden sich zwei Spielleute mit Saiteninstrumenten.
Bildliche Tanzdarstellungen wie die drei vorgestellten sind in der mittelalterlichen Kunst des 11. bis 14 Jahrhunderts überaus geläufig. Insbesondere Darstellungen, die Salome oder tanzende Gaukler und Gauklerinnen in der "Brücke"-Position zeigen, treten in diesem Zeitraum häufig auf. In literarischen Tanzbeschreibungen finden sich entsprechende Formulierungen, so ist auch in den oben zitierten Kommentaren von Basileus von Seleuca und Theophanus Cerameus bereits von den in die Höhe geworfenen Beinen Salomes und von ihrem verdrehten Körper die Rede. Dementspechend lautet es Ende des 12. Jahrhunderts in einer mittelhochdeutschen Johannes-Baptista-Predigt Priester Konrads: sie "spranch unde ubirwarf sich da vor dem tiske(37) oder wiederum in der Bibeldichtung 'Der Saelden Hort': daz kint kam frolichen springen [...] in sprungen es sich ubirwarf(38). Das mittelhochdeutsche Verb ubirwerfen spricht zweifellos genau jene Bewegungselemente an, die ein rückwärts gerichteter Handstandüberschlag erfordert. Zahlreiche Textbeispiele aus der altfranzösischen und englischen Literatur ließen sich anschließen. In der Interpretation der theologischen Exegeten öffnen sich mit der Vorstellung des Nach-unten-gerichtet-Seins des Körpers zugleich allegorische und eschatologische Bedeutungsebenen. Mit Salome steht auch die Welt verkehrt herum auf dem Kopf: Johannes als praefigura Christi und Repräsentant der ecclesia erduldet aufgrund des Tanzes zwar den Märtyrertod, gewinnt damit zugleich aber das ewige Leben, während die in allegorisch-typologischer Deutung für die synagoga stehende Herodes-Sippe ihr irdisches Leben fortführt, für den Mord aber mit ewiger Höllenqual gestraft wird(39). Auch in eschatologischer Hinsicht verweist der Handstand bzw. die Brücke Salomes auf den Höllensturz: Auf zahlreichen bildlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichtes stürzen Verdammte in eben dieser Bewegung kopfüber rückwärts in den Höllenschlund, während die Himmelsanwärter auf dem "rechten Weg" von Petrus an der Himmelspforte empfangen werden.
Zweifellos liegen mit den von mir vorgestellten Tanzformen einige spekulativ verbleibende Interpretationen vor. Unverkennbar aber kommen die jüngeren christlichen Interpretatoren immer wieder auf die als "wahr" und "authentisch" geltenden Äußerungen der älteren Autoritäten zurück, so daß in Form einer Art "Zitiergemeinschaft" recht einheitliche Deutungen bis ins Mittelalter zustande kommen. Die religiös-didaktischen Kunstwerke und die darin dargestellten ikonographischen Gesten dienen vorrangig als Propagandainstrument der christlichen Kirche des Mittelalters; mit ihnen wird nicht nur Salome, sondern die gesamte körperlich agierende Gauklerwelt in sozialer Hinsicht desavouiert und in moralischer Hinsicht als unsittlich abgeurteilt. Darüber hinaus haben diese Denkmäler auch eine abschreckende Funktion, denn wer sich nach Art und Weise der Salome bewegt, d.h. um Lohn tanzt, oder wer sich wie Herodes und seine Gäste von solchen Darbietungen fesseln läßt, der handelt engegen der christichen Lehre und den erwartet ohne jegliche Hoffnung auf Errettung allein der ewige Tod. Salome, die monströse Mänade und geschickte Artistin – das eine schließt das andere durchaus nicht aus – demonstriert der Christenheit exemplarisch das Unheilsame der gesamten Tanzkunst. Diese Zuschreibung bleibt über mehrere Jahrhunderte erhalten und macht aus einer biblischen Gestalt ein theologisches Konstrukt von zwiespältiger Faszination. Als Sinnbild einer Verkehrung der normativen Moralisierungsvorgaben steht Salome und mit ihr jeder tanzende Gaukler als Ungeheuer im Mittelpunkt der theologisch-philosophischen Erörterungen und ist in diesem Zusammenhang von evidentem Nutzen, dienen die Darstellungen der Grenzüberschreitung doch der Affirmation der Norm. In dem transitorischen Moment einer Bewegung des Körpers, in dem eine als diszipliniert oder ekstatisch gewertete Geste über Partizipation oder Exklusion in einer Ordnung bestimmt, ist das Verwerfliche, Negativ-Beurteilte insofern ein zentraler Bestandteil jener Ordnung, die ihren Sinn erst durch diese Dynamik gewinnt.
Fußnoten

(1) Siehe hierzu auch: Elke Brüggen, Inszenierte Körperlichkeit. Formen höfischer Interaktion am Beispiel der Joflanze-Handlung in Wolframs 'Parzival'. In: 'Aufführung' und 'Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von J.-D. Müller, Stuttgart/Weimar 1996, S. 205-209.
(2) Haferland, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1989.
(3) Bumke, Höfische Körper – Höfische Kultur. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von J. Heinzle, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, S. 67-102.
(4) Wenzel, Partizipation und Mimesis, Die Lesbarkeit der Körper am Hof und in der höfischen Literatur. In: Materialität der Kommunikation, hg. von H.U. Gumbrecht u. K.L. Pfeiffer, Frankfurt a.M. 1988, S.178-202 sowie ders., Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1990.
(5) Zum folgenden siehe auch Jean-Claude Schmitt, Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter. Stuttgart 1992, S. 21.
(6) Jean-Claude Schmitt, The Ethics of Gesture. In: Fragments for a History of the Human Body, ed. by M. Fehrer, New York 1989, S. 128-147 sowie ders. (wie Anm. 5).
(7) Gestus est motus et figuratio membrorum corporis, ad omnem agendi et habendi modum. (Hugo von St. Viktor, De institutione novitiorum, cap. 12, PL 176, 938).
(8) Ebd., Sp. 938-943.
(9) So etwa bei Ambrosius, Expositio in psalmum 118, serm. 7,26, PL 15, 1358; Expositio in Lucam, lib. 6,5, PL 15, 1755; Epistolarum classis I, cap. 5, PL 16, 1229; Bernhard von Clairvoix, Tractatus de ordine vitae, cap 6, PL 184, 564.
(10) Zur antiken und frühchristlichen Kritik am weltlichen Theater siehe auch Hermann Reich : Der Mimus. Ein litterar-entwicklungsgeschichtlicher Versuch. Bd. 1, Berlin 1903, S. 80-109.
(11) Tertullianus, De spectaculis, cap. 10; PL 1, 717. Zu Tertullians Ausführungen über den Ursprung des Schauspiels im Kultischen siehe ebd. cap. 5-7; PL 1, 710-713.
(12) In der Folgezeit findet kaum ein kirchliches Konzil statt, bei dem die Theaterverbote und der Ausschluß der Mimen aus der christlichen Gemeinde nicht wiederholt werden. Weitere Belege sind aufgeführt bei Torsten Hausamann, Die tanzende Salome in der Kunst von der christlichen Frühzeit bis um 1500. Zürich 1980, S. 59-63.
(13) Habent spem ioculatores? Nullam: tota namque intentione sunt ministri Satanae, de his dicitur: Deum non cognoverunt; ideo Deus sprevit eos, et Dominus subsannabit eos, qui derisores deridentur. (Honorius von Autun, Elucidarium 2,18, PL 172, 1148).
(14) Vgl. hierzu Schmitt (wie Anm. 5), S. 256.
(15) Sed notandum quod histrionum tria sund genera. Quia enim transformant et transfigurant corpora sua per turpes saltus vel per turpes gestus, vel denudando corpora turpiter, vel induendo horribiles locritas vel larvas, et omnes tales damnabiles sunt nisi relinquant officia sua. Sunt etiam alii histriones qui nihil operantur sed curiose agunt, non habentes certum domicilium, sed circueunt curias magnatum et loquuntur obprobia et ignominias de absentibus. Tales etiam damnabiles sunt, quia prohibet Apostolus cum talibus cibum sumere. Et dicunter tales scurre vagi, quia ad nihil aliud utiles sunt nisi ad devorandum et maledicendum. Est etiam tertium genus histrionum qui habent instrumenta musica ad delectandum homines, sed talium duo sunt genera. Quidam enim frequentant publicas potationes et lascivas congregationes ut cantent ibi lascivas cantilenas, ut moveant homines ad lasciviam, et tales sunt damnabiles sicut et alii. Sunt autem alii qui dicuntur ioculatores qui cantant gesta principium et vitas sanctorum et faciunt solatia hominibus vel in egritudinibus suis vel in angustiis suis [...] bene possunt sustineri tales. (Summa confessorum, zitiert nach Joachim Bumke, Höfische Kultur, München 19905, Bd. 2, S. 695). Zur Einteilung der Spielleute bei Thomas s. a. Ernst Schubert, Fahrendes Volk im Mittelalter, Bielefeld 1995, S. 151f.
(16) Zum folgenden siehe auch: Carl Andresen, Altchristliche Kritik am Tanz. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 72 (1961), S. 217-262.
(17) Mc 6,22: Cumque introisset filia ipsius Herodiadis et saltasset et placuisset Herodi simulque recumbentibus, rex ait puellae: Pete a me quod vis, et dabo tibi. Mt 14,6: Die autem natalis Herodis saltavit filia Herodiadis in medio et placuit Herodi.
(18) Zu den familiären Zusammenhängen der Herodes-Sippe und zu den außerbiblischen Quellen, der Flamminius-Geschichte und zur Chronik des Flavius Josephus vgl. Hugo Daffner, Salome. Ihre Gestalt in Geschichte und Kunst. München 1912, S. 6-20 und Hausamann (wie Anm. 12), S. 19-34.
(19) Weder Altes noch Neues Testament enthalten abwertende Urteile über das Tanzen. In den wenigen Bibelstellen, in denen das Tanzen in negativem Kontext präsentiert wird (Ex 32,12; 1 Kön 18,26), ist es nicht der Tanz an sich, sondern die götzendienerische Huldigung der Abgötter, die kritisiert wird. In 2 Sam 6,23 wird die Verachtung Michols gegenüber dem gauklerischen Tanz Davids sogar mit Unfruchtbarkeit gestraft.
(20) Vgl. hierzu Walther Grundmann, Das Evangelium nach Markus. Handkommentar zum Neuen Testament, Berlin 1977, S. 174 sowie Andresen (wie Anm. 16), S. 233.
(21) Hugo Steger, Der unheilige Tanz der Salome. Eine bildsemiotische Studie zum mehrfachen Schriftsinn im Hochmittelalter. In: Kröll/Steger (Hrsg.), Mein ganzer Körper ist Gesicht, Freiburg im Breisgau 1994, S. 147.
(22) Hugo Daffner, Salome. Ihre Gestalt in Geschichte und Kunst. München 1912; Torsten Hausamann (wie Anm. 12); siehe auch: Gabriele Christiane Busch, Ikonographische Studien zum Solotanz im Mittelalter. Innsbruck 1982 sowie Gabriele Faßbender, Gotische Tanzdarstellungen. Frankfurt a.M. 1994, S. 18-44.
(23) An quidam est tam pronum ad libidines, quam inconditis motibus ea quae vel natura abscondit, vel disciplina velavit, membrorum operta nudare, ludere oculis, rotare cervicem, comam spargare? Merito inde in injuriam divinitatis proceditur. Quid enim ibi verecundiae potest esse, ubi saltatur, strepitur, concrepatur? (Ambrosius, De virginibus, Lib. 3, cap. 6; PL 16, 181).
(24) Hanc diabolus tragoediam excogitavit [...] et daemonum fraternitas nativitatis tempus festum ducebat. [...] Herodias interea saltationem adornans in convivii theatrum insiluit. Herodias autem, filia ostentans habitu matris artes, exactum maternae libidinis simulacrum aspectu impudenti, fracto corpore, anima diffluente, jactis in coelum manibus, pedes in altum subrigebat, habitu seminudo suam turpitudinem publicabat. (Basileus von Seleucia, Oratio 18,2; PG 85, 227-231).
(25) .[...] Sed illud mali additamentum fuit, quod saltatricis illius furentis, instar Maenadis, ei saltatio placuit. (Theophanus Cerameus, Homilia 61, PG 132, 1066) Weitere Kommentare der Kirchenväter zum Tanz Salomes sind in chronologischer Reihenfolge paraphrasiert bei Daffner (wie Anm. 22), S. 27-33; Hausamann (wie Anm. 12), S. 172-185 sowie teilweise zitiert bei Steger (wie Anm. 21), S. 153-161.
(26) Hausamann (wie Anm. 12), S. 385.
(27) In medio iuuenum reginae filia uirgo,/ Alternos laterum celerans sinuamine motus, / Conpositas cantu iungit modulante choreas. (Juvencus, Evangeliorum lib. III, 55-57, Corpus Scriptorum Ecclesiaticorum Latinorum, Bd. 24, S. 81).
(28) [...] quae fratcis gressibus, corpore dissoluto, disjuncta compage membrorum, fluentibus ex arte visceribus, tota patri fieret deformitate formosior. (Petrus Chrysologus, Sermo 174, PL 52, 654).
(29) [...] fluentibus huc illuque ex arte meleficii visceribus. (Paschasius Radbertus, Expositio in Matthaeum, lib. 7, 14, PL 120, 512 ff.).
(30) 'Der Saelden Hort'. Alemannisches Gedicht vom Leben Jesu, Johannes des Täufers und der Magdalena; hg. von H. Adrian, Deutsche Texte des Mittelalters Bd. 26, Berlin 1927, V. 2862 f.
(31) Anonymus, 2. Predigt auf Johannes Baptista, Johannes-Libellus, Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Cod. 120, fol. 113rb
(32) 'Der Saelden Hort', V. 3115 f.
(33) [...] et singularis fera usque dum capiat praedam, fremit ore, dentibus frendit [...] (Petrus Chrysologus, Sermo 127, PL 52, 552).
(34) Serpens tunc latebat in femina, quae reptans gressibus flexuosis lethale toto corpore virus effudit, ut discumbentium mentes furor, venenum corpora sauciaret, homines verterenturin bestias. (Petrus Chrysologus, Sermo 174, PL 52, 654).
(35) Vgl. Steger (wie Anm. 21), S. 161.
(36) Is se movisse, sed cernitur illa natasse,/ Neutrum saltasse neumas manibus variasse/ Nemo corrigere quo posset, si voluisset./ Tunc signum dederant, ibi multi quod doluerunt,/ Deponendo manus, finitus sit quia rithmus. ('Ruodlieb' XI (IX), 50-54).
(37) Priester Konrad, 91. Predigt: 'Als sant Johannes gehobet wart'. In: A.E. Schönbach (Hrsg.), Altdeutsche Predigten, Bd. III, S. 210, 14-19.
(38) 'Der Saelden Hort', V. 2881-85.
(39) In diesem Sinne gedeutet werden Herodes/Herodias/Salome und Johannes Baptista etwa bei Ambrosius, Appendix, Sermo 52, PL 17, 462 und Paschasius Radbertus, Expositio in Matthaeum, lib. 7, cap. 14, PL 120, 513.


Abbildungen

Tanz der Salome mit Zinkbegleitung
Mariendom Hildesheim, Bernwardsäule, Bronzerelief, ca. 1020/30, Reliefhöhe ca. 45 cm.
Bildquelle: Birgit Faßbender, Gotische Tanzdarstellungen (Frankfurt am Main 1994), Abb. 25, Kat.-Nr. 55.
Salome vor der Festtafel in Begleitung eines Fiedlers
Kuppelmosaik des Baptisteriums S. Giovanni in Florenz, 2. Hälfte 13. Jahrhundert.
Bildquelle: Reinhold Hammerstein, Diabolus in musica (Bern und München 1974), Abb. 38.
Herodes Festmahl und Enthauptung des Täufers
Englische Miniatur in Psalter, um 1220, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 835, fol. 66.
Bildquelle: Walther Salmen, "...denn die Fiedel macht das Fest". Jüdische Musikanten und Tänzer von 13. bis 20. Jahrhundert (Innsbruck 1991), Abb. 6.
Akrobatischer Salome-Tanz
Marginalie in einem Missale aus Amiens, illustriert von P. de Raimbaucourt, 1323, Den Haag, Museum Meermanno-Westreenianum, MS. 78. D. 40, Fol. 108r.
Bildquelle: Reinhold Hammerstein, Diabolus in musica (Bern und München 1974), Abb. 41.
Legende von Johannes Baptista
Zeichnung im Krumauer Bildercodex, nach 1350, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 370, fol. 59v.
Bildquelle: Krumauer Bildercodex, Codices Selecti Vol. XIII, Faksimile-Band (Graz 1967), Abb. fol. 59v