I. Große Gesten, erhobene Zeigefinger, gereckte Arme und gerungene Hände, dies alles sind
Körperbewegungen, die in der Literatur unserer Jahre kaum zu erwarten sind. Das
Repertoire und das spezifische Vorkommen der großen Geste werden wir nur in bestimmten
Epochen der Literaturgeschichte vermuten, etwa im Zusammenhang mit der sog.
Empfindsamkeit, z.B. in der sog. weinerlichen Komödie, und auch hier gattungsspezifisch
stärker im Drama als im Roman oder im Gedicht. Der vorzügliche poetische
Anwendungsbereich der Geste scheint gleichsam naturgemäß auf bestimmte optische Medien
spezialisiert, und das Drama gehört in seiner Aufführung zu solchen optischen Medien. In
ihnen geht, so lautet eine alte Theaterregel, Auge vor Ohr, d.h. ein Sprecher kann sich
noch so sehr anstrengen: wenn neben ihm der Nebendarsteller einen Kopfstand macht, so hat
der Protagonist schlechte Karten. Gesten sind im Fall des Dramas, so vermute ich deshalb,
vielfach Möglichkeiten, die Vorfahrt zu nehmen und Akzente zu setzen, die sich nur sehr
schwer relativieren lassen. Auch für den Bereich der Bildenden Kunst, besonders der
Malerei, ist die - eigentlich triviale - Erkenntnis unausweichlich, daß hier mit einem
starken Vorkommen von Gesten zu rechnen ist, und zwar einfach deshalb, weil so oft Hände
und Arme gemalt werden - weil es also naheliegt, diese Extremitäten, wenn sie schon
einmal gemalt werden müssen, auch in die Bedeutungsgebung des Bildes mit einzubeziehen.
Auch dieses Beispiel spricht für die Kraft der Optik, mit der wir es im Fall der Geste in
besonderer Weise zu tun bekommen. In der Literatur ist es anders als in der Malerei. Hier
sind, darauf möchte ich hier bestehen, nur sehr selten Arme und Hände zu sehen, die
Seltenheit der Geste ist also bestimmten Gattungsvorgaben geschuldet. Vom Text her
gesehen, ließe sich wohl ohne weiteres behaupten, daß Effi Briest keine Arme hat,
einfach deshalb, weil ihre explizite Nennung nirgendwo eine solche Behauptung
falsifizieren würde; und aus diesem Umstand ergibt sich rasch, daß auch ein bestimmtes
Gestenarsenal zumindest in bezug auf die Figur Effi Briest von Fontane in seinem
gleichnamigen Roman nicht beansprucht wird. Ich möchte den Wert solcher scheinbar
trivialen Beobachtungen hier ausdrücklich unterstreichen, zugleich aber auch einräumen,
daß wir infolge solcher Beobachtungen, wenn wir uns nämlich mit der Geste in der
Literatur beschäftigen, sehr schnell zu poetologischen und vor allem zu
literaturtheoretischen Feststellungen gelangen, die uns von einer 'Materialarbeit' in
bezug auf die Geste wegführen. Ich könnte z.B. die vergleichsweise trivial zu
erklärende Gestenarmut in der Literatur zum Anlaß weitreichender Behauptungen etwa über
Sprechen als Gestenersatz, um nicht zu sagen: über das Sprechen als Geste im Roman
nehmen. Denn ich könnte natürlich sagen: Was in der Malerei durch Gesten ausgedrückt
wird, was also z.B. Raffaels Platon in der Schule von Athen mit seinem erhobenen
Zeigefinger signalisiert, das drücken die Protagonisten eines Romans durch Sprache aus
usw. Hierin liegt eine Gefahr, nämlich die Gefahr überzogener theoretischer Schlüsse
aufgrund der Rarheit und der Exklusivität des Forschungsgegenstandes. Eine solche
Sichtweise wäre m.E. zumindest ebenso falsch, wie Platons erhobenen Zeigefinger als
Sprachersatz bzw. als Sprache zu betrachten. Es hat wenig Sinn, Darstellungsweisen als
Ersatzmodi anderer Darstellungsweisen aufzufassen. Denn der Versuch, den erhobenen
Zeigefinger in seiner anschaulichen Spezifität zu fassen, wird durch solche
Beschreibungen ja gerade nicht unternommen. Um es anders zu sagen: Raffaels Platon ist
ebensowenig in der Versuchung, etwas zu sagen statt gestisch auszudrücken, wie der
Nebendarsteller, der einen Kopfstand macht, in der Versuchung ist, etwas durch Sprache
auszudrücken. Wir sollten also die eine Darstellung nicht ohne weiteres auf eine andere
zurückführen wollen. Auf eine besondere weitere Gefahr, die sich aus einem vorschnellen
Theoretisieren ergibt, werde ich im übrigen noch im Zusammenhang mit der in dieser
Hinsicht typischen, m.E. durchaus überzogenen Theorie von Vilém Flusser zu sprechen
kommen. Wenn es zur Beschäftigung mit Gesten in der Literatur gehört, daß diese Gesten
anscheinend selten sind, so bedeutet dies indes noch nicht, daß es sich bei der Geste um
ein vergessenes, um ein harmloses oder auch nur um ein unauffälliges Detail von Texten
handelt. Lassen Sie mich Ihnen, bevor ich mich mit der Frage beschäftige, was eine Geste
überhaupt sei, hierfür ein einleitendes Beispiel geben. Es handelt sich um einen locus
classicus des literarischen Sprechens über Gesten, und zwar Hamlets Rede an die
Schauspieler.
Wie Sie wissen, findet im III. Aufzug das Eintreffen von Schauspielern statt, die, nach
der Anleitung Hamlets, in einer der folgenden Szenen den Konflikt im Stück, so wie ihn
Hamlet selber sieht, nachgestalten und auf die Bühne bringen werden, um hierdurch dem
Königspaar einen provokanten Spiegel vorzuhalten. Einleitend verpflichtet Hamlet die
Schauspieler noch einmal eindringlich auf das zu sprechende Wort und erinnert sie daran,
daß die Gebärde des Schauspielers dem Wort anzupassen sei (ebenso wie das Wort der
Gebärde), daß also Übertreibungen in der schauspielerischen Körperarbeit zu
unterbleiben hätten. Mit den Worten: "Ich hoffe, wir haben das bei uns so ziemlich
abgestellt", räumt der Erste Schauspieler gegenüber Hamlet ein, daß diese
Anweisung ihn kaum überrascht, sondern vielmehr so ziemlich dem aristotelische Ideal
einer Ausgeglichenheit von Leidenschaft und Überlegung entspricht, das in
fortgeschrittenen und professionellen Schauspielertruppen ohnehin gepflegt wird. Die
explizite Gebärden- und Gestenkritik (ich behandle diese Begriffe hier noch ganz
undifferenziert), die Hamlet übt, lohnt es aber dennoch, sich den Wortlaut genauer vor
Augen zu führen:
HAMLET: Seid so gut und haltet die Rede, wie ich sie Euch vorsagte, leicht von der Zunge
weg; aber wenn Ihr den Mund so voll nehmt, wie viele unsrer Schauspieler, so möchte ich
meine Verse eben so gern von dem Ausrufer hören. Sägt auch nicht zu viel mit den Händen
durch die Luft, so - sondern behandelt alles gelinde! denn mitten in dem Strom, Sturm und,
wie ich sagen mag, Wirbelwind Eurer Leidenschaft müßt Ihr Euch eine Mäßigung zu eigen
mache, die ihr Geschmeidigkeit gibt."
Die Mäßigung der Bewegung gibt der Leidenschaft Geschmeidigkeit. Nicht
Bewegungslosigkeit, sondern Adäquatheit von Bewegung und Inhalt im Ausdruck wird
gefordert, eben eine Anpassung der Gebärde ans Wort und des Wortes an die Gebärde.
Interessant ist nun, daß Hamlets kleiner Diskurs über die Gebärde sich zwar auf das
Theater und nicht auf die Literatur bezieht, daß wir es also hier mit einem Stück
Theaterkritik auf dem Theater zu tun haben, daß Shakespeares Text aber gleichzeitig und
jenseits seiner Aufführung Literatur ist, die nicht nur von Gesten handelt, sondern
zugleich eine einzelne Geste enthält und repräsentiert. Shakespeare kritisiert nicht nur
die Geste auf dem Theater, sondern er führt zugleich exemplarisch eine literarische Geste
im Text vor. Shakespeares Wortlaut enthält ein einzelnes Wort, daß ohne Zweifel eine
Geste markiert und indiziert: nämlich das Wort "so". "Sägt [...] nicht zu
viel mit den Händen durch die Luft, so - sondern behandelt alles gelinde!" Die
Mäßigkeit, die Shakespeare auf dem Theater von der Gebärde bzw. der Geste fordert,
diese Mäßigkeit löst er auch semantisch ein, durch einen Ausdruck - "so" -,
der nur im Umfeld und Kontext des Textes gleichsam indexikalisch Bedeutung erhält, und
der sodann eine Geste markiert, die die Ausführung einer Körperbewegung verlangt und
anzeigt, ohne sie auszusprechen. Er bestätigt so die Transliterarizität der Geste im
selben Augenblick, in dem er sie symbolisch bricht - durch eine stellvertretende
Bezeichnung, mit der die Stelle bezeichnet wird, an welcher eine bestimmte und offenbar
zugleich ganz unbestimmte Geste auszuführen ist. Shakespeare kennzeichnet durch diesen
Kunstgriff die Geste als eine notwendige Übertreibung und rhetorische Überschreitung des
Textes durch eine körperliche Bewegung. Ganz bewußt verzichtet er auf die Möglichkeit,
die Geste zu umschreiben und semantisch in Text zu übersetzen. Die Geste wird
zurückgedrängt und aufgehoben in einem einzigen Wort. Nähme man die Shapespearesche
Stelle als Grundlage einer Theorie der Geste in der Literatur, so wäre sie der Grundstein
einer Theorie der Transliterarizität der Geste.
Diese Theorie wäre durchaus vereinbar mit der Annahme, Gesten fungierten innerhalb der
Literatur als Mittel der Hervorhebung, der Akzentuierung, der Kursivierung oder
Unterstreichung, allerdings nicht von sprachlichen Ausdrücken wie im Theaterbeispiel aus
Hamlet, sondern als Mittel der Akzentuierung von Inhalten. Gesten stehen - in jenen
Beispielen, die einem wohl zuerst durch den Kopf gehen, wenn man nach ihnen sucht - an
bedeutenden Schalt- und Schnittstellen literarischer Werke, um dort einen bedeutsamen
Sachverhalt als solchen zu markieren und zu fundieren. Im Drama ist der Ort der Geste die
sog. Regieanweisung, also der z.B. kursiv gesetzte Text zwischen den Rollen. Gesten sind
hier Teil von Handlungsanweisungen. Wo immer man sie hier ausmachen kann, da
interpunktieren, zäsurieren oder intensivieren sie den Gang der Handlung. Sie sind
Ausnahmehandlungen, die nicht selten für ein gewisses Pathos sorgen können, und die das
Ergebnis oder Zwischenergebnis eines Handlungsablaufs gedrängt und pointiert auf den
Punkt bringen. Z.B. im folgenden Textausschnitt:
"Ein riesengroßer schwarzer Arm, der Arm des Henkers, streckt sich aus der Zisterne
heraus, auf einem silbernen Schild den Kopf des Jochanaan haltend. Salome greift darnach.
Herodes verhüllt sein Gesicht mit dem Mantel. Herodias fächelt sich zu und lächelt. Die
Nazarener sinken in die Knie und beginnen zu beten."
Eine ganze Reihe von Bewegungen und Gesten bietet dieser Textausschnitt aus Oscar Wildes
bekannter Salome-Version. Strecken, halten, greifen, verhüllen, fächeln, lächeln, auf
die Knie sinken, beten: Diese Folge von Körperbewegungen befördert jedoch zugleich auch
und unmißverständlich die Frage nach der Grenze zwischen Körperbewegung und Geste
zutage. Ich meine, daß es wenig Sinn, macht, allen in diesem Textbeispiel vorkommenden
Bewegungen den Status von Gesten zuzusprechen, wenn wir den Begriff (und unser heutiges
Thema) nicht über Gebühr aufweichen und konturlos machen wollen. Bei der Frage, nach
welchen Kriterien wir zwischen Gesten und sonstigen Körperbewegungen unterscheiden
wollen, scheint mir persönlich nur der berüchtigte und selbst reichlich konturlose
Sprachgebrauch ernsthaft in Frage zu kommen, also das Ganze der Sprachverwendungen, in
welchem wir uns sprachlich und gedanklich aufhalten und aus dem heraus wir etwas als Geste
bezeichnen oder nicht bezeichnen. Im Akzeptieren dieses - der Philosophie des späten
Wittgenstein entsprechenden - Kriteriums können Sie mir folgen oder nicht folgen. So
diffus und rätselhaft der Sprachgebrauch aber auch erscheinen mag, so präzise können
die Ergebnisse seiner Anwendung oder seiner Inbetrachtziehung sein. So scheint es mir im
vorliegenden Fall relativ klar zu sein, daß ein aus einer Zisterne herausgestreckter Arm
eine Geste vollführt, während wir das Halten eines abgeschlagenen Kopfes wohl nur dann
als eine Geste bezeichnen würden, wenn dieser Kopf hochgehalten wird, wenn also eine
gewisse Exponiertheit mit der Körperbewegung verbunden ist. Führt jemand nur so in einem
Einkaufsnetz einen Schädel mit sich, so erfüllt dies - trotz aller Auffälligkeit dieses
Schädels - als Bewegung gesehen wohl kaum die Anforderung einer solchen Exponiertheit.
Den Griff Salomes ebenso wie die Verhüllung des Gesichts durch Herodes und das
Sichzufächeln der Herodias kann man sich, bei entsprechend theatralischer Darstellung,
als Geste vorstellen; weniger das Lächeln der Herodias. Das Auf-die-Knie-Sinken wiederum
ist eindeutig eine Geste, das Beten nur unter der Voraussetzung einer gestischen
Gebetshaltung, die hier von Wilde aber nicht näher beschrieben wird. Wilde versammelt
also in seiner Regieanweisung ein Arsenal verschiedenster Bewegungsabläufe, die gerade
nicht ein gleichmäßiges Maß von Gestik auf sich vereinigen. Die Geste bleibt ein
Ausnahmefall der Bewegung, innerhalb der Bewegungsabfolge markiert die Geste jedoch
auffälligerweise Anfang (Herausstrecken des Armes mit dem Kopf) und Ende (auf die
Knie-Sinken der Nazarener). Damit unterstreicht Wilde die bereits von Shakespeare
hervorgehobene, notwendig ökonomische Verwendung des Motivs. Beide Autoren, und zwar hier
als Dramatiker, liefern Belege und explizieren auch den Sinn einer Rarheit der Geste,
immer unter Einbeziehung zu beachtender Geschmacksvorstellungen und ästhetischer
Parameter. Solche Geschmacksparameter aber gilt es bei der Bestimmung des Begriffs der
Geste, der ich mich nunmehr zuwende, natürlich gerade zu vermeiden.
Ich habe Ihnen an Beispielen für Gesten bereits genug geliefert, um Ihnen den Begriff
nach Kräften suspekt und unzuverlässig erscheinen zu lassen. Aber diese
Unzuverlässigkeit hat der Begriff der Geste, wie ich denke, mit allen anderen Begriffen
gemein. Meine bzw. unsere Ausgangslange ist hier also nicht schlechter als sonst.
Gefährlich scheint mir die Sache nur dann zu werden, wenn man davon ausgeht, daß der
Begriff Geste die Bezeichnung für eine irgendwie einheitliche Menge von Sachen oder von
Anwendungsfällen ist. Daß also alle Anwendungsfälle des Begriffs Geste etwas gemeinsam
haben müssen. Diese Auffassung würde mir naiv erscheinen, und gegen sie möchte ich
lieber durch eine Sammlung von Beispielen, die ebenso die Heterogeneität des Begriffs
lehren kann, angehen. Ich gehe, wie ich Ihnen im vorübergehen mitteilen kann, im übrigen
grundsätzlich davon aus, daß Begriffe nicht über festgelegte Extensionen verfügen,
daß also in Begriffen keine feste Anzahl von Gegenständen beschlossen liegt, auf die
sich diese Begriffe beziehen, und die wir nur zusammentragen oder gar entdecken müßten.
Gleichfalls gehe ich davon aus, daß es keine feste, gegebene (und erst recht keine wahre)
Bedeutung von Begriffen gibt, weshalb etwa Platons berühmte metaphysische "Was ist
X"-Frage für heutige Ohren eher in die Irre führt. Eine definitive und ultimative
Antwort auf die Frage "Was ist eine Geste?" kann es - ebenso wie etwa auf die
Frage "Was ist Tugend?" (à la Platon) - niemals geben. Wir sind es, die den
Begriffen eine Bedeutung geben. Diese Fertigkeit ist aber stets eine vorläufige,
veränderbare, dynamische Fertigkeit, deswegen können wir uns hier grundsätzlich nur
fragen: "Was ist eine sinnvolle (nicht: was ist die definitive) Antwort auf die
Frage, was eine Geste ist?" Für eine lexikalische Bedeutung des Begriffs
"Geste" wende ich mich nun zunächst an Wahrig: "Bewegung, die etwas
ausdrücken soll (konventioneller als die Gebärde; unverbindl. Höflichkeitsformel".
Wahrig führt den Begriff auf das lateinische gestus zurück und übersetzt dies:
"'Gebärdenspiel des Schauspielers oder Redners', zu gerere 'tragen, tun,
verrichten'". Philologen und Philosophen sind sich für einen Blick auf die
lexikalische Bedeutung von Worten oft zu schade, es sei denn, man greift auf den Grimm
zurück. Dieser ist aber für unsere Zwecke hier durchaus nicht unbedingt geeignet,
zumindest dann nicht, wenn wir, wie ich annehme, einen heutigen Begriff des Ausdrucks im
Auge haben. Nun ist mir persönlich durchaus nicht klar, was Wahrig veranlaßt hat, die
Geste für konventioneller als die Gebärde zu halten; dies ist mir umso unklarer, als wir
(und auch Wahrig selbst) so etwas wie Gebärdensprache kennen, die natürlich durchaus als
konventionell anzusprechen ist. Auch die Annahme Wahrigs, Gesten seien Bewegungen, die
etwas ausdrücken sollen, scheint mir - philosophisch gesehen - durchaus fragwürdig. Wir
gelangen, von dieser Definition ausgehend, sehr schnell zum Begriff der Intention und sind
sodann geneigt, bei der Geste von einer zugrundeliegenden Absicht zu sprechen. Ich möchte
jedoch bei dieser Gelegenheit auf das Problem hinweisen, daß uns diese Einschränkung,
d.h. die analytische Verbindung von Geste und Intentionalität, den Begriff der Geste
beinahe unbrauchbar machen kann. Dies sage ich auch angesichts der Tatsache, daß in der
literaturwissenschaftlichen Diskussion des Begriffs gerade die Annahme einer
voraussetzbaren Intention der Geste m.E. für Verwirrung gesorgt hat. In der Mediävistik
haben Cornelia Müller und Harald Haferland "vier Typen von Gesten"
unterschieden, nämlich "referentielle, performative, diskursive Gesten und
Zeigegesten". Dabei sind performative Gesten "solche Handbewegungen (oder
Bewegungen eines Körperteils), die Dinge in der Welt nachahmend darstellen. So lassen
sich etwa das Öffnen eines Fensters durch den andeutenden Nachvollzug der Handlung oder
auch die Form eines Bilderrahmens durch zeichnendes Nachahmen seiner ovalen Form gestisch
darstellen." Demgegenüber sind performative Gesten redebegleitende Gesten, z.B.
"das Falten der Hände" als 'Begleitung' des Gebets oder die "nach außen
gewendeten Handflächen", mit denen man ein Argument zurückweist. "Diskursive
Gesten schließlich erfüllen äußerungsstrukturierende Funktion: Mit einer einfachen
rhythmischen Bewegung werden relevante Aspekte der sprachlichen Äußerung betont, oder
durch das Wiederaufnehmen bereits verwendeter Gesten werden zusammenhängende
Äußerungsteile quasi anaphorisch miteinander verknüpft." "Diese drei
Gestentypen sind" - nach Müller/Haferland - "von Zeigegesten zu unterscheiden,
denn Zeigegesten stellen Referenz durch Hinweisen auf das bezeichnete Objekt her, während
referentielle, performative und diskursive Gesten es nachahmend darstellen suchen."
Ich will mich hier nicht mit den einzelnen Mängeln dieses - natürlich grundsätzlich
verdienstvollen - Bestimmungsvorschlages beschäftigen: etwa mit dem Problem des
Nachahmungsbegriffs, der z.T. unzureichenden Abgrenzung der einzelen Typen untereinander
etc. Statt dessen will ich nur darauf hinweisen, daß alle hier aufgelisteten Typen stark
semantisch bzw. semiotisch akzentuiert sind, und daß dies große Nachteile birgt. So
haben alle Gestentypen eine darstellende bzw. nachahmende, redebegleitende,
redestrukturierende oder gar zeigende Bedeutung. Diese Bedeutungen verweisen, so lehren
mindestens die Beispiele von Müller/Haferland, auf bestimmte Ausdrucksintentionen der
Sprecher bzw. Zeichengeber zurück. Entscheidend für den literaturwissenschaftlichen
Kontext scheint mir nun aber zu sein, daß es sich um hermeneutisch oder interpretatorisch
lohnenswerte, d.h. auch z.T. schwierige Gesten erst dort handelt, wo die Intention oder
die Bedeutung des Zeichens im Dunkeln liegt, wo wir uns z.T. sogar fragen müssen, ob eine
Bedeutung im strengen Sinne überhaupt vorhanden ist. In jedem Falle werden solche
Bedeutungen oft alles andere als intendiert, so daß wir uns - von der
Literaturwissenschaft aus - auch gegenüber Wahrigs Definition wohl zurückhaltend geben
müssen. Dies kann ich Ihnen nur durch einige Beispiele verdeutlichen. Und bei diesen
Beispielen handelt es sich grundsätzlich um sozusagen kleine Gesten, d.h. um körperlich
unauffällige, kaum exponierte, um unaufwendige und minimale Gesten, die dennoch von
literaturwissenschaftlich und literarisch außerordentlicher Bedeutung sind.
In Thomas Manns Buddenbrooks, einem Roman von relativem Gestenreichtum, kommt mindestens
einer Geste einer Romanfigur leitmotivische Bedeutung zu. Die Konsulin Elisabeth
Buddenbrook, die Mutter, eine Frau von vollendeten gesellschaftlichen Form, wird gleich zu
Beginn des Romans anhand einer "ihr eigentümliche[n] Handbewegung" eingeführt
und charakterisiert, die im Roman mehrfach wiederkehrt. Sie "vollführt[]"
nämlich eine Bewegung mit der Hand "vom Mundwinkel zur Frisur hinauf, als ob sie ein
loses Haar zurückstriche, das sich dorthin verirrt hatte." Als ob sie ein loses Haar
zurückstreicht, das bedeutet hier, daß eigentlich kein Haar zu erkennen ist, das in
dieser Weise geordnet oder gebändigt werden müßte. Die Konsulin offenbart mit ihrer
Geste eher eine innere Bewegung der Nervosität, eine Angespanntheit oder Unsicherheit,
die sich in dieser kleinen Symptomhandlung indirekt äußert. Wie sehr sich die Konsulin
auch in Momenten leichter Irritation zu beherrschen und wie elegant sie die Form zu wahren
versteht, dies zeigt die angedeutete Geste. Sie ist aber weit davon entfernt, mit einer
eigenen Bedeutung intentional versehen zu sein. Wir können noch nicht einmal so weit
gehen zu sagen, die Konsulin wolle mit dieser Geste etwas abweisen und ein gewisses Maß
ein Kommunikationsunbereitschaft signalisieren, denn wir wissen überhaupt nicht, ob sie
etwas signalisieren will. Daher haben wir, gleichgültig ob uns nun die Geste der Konsulin
auch gegen deren Willen etwas über sie oder über die Situation, in der sie sich
befindet, aussagt oder nicht, erhebliche Schwierigkeiten, die geschilderte Körperbewegung
überhaupt als Geste zu klassifizieren, sobald wir uns nämlich der Definition Wahrigs
oder dem Modell von Müller/Haferland anschließen. Denn "etwas ausdrücken [...]
soll" (s.o.) diese Bewegung überhaupt nicht, sie ist keine referentielle,
rederelevante oder zeigende Geste, und dennoch würden wir umgangssprachlich kaum zögern,
die Bewegung als eine merkwürdige Geste zu bezeichnen.
Wenn wir jedoch die Konsulin fragen könnten, was ihre Bewegung ausdrücke oder bedeute,
so würde sie zweifellos antworten können: "Sie bedeutet garnichts." Wir haben
es, vom Signalgeber aus gesehen, mit einer bedeutungslosen Geste zu tun, und wir haben sie
als solche in unserer Absicht, einen Text zu interpretieren, gerade ernst zu nehmen. Auch
sagt ihre Geste über die Konsulin als Romanfigur nur und gerade insofern etwas aus, als
sie eine unwillkürliche, eine für sie bedeutungslose Geste ist. Als Bewegung wird sie
gerade durch ihre scheinbare Bedeutungslosigkeit interessant, und dies spricht keineswegs
dagegen, sie als Geste zu bezeichnen.
Es wäre nun sicherlich naheliegend, einfach den Erzähler, vielleicht auch den Autor als
Signalgeber einzusetzen, also den Erzähler als denjenigen zu benennen, durch den die
Geste etwas ausdrücken soll. Aber auch dieser Weg, wie mir scheint, führt nicht zum
Ziel, und zwar insofern, als wir ja auch eine Körperbewegung als Geste bezeichnen
könnten, hinsichtlich deren uns der Autor versichert hätte, daß nichts mit ihr gemeint
sei. Leser wissen mehr als Interpreten. Hieraus folgt nun zunächst zweierlei: Zum einen
können wir den Begriff der Geste nicht, wie Wahrig will und wie auch Müller/Haferland
suggerieren, von einer Intention abhängig machen, nach welcher eine Körperbewegung etwas
bedeuten soll. Zum anderen aber müssen wir, wenn wir von Gesten sprechen, vermutlich mit
der Möglichkeit bedeutungsloser Gesten rechnen, mit Gesten also, die nur kraft des
Körperaufwandes und besonders im Sinne einer Exponiertheit der Bewegung so genannt
werden.
Bevor ich mich mit dem möglichen Kriterium der Exponiertheit noch einmal beschäftigen
werde, lassen Sie mich im vorübergehen eine Theorie streifen, die mit dem konventionellen
Gestenkriterium der Intention bzw. der Absicht scheinbar radikal aufgeräumt hat: nämlich
die Theorie Vilém Flussers. Es ist wohl wenig übertrieben, unsere Beschäftigung mit dem
Thema Geste auch als eine Wirkung der Arbeit Flussers zu betrachten. Flusser hat vor
einigen Jahren unser Thema prominent zum Titel eines Buches gemacht: Gesten. Versuch einer
Phänomenologie. Flusser diskutiert in seinem Buch zwei Definitionen der Geste. Die erste,
konventionelle Definition lautet: "Die Gesten sind Bewegungen des Körpers, die eine
Intention ausdrücken." Ihr mißtraut Flusser aufgrund des Begriffs der Intention,
weil in ihm zuviel von Freiheit und Subjektivität herumspukt. Diese Bedenken Flussers
kann man respektieren; obwohl es seit längerer Zeit auch Theorien (z.B. von Searle und
Dennett) gibt, die mit Freiheit und Subjektivität nichts zu tun haben; aber diese
Theorien hat Flusser, wie es scheint, nicht zur Kenntnis genommen. Seine zweite,
favorisierte Definition lautet: "Die Geste ist eine Bewegung des Körpers oder eines
mit ihm verbundenen Werkzeugs, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung
gibt." Diese Definition, auf der Flusser sein Buch aufbaut, scheint mir ein
klassischer Fall für einen Fehler zu sein, nach dem man durch eine zu weit gefaßte
Begriffsbestimmung alles mögliche in seinen Untersuchungsbereich 'hereindefiniert'. Denn
nach dieser Definition wird nicht nur Flussers prägnantestes Beispiel, bei dem jemand
einem anderen einen Stich in den Arm versetzt, zu einer Geste, sondern auch alle
möglichen anderen Bewegungen, die wir gewöhlich nicht als Gesten bezeichnen würden.
Dies wird in dem Buch, das Flusser vorgelegt hat, ohne weiteres deutlich. In ihm ist nicht
nur von der Geste des Schreibens, sondern eben auch von der Geste des Sprechens die Rede.
Flusser behandelt die Geste des Zerstörens ebenso wie die Geste des Liebens, die Geste
des Malens nicht weniger wie die Geste des Fotografierens. Schließlich gibt es auch so
schöne Gesten wie die Geste des Telefonierens und die Geste des Musikhörens. Die Welt -
und speziell unser Verhalten in dieser Welt - besteht aus Gesten. Durch eine beliebig weit
gefaßte Definition ist es nun kein Wunder, daß Flusser keine Phänomenologie der Geste,
sondern den Versuch einer Phänomenologie überhaupt glaubt liefern zu können. Ihm ist
auf dem Umweg über die Geste unversehens die gesamte Welt in den Blick geraten, und er
ist nun in der wissenschaftlich beneidenswerten Situation, die gesamte Welt mit Hilfe des
Gesten-Begriffs neu beschreiben zu können.
Prüf- und Extremfall einer solchen Theorie, aber ebenso kritisches Exempel jedes
Gesten-Diskurses ist die sogenannte kleine Geste, also jene Geste, bei welcher kaum noch
eine Körperbewegung auszumachen ist. Diese Körperbewegung war ja auch im Buch Flussers
als Kriterium für Gesten durchaus aktuell geblieben. Ich kann mich also für eine
operationale Definition der Geste dieses kleinen Konsenses bedienen, und indem ich auf die
zuvor unterstrichene Eigenschaft einer gewissen, qualifizierenden Exponiertheit jener
Körperbewegung, die als Geste bezeichnet werden soll, zurückkomme, und der Kritik an der
Intention kombiniere, kann ich Ihnen nunmehr eine vorläufige Arbeitsdefinition anbieten,
die ich folgendermaßen ausdrücken würde: Gesten sind zeichenhafte Bewegungen des
Körpers, denen ein gewisses Maß an Exponiertheit im Bewegungskontext zukommt. Diese
Definition weiter auszuarbeiten oder noch eingehender zu begründen, fehlt mir hier die
Zeit, ich möchte jedoch unterstreichen, daß es sich um eine Arbeitsdefinition handelt,
die uns nicht von der Notwendigkeit entbindet, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob jenes
gewisse Maß an Exponiertheit im Bewegungskontext tatsächlich vorliegt oder nicht. Mit
der Definition ist also noch immer wenig genug getan. Dies indes scheint mir der
Normalfall jedes Definitonsversuches zu sein.
Lassen Sie mich nun abschließend diese Bestimmung der Geste an drei Beispielen kleiner
Gesten aus der Literaturgeschichte exemplifizieren und begründen.
In Christoph Martin Wielands großartigem Romanprojekt Geschichte des Agathon lernen wir
den Helden des Romans in einem Augenblick der allergrößten Erschöpfung kennen. Agathon,
in einem unwegsamen Walde verirrt, bricht zu Beginn des Romans zusammen. Da wird er
plötzlich durch ein lärmendes Getöse aufgeschreckt. "Auf einmal erschallte der
ganze Berg [...] von [...] laute[m] [...] Getöse [...], daß Agathon, von Entsetzen und
Erstaunen gefesselt, wie eine Bildsäule stehen blieb, indes [...] entzückte[]
Bacchantinnen gaukelnde Tänze um ihn her wanden, und durch tausend unsinnige Gebärden
ihre Freude über die vermeinte Gegenwart ihres Gottes ausdrückten." Drei mögliche
Gesten werden hier beschrieben: das Zur-Bildsäule-Erstarren Agathons, die gaukelnden
Tänze der Bacchantinnen und die durch tausend unsinnige Gebärden ausgedrückte Freude
der Rasenden. Unterscheiden wir hier nach den verschiedenen Gesten-Definitionen, so ist
das Zur-Bildsäule-Erstarren Agathons nach Wahrigs Bestimmung ohne weiteres keine Geste,
denn die Bewegung soll nichts ausdrücken, sondern sie ist, nur unwillkürlicher Ausdruck
des Erschreckens; auch nach Flussers Definition handelt es sich nicht um eine Geste, denn
das Erstarren ist kausal erklärbar - eben durch den Schreck; nach meiner Definiton
schließlich geht die Bewegung mühelos als Geste durch, denn sie ist eine
Körperbewegung, die zeichenhaft etwas über den Gemütszustand Agathons aussagt und im
Bewegungsablauf ohne weiteres dadurch exponiert ist, daß sie diesen Bewegungsablauf
abrupt unterbricht. Die dionysischen Tänze der Frauen sind nach Wahrig, Flusser und nach
meiner Definition Gesten, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Denn die Tänze sollen
etwas ausdrücken, sind nicht kausal erklärbar, und sie sind zeichenhaft exponiert. Die
unsinnigen Gebärden schließlich sind ein Zweifelsfall. Denn ob sie Freude ausdrücken
sollen, wie Wahrig verlangt, ist unklar; auch für Flusser sind sie nur uneindeutig
Gesten, denn ob die "ausgedrückte Freude der Rasenden" (s.o.) nicht
unwillkürliche, gleichsam vegetativ erklärbare Bewegungen sind, bleibt offen. Nach
meiner Definition sind sie wiederum eindeutig Gesten, weil sie zeichenhaft und exponiert
eben Freude ausdrücken. Mein zweites Beispiel stammt aus Donatien Alphonse Francois
Marquis de Sades berüchtigten 120 Tagen von Sodom. Bei dem Buch handelt es sich um ein -
durchaus ermüdendes - Gesten-Repertorium von bekannt abstoßender Art: "Um 11 Uhr
begab man sich in die Gemächer der Frauen [...]. Man bestastete und küßte viel, und die
acht armen kleinen Opfer erröteten über die offen bezeigte Lüsternheit, bedeckten sich
mit Händen, versuchten ihre Reize zu verteidigen, aber als sie bemerkten, daß ihre
Schamhaftigkeit ihre Herren und Meister aufbrachte und verärgerte, zeigten sie sogleich
alles." Auch hier drei Gesten, die ich erörtern möchte: (1) "Man betastete und
küßte viel" (s.o.) und zeigt offen seine Lüsternheit, (2) die Opfer erröten und
bedecken sich, und (3) die Opfer entblößen sich. Hier herrscht, wenn ich richtig sehe,
relative Einigkeit. Nach Wahrig und nach Flusser sind - mit Ausnahme des Errötens - alle
hier beschriebenen Körperreaktionen als Gesten zu klassifizieren, denn sie sollen (für
Wahrig) etwas ausdrücken, nämlich Lüsternheit, Scham und sexuelle Bereitschaft, und sie
sind (für Flusser) nicht-kausal, insofern sie sozusagen 'freie' bzw. undeterminierte
Handlungen der Akteure dokumentieren. Nach meiner Definition sieht es genauso aus, das
Erröten ist allerdings für mich nur deshalb keine Geste, weil es überhaupt keine
Körperbewegung darstellt. Fragen kann man sich bei allen drei Beispielen, ob sie das
Kriterium der Exponiertheit erfüllen. Denn innerhalb des Bewegungsablaufs, den das Buch
vorführt, scheinen Betasten, Küssen, sich Verweigern und sich Hingeben insgesamt völlig
unauffällig und integriert zu sein. Was auf der Straße als große Geste betrachtet
würde, z.B. die körperliche Entblößung, erscheint im Rahmen von de Sades Roman
gänzlich unspektakulär und beiläufig. Es wäre deshalb auch verfehlt, der Stelle und
den Bewegungen, die in ihnen geschildert werden, größere Bedeutung beizumessen. Sie
dokumentieren unter Umständen große Emotionen, sind aber dennoch bestenfalls kleine
Gesten.
Entscheidungsfall jedes Versuches einer Gestendefinition sind Grenzfälle der Gestik. Aus
diesem Extrembereich stammt mein letztes Beispiel, eine Situation aus Charles Dickens'
Roman David Copperfield. Sie betrifft eine Szene aus der Vorgeschichte des Romans,
nämlich die Geburt des Ich-Erzählers, und schildert, wie diese Geburt durch das
Eintreffen einer Tante und den Schreck, den dieses Eintreffen der Mutter verursacht,
eingeleitet wird: "Als sie das Haus erreichte, gab sie [...] einen [...] Beweis ihrer
Identität. Mein Vater hatte oft erwähnt, daß sie sich selten wie gewöhnlicher
Christenmensch benehme; und jetzt, anstatt die Glocke zu ziehen, trat sie ans Fenster und
drückte ihre Nase mit solcher Energie gegen das Glas, daß meine arme gute Mutter nachher
immer erzählte, die Nase sei in einem Augenblick ganz platt und weiß geworden."
Machen wir ein letztes Mal die Probe! Das An-die-Scheibe-Drücken der Nase von Miss
Betsey, denn um diese in der Folge wichtige Romanfigur handelt es sich, wäre nach Wahrigs
Begriffen keinesfalls eine Geste, denn so ungewöhnlich die Bewegung auch sein mag, so
wenig liegt es vermutlich in der Absicht von Miss Betsey, damit etwas ausdrücken. Der
Fall ist vielmehr, wie der Roman zu Protokoll gibt, nicht mehr als einer von zahlreichen
Belegen für eine gewisse Sonderbarkeit der Tante. Für Flusser hingegen haben wir es mit
einer Geste zu tun, da es keine kausale Erklärung, sondern nur ein Motiv für die
Handlung gibt. Und auch für mich ist diese exemplarisch kleine Körperbewegung
selbstverständlich eine Geste, denn sie ist zeichenhaft und exponiert zugleich.
Betrachten wir die Beispiele rückblickend, so finden wir folgendes Ergebnis: Deutliche
Uneinigkeit besteht nur im Fall der Beispiels des Erstarrens zu einer Bildsäule bei
Wieland und für das 'Nase-Plattdrücken' bei Dickens, allerdings auf unterschiedliche
Weise. Im ersten Fall, wenn ich Ihnen dies noch sportergebnishaft zusammenfassen darf,
stehen Wahrig und Flusser gegen mich 2 : 1, im Dickens-Beispiel stehen Flusser und ich
gegen Wahrig 2 : 1. Nehmen wir die inkriminierten Beispiele aus dem Buch von Flusser
wieder hinzu, z.B. die Geste des Telefonierens oder des Musikhörens, so stehen hier
eindeutig Wahrig und ich gegen Flusser 2 : 1, so daß wir also über Beispiele für alle
möglichen Mehrheitsverhältnisse bei der Anwendung der genannten Definitionen verfügen.
Was ich Ihnen also hier vorführen wollte, ist, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen des
Weg- oder Hereindefinierens wir aufgrund unterschiedlicher Bestimmungen gelangen. Und
solche Unterschiede betreffen ja alle Ergebnisse, die wir auf einer Tagung wie der
unsrigen erzielen können, ganz unmittelbar. Wir sind also, glaube ich, gut beraten,
diesen Punkt hier zu diskutieren. Zum anderen aber lehrt es, daß Definitionen, und dies
haben Wahrig verzeihlicherweise und Flusser fälschlicherweise unterlassen, die
Bestimmungen von Begriffen vor dem Hintergrund konkreter Beispiele diskutiert und
formuliert werden müssen. Diese Beispiele lehren nun, daß Wahrig und Flusser das Moment
der zeichenhaften Exponiertheit im Bewegungskontext außer acht lassen. Denn die Bewegung
des Telefonierens oder Musikhörens ist ebensowenig zeichenhaft exponiert wie die Bewegung
des Henkers beim Köpfen des Jochanaan. Diese Bewegungen sind vielmehr einfach
zweckmäßig integriert, weder zeichenhaft exponiert noch sonstwie auffällig innerhalb
des Bewegungsablaufs, der beim Musikhören oder beim Köpfen üblich ist. Flussers
Definition ist daher zu weit. Das Erstarren zur Bildsäule aber ist zeichenhaft exponiert,
d.h. es stellt eine signifikante und kontextuelle Unterbrechung des Bewegungsablaufes dar.
Wahrigs Definition ist daher zu eng.
Noch zwei Bemerkungen: Das Kriterium der Exponiertheit entbindet uns nicht von Versuchen
der ständigen Explikation und Anwendung, wenn wir Gesten als solche qualifizieren wollen.
Es vermeidet also vielleicht Fehlklassifikationen, aber nicht so, daß alle Fehler
kategorial ausgeschlossen wären. Es handelt sich vielmehr um ein regulatives
Zusatzkriterium. Zweitens und letztens: Großzügig ist auch meine Definition in dem
Sinne, als sie Ganzkörpergesten erlaubt. Es wäre also über weitere Zusatzkriterien, die
die Körperbewegung etwa auf den Handlungsspielraum der Extremitäten einschränken, noch
nachzudenken. Aber dies läßt sich, wie ich denke, verhältnismäßig leicht nachtragen.
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