1. Das theoretische Sprechen hat sich gewandelt. Im Feld der
Literaturwissenschaft konkurrieren heute, wie noch in den 70er und 80er Jahren nicht
lediglich Theorien mit ihren alternativen Interpretationen, sondern
'Theoriesprachen' - Idiome theoretischer Rede. Jenseits der unwillkürlichen
Differenzen, die den einen Personalstil vom je anderen unterscheiden, haben sich Stile der
Interpretation etabliert, deren Eigenarten nicht etwa Ausdruck der letzlich kontingenten
Manier philosophischer Schulen sind, sondern Anzeichen konstitutiver Differenzen im
Verhältnis zwischen dem zu interpretierenden Text und dem Interpretationstext. Mehr noch:
der Stil der Interpretation weist über den Interpretationstext hinaus auf weitere Leser.
Konträr zum vornehmlich beachteten Rückbezug auf den der Interpretation zugrunde
liegenden Text - so etwas wie dem Sachbezug - , weist ihr Stil, ihr Gestus, ihre
Performanz voraus auf die Möglichkeit ihres eigenen Gelesenwerdens.
Für die Form der Lektüre spielen selbstverständlich auch weiterhin die Art und Weise
der Gegenstandskonstitution, etwa die unterschiedliche Gewichtung der Funktionsstellen
literarischer Kommunikation, nämlich Autor, Text und Leser und ihre Einbettung in
spezifische Umwelten, eine entscheidende Rolle. Es macht weiterhin einen Unterschied, ob
man Texte als Effekte eines letztlich autorlosen Diskurses begreift oder Autorschaft als
Werkherrschaft versteht. Auch ließe sich noch immer diskutieren, ob der Text dem Leser
Fragen aufgibt (Gadamer) oder ob der Leser seine Fragen an den Text heranträgt (Jauß
1982: 363ff; insb. 375; vgl. auch Gadamers kurze Antwort in Gadamer 1986: 13f.).
All diese Differenzierungen, die die literaturtheoretischen Debatten der zurückliegenden
Jahrzehnte beschäftigt haben sind bekannt und haben die ihnen gebührende Aufmerksamkeit
längst erfahren. Sie ließen sich heute vermutlich problemlos klassifizieren und mit
Beispielen belegen. (Dagegen, Derrida 1986: 7ff.) Doch damit möchte ich Sie nicht
langweilen, zumal es einen interessanten, weil folgenreichen Punkt gibt, über den ein
gewisser, nur z.T. eingestandener Konsens besteht: nämlich hinsichtlich der relativen
Kreativität jeder Interpretation.
Selbst wenn man mit Gadamer an der hermeneutischen Grundüberzeugung festhielte, dass in
der Fraglichkeit der Frage, die den Leser zur Interpretation motiviert, zu allererst jene
vorgängige Frage aktualisiert wird, die schon den der Interpretation vorliegenden Text,
gewissermaßen als Antwort auf sie, seinerseits motiviert hatte (vgl. Waldenfels 1994:
125ff.), dass also m.a.W. jede Interpretation in einem Fraglichkeitskontinuum steht, das
Text und Interpretation in einen von einer ursprünglichen Frage ausgehenden und
unüberschreitbaren Horizont einspannt: selbst diese Überzeugung also in Rechnung
gestellt, determiniert und ohne Spielraum sind die Folgefragen und mit ihnen die
Interpretation dennoch nicht.
Immerhin heißt es in Wahrheit und Methode: "Ein Reden, das eine Sache aufschließen
soll, bedarf des Aufbrechens der Sache durch die Frage." (Gadamer 1960: 369) Die
Frage, mag sie an den Fragenden auch herangetragen werden, macht deshalb also nicht
einfach beim geschichtlich Gegebenen halt, sondern widmet sich mehr oder minder
tatkräftig seiner Bearbeitung. Egal wie die Frage, die der Text qua Wirkungsgeschichte
stellt, beantwortet werden wird, die Gegenwart jeder Antwort wird eine andere sein, als
die zu ihrer Zeit bereits vergangenen ehemaligen Aktualitäten. Noch die konservativste
Interpretation kann sich dieser Verantwortung für die Geschichte nicht entziehen.
Heidegger hatte deshalb in "Sein und Zeit" von der "[...] Gewaltsamkeit
[...] jeder Interpretation [...]" gesprochen, und diese damit begründet, dass
"[...] das in ihr sich ausbildende Verstehen die Struktur des Entwerfens habe."
(Heidegger 1927: S. 311f.)
Heidegger und Gadamer binden nun zwar die der Interpretation sich eröffnenden
Freiheitsspielräume an einen wirkungsgeschichtlich eingegrenzten Fragehorizont (Gadamer)
bzw. ein "[...] im Dasein selbst liegende[s] Seinsverständnis" (Heidegger 1927:
S. 313) zurück, doch sieht man für einen Moment von dieser Festlegung ab und zieht mit
Blick auf die literaturwissenschaftliche Praxis zunächst einmal lediglich die faktische
Vielfalt der Interpretationen in Betracht, so bleibt doch festzuhalten, was Heideggers
'formal anzeigende Hermeneutik' (vgl. Pöggeler 1999) als "Struktur des
Entwerfens" charakterisiert. Wieviel Öffnung man je konkret den Horizonten des
Verstehens auch zugestehen mag, in jedem Fall weist die Interpretation selbst in der
Fassung der hartnäckigsten Verteidiger des Vorgängigen in eine offene Zukunft möglicher
Erfahrung. 2.
Nehmen wir dieses der Interpretation eingeschriebene Verhältnis auf
etwas Zukünftiges hin ganz profan: auch die Interpretation will gelesen werden. Sie ist
nur was sie ist im Zwischenraum zwischen dem von ihr gelesenen Text und dem eigenen
Gelesenwerden. Ihrem Schreiben über etwas ist die künftige Beobachtung ihrer Schrift
durch andere stets schon eingeschrieben. Sie hat mit einem unbekannten Dritten zu rechnen,
von dessen Lektüre sie nichts weiß und nichts wissen kann: Welche Richtung wird er
seinen Fragen geben? Wird er darauf dringen, der ursprünglichen Frage mehr Gewicht zu
geben oder wird er insitieren, aus den vorgezeichneten Horizonten endlich auszubrechen, es
wenigstens stärker zu versuchen?
Die Interpretation ist also, wie bereits angedeutet, Bestandteil einer ternären Relation.
Indem sie auf den ihr vorliegenden Text zurück- und ihre eigenen Leser vorausweist, wird
sie sich selbst nur gerecht, wenn sie einen Modus findet, der der Alternative von
Aneignung und Enteignung entgeht.
Egal welcher Theorie die Interpretation sich verschreibt, ihr Versprechen, Interpretation
zu sein, wird sie erst einlösen, wenn sie eine eigene Sprache findet, die hinreichend
transparent ist, um den Blick auf die Sache nicht zu verstellen und hinreichend opak, um
der Illusion vorzubeugen, die Interpretation sei die Sache selbst. Oder sagen wir: um der
Versuchung zu entgehen, durch Aneignung der fremden Autoriät der Sache das Potential
anderer Möglichkeiten zu enteignen.
3.
Um das bisher Gesagte etwas anschaulicher zu gestalten, vor allem
aber, um endlich zum Gestischen zu kommen, wende ich mich nun der Pariser Debatte zwischen
Gadamer und Derrida zu.
Nachdem Gadamer, eigenem Bekentnis nach, sich bereits seit 1962 mit den Schriften Derridas
beschäftigt hatte, kam es auf Einladung des Pariser Goethe-Instituts im April 1981
endlich zu einer "[...] erste[n] längeren Begegnung [...]" (Grondin 1999: 365)
zwischen Gadamer und Derrida, die immerhin die gemeinsame Nähe zu manch philosophischem
Gegenstand verbindet.
Zunächst die äußeren Fakten: Gadamer eröffnet die Veranstaltung mit einer leider
undokumentierten vorläufigen Fassung seines langen programmatischen Aufsatzes "Text
und Interpretation". Derrida stellt drei eigensinnig wirkende Fragen, in denen
Gadamer, der noch einmal antwortet, und mit ihm einige andere nur Gesprächsverweigerung
erkennen wollen. Außerdem hat schließlich auch Derrida noch einen Vortrag gehalten, der
mit Gadamers Hermeneutik nicht viel zu tun zu haben scheint - und zwar über Heideggers
Nietzsche-Lektüre und das Interpretieren von Signaturen (vgl. Gondek 1999: 74).
Doch Derridas Beiträge sind nicht so disparat, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.
Sie verweigern sich zwar dem Gespräch, das Gadamer im Sinn hat, aber sie bleiben deshalb
keineswegs jede Antwort schuldig. Und ganz sicher sind sie nicht lediglich eine
'kluge' Strategie, "[...] auf ihre Weise die Grenzen der Verständigung und
der Sinnerfahrung [...]"(Grondin 1999: 367; vgl. auch Spree 1995: 183ff.) zu
demonstrieren und dazu ein Strategie, die sich "[...] nur von der Hermeneutik her
[...] als eine solche charakterisieren" läßt (Grondin 1999: 367). Das Problem ist,
dass die Hermeneutik, in ihrem Beharren darauf, Bedingungen der Möglichkeit des
Verstehens von universalem Charakter aufzuweisen, in Derridas Antwort keine Antwort auf
jene Frage erkennen kann, aus der ihre eigene Antwort hervorgegangen ist und deren
neuerliche Fraglichkeit für die Hermeneutik der einzige Grund einer Debatte ist.
Es ist in der Tat so, dass Gadamer das Gespräch sucht, während Derrida sich verweigert,
so dass selbst der für seine Liberalität geschätzte Gadamer etwas ungehalten wird.(Vgl.
Gadamer 1984a: 60) Doch was Gadamer nicht sieht, ist, dass das Gespräch, das er Derrida
anbietet nicht so voraussetzungslos und universal ist, wie Gadamer es denkt. Im Gegenteil,
die bloße Annahme dieses Gesprächs würde vor aller Diskussion die Beiträge jedes
anderen Theoretikers ihres genuinen Impulses wenigstens insoweit enteignen, als sie ihnen
eine Theorie-Konkurrenz aufzwänge, die ausschließlich von einer Fragestellung her
gedacht wird, nämlich von der Frage, von der sich die Hermeneutik als eine Antwort auf
die aus der Fraglichkeit der Sache geborenen Frage, herschreibt. Per Selbstimplikation
gilt nämlich für die Hermeneutik, was laut ihrer Theorie der Interpretation für jede
konkrete Interpretation gilt: Die Beantwortung der Frage, die die Hermeneutik fragwürdig
macht, muss die Beantwortung der Frage einschließen, auf die die Hermeneutik Antwort sein
will.
Will man nun aber wie Derrida nicht nur eine alternative Antwort geben, sondern zu einer
ganz anderen Frage vordringen und die Fraglichkeit der Hermeneutik bis zu der Frage
ausdehnen, die die Hermeneutik universal gültig beantwortet haben will, so muss man
dieses Gespräch und seine Theoriesprache erst einmal zurückweisen.
4.
Und zwar mit einer Geste! Mit einer Geste
nämlich, die im Moment ihres Vollzugs der vertrauten Sprechweise des angebotenen
Gesprächs andere Modi entgegensetzt, die mit dem Vertrauten brechen, ohne zugleich alle
Möglichkeiten der Kommunikation zu begraben.
So nämlich antwortet Derrida auf Gadamer: Er stellt Fragen, genauer, er
"erweis[t]" "Professor Gadamer" "die Ehre [...], ihm einige
Fragen zu stellen" (Derrida 1984a: 56), doch diese Fragen sind genau besehen
Antworten, und zwar Antworten auf Fragen, die sich die Hermeneutik Gadamers so nicht
stellt. Derridas Fragen treten an keiner Stelle in den von Gadamer aufgespannten Horizont,
sie stellen sich vielmehr einfach neben diesen, und entwerfen ein Jenseits der
Hermeneutik, das es laut dieser nicht geben sollte. Derridas Höflichkeit ist demnach
außerst zweideutig. Obwohl als Frage deklariert, fragt er Gadamer gar nicht, und rückt
im selben Zug die Ehre, die anzuerkennen er doch bereit schien, ins Zwielicht. Denn die
einzige Frage, die Derrida sich am Morgen nach Gadamers Abendvortrag wirklich stellt,
stellt die Möglichkeit der Verständigung radikal infrage und sprengt damit bereits jeden
hermeneutischen Gesprächsrahmen.
"Gestern abend, beim Vortrag und der anschließenden Diskussion, habe ich mich
gefragt, ob es hier etwas anderes geben würde als Auseinandersetzungen, deren
Zustandekommen unwahrscheinlich sein dürfte, Gegenfragen und uneinlösbaren Sachbezug (um
einige Formulierungen wieder aufzunehmen, die wir gehört haben). Ich frage mich das immer
noch." (Ebd.)
Und so wie Derrida begonnen hat, so endet er auch: Er leugnet jedes gemeinsame Band und
weist noch die Berufung auf eine vermeintliche "Erfahrung, die wir alle kennen"
zurück. Die Strategie geht auf.
Gadamer findet offensichtlich - wie wir noch sehen werden - überhaupt keine Sprache, in
der er Derrida wiederum antworten könnte und läuft, unempfindlich für die eigene
Verletzung, in Derridas Messer.
Und das ist es denn auch, was diesen klassischen philosophischen Zweikampf konkurrierender
Sprachen (vgl. Danto 1989: 23ff.; Derrida 1986: 9; Rorty 1991: 121) miteinander verbindet:
Ihr Kampf, die Form der Auseinandersetzung, die man freilich nur sehen kann, wenn man sich
nicht gleich der einen oder anderen Sprache verschreibt, sondern sich bemüht, die Gesten
und Gebärden, die miteinander im Clinch liegen, zu lesen. Doch die Gewichte sind
keinesweg so gleich verteilt, wie es hier noch scheinen mag. Es ist natürlich Derrida,
dessen Provokation einen Sinn für Gesten bereits einschließt und dessen Verweigerung des
Gesprächs die Wahl der Waffen bestimmt. Läßt man alle Diskursnormierungen beiseite, so
tritt Derrida allerdings noch in dieser provokativen, vielleicht aggressiven Verweigerung
in eine Art Dialog mit Gadamer und bleibt die Antwort nicht schuldig.
Doch bleiben wir bei den Gesten:
Ich muss an dieser Stelle nicht die unterschiedlichen Redeweisen über Gestik aufrufen, um
sie dann sorgfältig voneinander abzugrenzen. Was mich interessiert, das ist die
Übertragung einer bestimmten interaktiven Rolle des Gestischen von Gesprächssituationen
auf Textkommunikation.
Meine These ist zunächst ganz einfach: Gesten verunsichern! Das ist etwas überspitzt,
aber m.E. durchaus wert, als Arbeitshypothese erst einmal festgehalten zu werden, um der
oftmals vertretenen Auffassung, Gesten böten eine besonders zuverlässige Gelegenheit,
vom Selbstausdruck anderer auf ihre authentische Verfassung zu schließen, zu entkommen.
Man erwäge nur, wann man auf das derart ausgezeichnete Verfahren, die Gesten der anderen
zu beobachten, wirklich zurückgreift. Doch vor allem dann, wenn Interaktionen zu
problematisieren sind! Läuft alles glatt, so vertraut man gewöhnlich den verlautbarten
Intentionen, erst wenn man Verdacht schöpft und hinter der gleichsam offiziellen
Stellungnahme ein verborgenes Interesse und eine verschwiegene Gesinnung wittert, greift
man zu den 'hermeneutics of suspicion', um hinter die Fassade zu dringen. Vor
Beobachtungen und Bedeutungszuschreibungen ist dann nichts mehr sicher. Neben die
eigentliche geregelte Sprache tritt dann ein ungeregelter Austauch von Zeichen und
Anzeichen, deren bedeutungsverleihende Instanz kaum eindeutig zu identifizieren ist.
Auf einmal ist nicht einmal mehr sicher, was überhaupt zum Interpretandum gehört und was
nicht.(Vgl., Derrida 1984a: 57) Selbst die Selektion des zu Interpretierenden wird zu
einem Fall von Interpretation.(Vgl., Ricoeur 1969: 30; 45ff.) Genau in dieser Lage
befinden sich nun auch die Gesten und Gebärden, die die Rede begleiten. Kommen sie
überhaupt in Betracht, so doch sicher niemals alle, sondern nur eine ausgewählte Reihe
besonders signifikanter Körperregungen. Doch welche Bewegung des Körpers kann überhaupt
als signifikant gelten und worin besteht ihre Signifikanz? Ist die je konkrete Geste
Zeichen oder Anzeichen? Macht hier jemand von der signifikativen Kraft seines Körpers
intentionalen Gebrauch oder ist der Körper Projektionsfläche einer Lektüre von
Symptomen, die "[...] zwar eine Quelle, aber keinen Adressanten haben [...] und [...]
als unadressierte Botschaften einseitig vom Empfänger aus entziffert und interpretiert
werden" (Waldenfels 1984: 548).
Wir befinden wir uns Zwischenreich geregelten Austauschs und kaum zu regulierender
Möglichkeiten, das verbindet die Beobachtung von körperlichen Gesten mit der
übetragenen Rede von Gesten der Interpretation:
Wer es kann, der kann Gesten lesen, er muß es aber nicht, es sei er will es. Doch selbst
der stärkste Wille führt hier nicht auf sicheren Boden. Auf das Wissen aus der
Gestenlektüre kann man sich schlecht berufen. Und fordern kann man es auch nicht. Man
kann zwar jemanden ermahnen, ihm zuzuhören, jemanden ermahnen, auf die eigenen Gesten zu
achten aber kann man nicht. Man kann die Lektüre von Gesten allenfalls provozieren, ohne
allerdings sicher sein zu können, von der eigenen Erwartung nicht betrogen zu werden. Die
Geste macht das interessant, sie schießt munter über die sicheren Grenzen des Textes
hinaus und entzieht sich dem Interpreten gerade dadurch, dass sie seiner Interpretation
alle Freiheit lässt. Doch der Interpret steht dumm da. Er muß unsicher bleiben, ob seine
Bemerkungen zur Geste wirklich angemesen sind. In meinem Fall: ob Derridas textuelle
Verfahren wirklich treffen porträtiert sind. Macht der Interpret von der Freiheit, Gesten
zu lesen, Gebrauch, so nur um den Preis des erhöhten Risikos, selber auf Gesten hin
gelesen zu werden, und möglicherweise auf Gesten hin von denen er nichts ahnt. Ich für
meinen Teil weiche deshalb erst einmal aus und suche Rettung im Bereich der
Generalisierungen.
Bei aller Heterogenität der Texte Derridas: Überscheinden sie sich nicht in dem Versuch,
mit Sprachen zu operieren, die noch keine sind? Erproben sie nicht Schreibweisen, zu deren
Fundus eine gewisse Zahl an undefinierten, ungebrauchten und ungebräuchlichen, jedenfalls
noch nicht konventionalisierten Zeichen und Verknüfungsregeln gehört. So verstanden
würden Derridas Texte, so wie am Beispiel der Gesten exemplifiziert,
Kommunikationsofferten mit vielen Variablen machen, von denen noch unabsehbar ist, welche
Lektüren den offenen Anteil der Austauschbeziehung und der Zeichen selbst organisieren
werden - welche Lektüren das tun und wie sie das tun.
Das mag nun gut oder schlecht beobachtet sein, in jedem Fall würde sich ein solches
Projekt am performativen Vollzug der Dekonstruktion jener geschlossenen Ökonomien
versuchen, die etwa Derridas Text über Batailles 'rückhaltlosen Hegelianismus' (Derrida
1967a/ 1967: 380ff.) aber auch" Zeit geben" unternehmen. Ein mögliches Projekt
wäre es schon.
5.
Doch blicken wir nun noch einmal kurz zurück auf Gadamers Hermeneutik und die Pariser
Debatte, um das Problemfeld noch einmal von einer anderen Seite zu beleuchten und die
Korrelation zwischen dem Gestischen und seiner zeitlichen Situierung weiter zu erhärten.
Gadamers Reaktion auf Derridas Provokation zeigt nämlich die von der Hermeneutik gern
verschwiegene Dimension des 'Vorgriffs' auf künftiges Verstehen, der die Leser
der Interpretation in eine ganz andere Rolle drängt als das soeben beschriebene Projekt.
Durchaus im Sinne des sog. "Vorgriffs der Vollkommenheit", der jeder
Interpretationsbemühung die Norm eines in "vollkommene[r] Einheit" zur Ruhe
kommenden "Sinns" als Ziel voraussetzt (Gadamer 1960: 299) und fragmentarischem
Verständnis den hermeneutischen Ehrentitel des Verstehens vorenthält, impliziert
jedes konkrete Verstehen unausgesprochen sein eigenes Verstandenwerden. In einem erneuten
Vorgriff begegnet das Verstehen der Gefahr, dass sein eigenes Verständnis, das
Verständnis in der Sache sein will, zukünftig nur noch historisch, psychologisch oder
wie auch immer, jedenfalls als bloße Meinung eines anderen verstanden wird, die in den
Horizont unseres Selbstverständnisses nicht mehr hineinragt. Indem der Begriff des
Verstehens seine eigene Vorentscheidung, Wirkungsgeschichte in jedem Fall anzuerkennen,
zum Gebot hypostasiert, jedes Verstehen müsse heißen, den im zu Verstehenden
implizierten Geltungsanspruch des Vergangenen anzuerkennen, greift er für den Fall seines
eigenen Gelesenwerdens der Freiheit der Lektüre vor und verpflichtet sie dazu, auch den
eigenen Anspruch anzuerkennen und der vorgeprägten Vorgehensweise zu folgen.
Geschieht dies nicht – wie in der Debatte zwischen Gadamer und Derrida -, so bleibt
ihr nur eine immergleiche Reklamation:
"Die Fragen von Herrn Derrida demonstrieren unwiderleglich, daß meine Bemerkungen
über Text und Interpretation, soweit sie die wohlbekannte Position Derridas im Augen
hatten, jetzt ihr Ziel nicht erreicht haben. Ich habe Mühe, die an mich gestellten Fragen
zu verstehen. Aber ich gebe mir Mühe, wie jeder tut, der einen anderen verstehen will
oder von dem anderen verstanden werden will. [...] Ich kann mir nicht denken, daß Derrida
mir in dieser Feststellung nicht in Wahrheit zustimmt. Wer den Mund auftut, möchte
verstanden werden. [...] Wird er [Derrida; MS.] enttäuscht sein, daß wir uns nicht recht
verständigen können? Aber nein [...] [er] wird [...] befriedigt sein, weil er in der
privaten Erfahrung der Enttäuschung seine Metaphysik bestätigt sieht. Doch vermag ich
nicht zu sehen, daß er damit auch nur für sich selbst recht hat und mit sich selbst im
Einverständnis ist. Daß er sich dabei auf Nietzsche beruft, verstehe ich freilich sehr
gut. Aber eben, weil sie beide gegen sich selbst unrecht haben: Sie reden und schreiben,
um verstanden zu werden."(Gadamer 1984a: 59; 60f.)
Natürlich hat Gadamer auf seine Weise recht. Wer redet, will verstanden werden. Nur, wie
Derrida sogleich bemerkt hat, der Wille ist ein äußerst fragwürdiger Garant dafür,
dass das Verstandenwerden auch realisiert wird. Wieso sollte der Wille des einen den
anderen verpflichten? Und außerdem: Wieso sollte man eigens etwas wollen, zu dem soweiso
alle verpflichtet sind. Die Garantie auf Verständigung, die der Wille geben soll, muß
den weiten Umweg über die Installation als transzendentalpragmatische Norm nehmen, um den
Leser überhaupt zu erreichen. Und selbst dann hängt alles davon ab, ob er auch bereit
ist, sich der Norm zu fügen. Das aber ist zunehmend unwahrscheinlich. Es genügt jemand
wie Nietzsche, der kurzerhand erklärt:
"Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern
ebenso gewiss auch nicht verstanden werden." (Nietzsche: KSA 3, 633)
Den Preis den Gadamers Hermeneutik entrichtet, um der Möglichkeit der Alternative von
Verstehen und Missverstehen zu entgehen, besteht letztlich in der Streichung des Lesers
als Adressaten der Interpretation, und zwar zugunsten von Sedimenten des Seins, die sich
an seinen Entscheidungsspielräumen vorbei in ihm ablagern.
Gadamer gibt zwar in seiner Beschreibung dessen, was er "mimisches
Urverhältnis" (Gadamer 1960: 118) nennt, zu, dass in jeder spielerischen
Darstellung, etwa des Schauspielers aber auch in der kindlichen Verkleidung, "der
Zuschauer mitgemeint" ist (a.a.O.: 120; vgl., auch Gadamer 1984/²1993: S. 344), doch
das Spiel, das vor dessen Augen abläuft, ist abermals allein das Spiel einer Enthüllung
des Ursprungs, das den Zuschauer in die alten Wahrheiten einweihen und auf sie
verpflichten soll. Gestik, Mimik und Betonung weisen nur in eine Richtung. Sie begleiten
die Worte "[...] von denen man erwartet, daß sie den anderen erreichen [...]"
und so erreichen sie ihn auch. (Gadamer 1984/²1993: S. 344) Zuschauer und Leser aber auch
Darsteller, Interpreten und Autoren sind nichts anderes als die Medien eines zunehmend
reiner hervortretenden Sinns. Jede Alternative zu einer derart auf Erkenntnis festgelegten
Kunst führte laut Gadamer einzig auf den Irrweg subjektivistischer Ausdrucksästhetik.
Dass aber jenseits der Alternative von bloßem Selbstausdruck und objektivem Sinn, etwa in
Momenten inszenierter Interaktion produktive Aneignungen stattfinden könnten, die den
tradierten Sinn verwandeln, das kommt der Gadamerschen Hermeneutik in ihrer retrograden
und inhaltsbezogenen Fixierung nicht in den Sinn.
6.
Umgekehrt scheint es nun kein Zufall zu sein, dass sich Derridas Vorliebe fürs Gestische
mit einem stets offen gehaltenen Möglichkeitssinn paart. In diesen sind zwar die
tradierten Oppositionen der attakierten Metaphysik noch eingezeichnet, die sich die
Dekonstrukrion als ihre Komplizin (Derrida 1966/1967: 426; vgl. für das Folgende auch,
Menke 1990: 241) glaubt voraussetzten zu müssen (anderer Meinung: Rorty 1991), um sie
dann durchstreichen zu können, doch die Richtung in der das geschieht, ist die einer
unbekannten "heute nur erst abzuschätzen[den]" Zukunft (Derrida 1966/1967: S.
442; vgl. auch, Derrida 1990: 39). Derridas Texte durchzieht deshalb - mit Bettine Menke
und Sarah Kofmann zu sprechen - eine "'doppelte Gebärde'" oder
"Zweifache Geste" (Menke 1990: 238; 242) deren konträrer Richtungssinn schon in
der legendären Unterscheidung "zweier Interpretationen der Interpretation"
angelegt ist, mit der der Aufsatz "Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs
der Wissenschaften vom Menschen" endet: "Die eine träumt davon, eine Wahrheit
und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen
sind, und erlebt die Notwendigkeit der Interpretation gleich einem Exil. Die andere, die
dem Ursprung nicht länger zugewandt bleibt, bejaht das Spiel und will über den Menschen
und den Humanismus hinausgelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das die Geschichte
der Metaphysik und der Onto-theologie hindurch, das heißt im Ganzen seiner Geschichte,
die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels
geträumt hat." (Derrida 1966/67 S. 441)
Beide hängen zusammen wie die Relata unseres Modells der Interpretation. Was sie trennt,
ist die unterschiedliche zeitliche Ausrichtung. Was sie verbindet, das ist die
Unmöglichkeit ihrer Vermittlung. Denn nur wenn man gleichzeitig sowohl der einfachen
Entscheidung für eine der beiden Seiten aber auch der Illusion ihrer Vermittlung enträt,
besteht eine Chance wenigstens temporär sowohl dem Anspruch der Geschichte, wie der
Möglichkeit des Einspruchs nachfolgender Beobachter gerecht zu werden.
Und dazu, das, so hoffe ich, ist wenigsten in groben Zügen deutlich geworden, bedarf es,
wie es in Derridas "Double Séance" heißt, "der gestischen Initiative des
Mimen" (Dissemination, S. 219), die neben den damit unrevidierten Sachbezug
"[...] seine Gesten, seine gestische Schrift [...]" treten läßt, die
"[...] ihm durch keine [...] Rede diktiert [und] keine Diktion auf erlegt wird"
und - nun zitiere ich Mallarmé "[...] in die Wand aus Gewobenem ein Fenster
hinein[]bohrt [...]" (Loc.cit., Derrida 1972: 217).
Ob man beim Aufreißen solcher Fenster allerdings stets und immer nur zu den Gesten
Derridas greifen sollte, das darf angesichts einer unbestimmten, aber sicher stets
variierenden Zukunft offen bleiben.
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