I. Prolog vom Menschen Die von Winkler festgehaltenen Gebärden des Körpers, Bewegungen des Geistes, werden, wie
vielleicht die Kurve dieses Lebens insgesamt, in der literarischen Arbeit symbolisch für
den Menschen und reichen weit über das Biographische hinaus. Was hier als individuelles
Psychogramm gelesen werden kann, ist zugleich und zuerst eine Momentaufnahme des modernen
Menschen, zu gut fügt es sich in den Reigen seiner Porträts seit der Jahrhundertwende.
Zu belesen ist Winkler in den Arbeiten derer, die seine brüchigen Umrisse zu sichern
suchten und zu zentral ist nicht zuletzt die Frage nach den Wandlungsformen des
schöpferischen Eros und der Entbindung der Sexualität von ihrer Verpflichtung auf
Reproduktion und Geschlechterdichotomie, als das die zwischen Ekstatik und
Bewußtlosigkeit des Ichs oszilierende Prosa Winklers als bloßes Dokument eines
literarisch aufgeladenen und letzlich gescheiterten coming out gelesen werden
sollte. II. Ein "im Tode gebrochenes Auge" - die Geste der Verneinung Ich habe gezögert, meine Überlegungen so zu beginnen: mit einer Szene, die uns
nach Anschauung Dritter nur zu imaginieren bleibt, mit einer zu erschließenden Geste: Ein
durch die Einnahme von Schlaftabletten zu Tode gekommener, auf dem Körper ein Handspiegel
in dem er sich, so denken wir uns, bis er die Augen schließt, betrachtet haben mag. Nicht
der Suizid, auch wenn ein selbstgewählter Tod gestisch sein kann, die Betrachtung erregt
in dieser Inszenierung Aufmerksamkeit. Winklers Blick in den Handspiegel kann gelesen
werden als Anamnese eines in den Schlaf des Körpers gleitenden Sterbens. Ihr Protokoll
wurde, anders als Momente der Bewußtlosigkeit gestaltende Texte des Autors, nicht mehr
geschrieben. Die Bedrohung der eigenen Existenz durch eine Erfahrung des Nichts, durch
einen Sturz in die Bewußtlosigkeit, das Zerspellen der für sicher genommenen Dingwelt
und des eigenen Selbst ist ein Grundmotiv in Winklers Schreiben. - Lesen wir etwa eine
Passage aus Im Gewächshaus, Winklers, wie ich meine, bestem Text: "Und ich verliere mich. Ich fühle mein Versinken in ein unbekanntes Element. Wie
in Glas, Aber ich lasse es wehrlos geschehen. Der Schmerz meiner Existenz, der in die
feinsten Enden meiner Empfindung reicht, hat mein Bewußtsein tödlich gelähmt. Wünsche
jagen, ohne ein Ziel zu kennen, in verheerenden Schwärmen darüber hin, und mit
rückwärtsgewandtem Blick, den Mund zerbrochen, starrt das ruinöse Antlitz des
Unvermögens auf den Grund eines erschöpften Brunnens. Ich erliege. Das Bild der Welt
fällt für mich auseinander. Es beginnt sich kaum merklich zwischen den einzelnen Teilen
zu öffnen. Anfangs nur Spalten, durch die das Wesenlose ganz unscheinbar eindringt,
zunächst nicht mehr als ein schwarz betonter Kontur um ein Ding, das dadurch nur heller
und deutlicher gegen ein anderes hervortritt. Langsam nur zerstört ihm das Dunkel die
Grenzen, ganz ohne Gewaltsamkeit, es wie zum Spiel nur leicht und fast schalkhaft
verwandelnd. (...) Das Nichts verfügt auch über Grazie, wenn es gilt, den Schmerz zu
sich zu bekehren. Und ich gebe mich rückhaltlos an sie hin. Sie macht mir die Leere
willkommen, bekränzt ihr Nahen mit goldenem Mohn. Wie leicht, wie verführend, ihr alles
zu opfern! Das Liebste zeigt sich als ihr verwandt, hat nur darauf gewartet, spurlos vor
ihr zu vergehen.. Nirgends ein Wert, der ihr widersteht. Die Leere dringt wie ein wohliger
traumloser Schlaf in mich ein. Gleiche ich endlich den stillen Geschöpfen, die bewußtlos
und Kreise ziehend beruhigt über dem Nichts existieren?- - - - - - - - - - - - - - - -
" (Winkler: Im Gewächshaus; 47f.) (1)
Bewußtsein des Geistes gegen Bewußtslosigkeit - ich füge hinzu: des Körpers - zu
tauschen, eine harmonisch und androgyn konnotierte Figur der Geometrie: der Kreis, und
eine aus Verbindungsstrichen gezogene Linie: die drei Merkmale in denen der sich an ein
"Nichts" verlierende Betrachter den Fischen im Teich gleichen will, sind hier
nicht als Spezifika amphibischen Lebens von Interesse. Sie markieren eine Hoffnung, die in
Winklers Denken mit dessen Ausrichtung an Kulturen der Geste verbunden sind. Die Diagnose
mag erstaunen, ergibt sich aber aus der Überführung von im Körperraum geübten Gesten
der Physis in den Raum des Textes. Dass diese möglich, literarisch produktiv, ist und
mehr noch eine Perspektive für ein anderes Bild des Menschen eröffnet bezeugt Winklers
schmales Oeuvre.
Doch am Punkt, an dem wir - außerhalb des Textraums - in eine Reflexion des Gestischen
einsteigen, ist von Kreis, Linie und bewußtlosem Körper nichts mehr zu finden. Dem Blick
auf die Wasserfläche, auf der dem Erzähler "ein im Tode gebrochenes Auge"
(Winkler: Im Gewächshaus; 45)entgegen starrt, entspricht Winklers Blick in den Spiegel, der durch die
erkennende Betrachtung hindurch in einem "Nichts" sich verliert. Auf Ebene der
Physis sich dieser Erfahrung hinzugeben, nicht sie als das Nadelöhr zu begreifen, durch
das zu einem Leben in der Sphäre formbewußter Einbildungskraft zu gelangen wäre oder zu
versuchen, gegen ein befürchtete wie ersehnte Bewußtlosigkeit Barrieren zu errichten,
ist die Entscheidung, die hier getroffen wird. Das Auslöschen der Physis ist, als
Hoffnung auf Unmittelbarkeit, gegen deren Bindung an Kulturen der Geste gerichtet. Der
Suizid ist letzter Triumph des erschriebenen zweiten Körpers oder - je nach Standpunkt -
sein Scheitern daran, sich nicht im "Leben" halten zu können. Der Test auf die
Stabilität der Gesten im Jenseits der Literatur wurde gewagt, und er ging ungünstig aus.
Der Verführung durch das "Nichts", das immer auch eine homoerotische
Faszination und ein androgynes Selbstbild umschließt, glaubt Winkler sich nur hingeben zu
können, indem er sich zugleich von einem unmittelbaren Leben abwendet. Doch noch dieses
beobachte Sterben ist, so behaupte ich, auf zweifache Weise gestisch:
Der dem eigenen Sterben zugewandte Blick ist gestisch, auch wenn er eine selbstbezogene,
eine nur gegenüber dem Leben - was immer das in dieser naiven Apodiktik sein mag -
geübte Geste ist, die niemandem gilt. Oder doch einem? Etwa der im Spiegel den ihr
geltenden Blick zurückwerfenden, anderen Figur des Autors?
Und die hier berichtete Szene bekommt gestischen Charakter gerade auch in der Vorstellung,
die wir uns von ihr machen, in dem Text, in dem deren Bild fixiert wird. Winklers
betrachtendes Auge - das ich hier, vielleicht gar gegen die persönliche Wahrheit dieses
Moments, imaginiere - ist nicht mit Händen zu greifen, die von ihm geübte Geste kann uns
nicht erreichen, sollte sie uns je gegolten haben. Der biologische Körper kehrt auf die
Bühne zurück und bleibt zugleich unsichtbar. Doch die für ihn angenommene Geste wird in
einen Text übersetzt, in dem sie unabhängig von Gehirn- und Herzfunktionen einem gilt:
dem Leser.
Diese so zweifach begründete Geste ist eine der Verneinung. Eine negative Geste, nicht
nur weil sie von dem sie übenden Körper weiter nicht entfernt sein könnte als in dieser
Textgestalt, sondern auch weil sie, um auf Ebene der Physis mehr zu sein als bloßer
Vollzug einer Entscheidung, einer begründenden positiven Geste notwendig bedarf: diese
ist nun nicht einfach in der Fülle des vitalen Körpers zu finden, sondern in einer Geste
des Schreibens und in der Binnenstruktur der diese bezeugenden Texte. Also auch in der
Überführung von Kulturen der Geste in Schriftkultur: in den Raum des Textes. III. Entgrenzung im Text und die Geste des Schreibens Winklers literarische Strategie ist - in den sie gleichrangig motivierenden Ordnungen des
Denkens und der Lust - von Entgrenzung bestimmt; von Entgrenzungen, die ihn der Erfahrung
des "Nichts" gegenüber empfindlich machen und die Stabilität des
individuellen, ich füge hinzu: männlich-heterosexuellen, Selbst in Frage stellen.
Winklers Entwürfe einer anderen Physiognomie des Menschen wie seine Erkundung der die
Linie begleitenden Studien der Leere sind eine Konsequenz hypertropher Geistigkeit. Diese
Hypertrophie des Denkens wird an die Stelle der sinnlichen Ansprüche des Körpers
gerückt, die zugleich jedoch nicht zuletzt in ihm gründen: ist die Einrichtung eines
Körperbildes, gerade dann wenn es sich von der heterosexuellen Norm entfernt, doch ein
grundlegend geistiger Prozeß. - Eine Erfindung, in der das nur scheinbar unumstößliche
Wesen eines Körpers - eines Dings oder Menschen - fraglich und der Möglichkeitshorizont
ihrer anderen Erscheinung ausgeschritten wird. Der Weg zu dieser fernen Nähe führt durch
die Erfahrung des Nichts. Darin, daß es nicht gelang ein neues Gleichgewicht zwischen
dieser hypertrophen Geistigkeit und den sinnlichen Ansprüchen des Körpers herzustellen,
ist eine Ursache für den als Geste der Verneinung lesbaren Suizid zu sehen, der eine
Geste des Schreibens als Aufschub vorangeht. Ihren Gegenpol hätten Gesten der
Freundschaft bilden können, auf die hin Winklers literarische Strategie der Begrenzung je
länger je mehr ausgerichtet war. Der Autor reagiert auf die Hypertrophie des Geistes wie
auch auf die "erlittenen" Ansprüche des sinnlichen Körpers mit einer
Ausrichtung seines Denkens an den Maßverhältnissen des Leibes. In seinem Schreiben
versucht Winkler einer - sei es als ekstatische Fülle oder vernichtende Leere, immer als
existentiell - erlebten Erfahrung etwas entgegen zu setzen: eben eine als Teil einer
ästhetischen Anthropologie (2) zu verstehende Auffassung der Gesten, weniger eine Theorie
als ihren literarisch bewährten Gebrauch. Die Gesten des Körpers, nachgerade die
unterbundenen und untersagten mann - männlicher Zuneigung, werden in die Schriftkultur
transponiert. Auf ihren Seiten finden der Literatur nur scheinbar gegenläufigen Kulturen
der Geste eine neue Ausprägung: Als Begrenzung einer Dekonstruktion des Selbst und als
Entwurf eines zweiten Körpers. Ihr Modell entwirft Winkler in einem Gespräch über
die Linie. In ihm wird gegen "Gefühl, Begriff und Ereignis" des
Nichts nicht nur ein logozentrisches Insistieren auf die "Fülle der
unterschiedenen Vorhandenheiten" gesetzt. Es werden gerade auch gestische
Techniken in Anschlag gebracht: Vigilius: (...) Ausgeschieden aus dem Organismus der Wirklichkeit wie ein Fremdkörper,
verlassen wie ich war von den Empfindungen meiner Person, von Wunsch und Sättigung, von
Liebe und Haß, von Freude und Trauer, erfüllte mich einzig ein gegenstandsloses
Verlangen nach irgend etwas Wahrnehmbaren, an dessen Spur ich mein Dasein hätte
bestätigt finden können. Aber dies Zeichen - Kunde meiner selbst - , das mit seiner
Anwesenheit die Abwesenheit meines Seins durchstrichen hätte, konnte nicht anders, als
sein Wesen aus der Wesenlosigkeit selbst bilden. Ich zeichnete auf die unermeßlich
abgründige Leere dieses Papiers eine Linie, die, entsprungen jenem verborgenen Drang, der
bildend an die Stelle des Nichts die Hinterlassenschaft eines Wollens setzt, zunächst von
keinem anderen Willen beseelt war als von dem, zu scheiden. Die Linie war da und
trennte." (Winkler: Gespräch über
die Linie; 63)
Das Ziehen einer Linie ist hier ein eminent geistiger Akt der Selbstschöpfung, der sich
zumindest im Beginnen nicht auf eine Gegenständlichkeit, also auch nicht auf die des
Körpers beziehen kann. Doch zugleich wird das Zeichnen als formende und begrenzende Geste
eingeführt, durch die ein sie Übender sich mit der Welt in ein Verhältnis setzt. Ein
dem Denken nachgeordneter Körper - der Dinge, der Menschen: egal - wird Vor-Bild einer
anderen, wiedergefundenen Figur, die der Zeichnende, sich selbst wieder fassend,
gegenständlich entwirft. Dieser Modus des Denkens steht zu einem vom Körper absehenden,
abstrakten Denken ebenso im Gegensatz wie zu einer nicht formbewußten Fantasie, die beide
keinen Halt gewähren. Dem Zeichnen der Linie als Möglichkeit einem "Nichts"
durch die Hinwendung zu einem an den Körper gebundenen Denken der Geste zu entkommen,
steht an anderer Stelle das Vermessen des Raums zur Seite, das als Möglichkeit einer
Beschränkung der potentiell unendlichen Zahlenreihe gilt: die nach den Maßverhältnissen
des Körpers eingerichtet "Physiognomie" des Tempels von Segesta beschränkt die
drohende Leere ebenso, wie zwei weitere Varianten dieser als Kulturen der Geste
entfalteten Anthropotechnik, die Winkler am Schluß des Dialogs über die "Erkundung
der Linie" erwähnt: Tanz und Musik werden als haltgebende "Gebärden"
eingeführt. Sie stehen im Gegensatz zu einer Auffassung, die in diesen schnell vergehende
Künste des Augenblicks sehen will, die dem auf Dauer Gerichteten bedrohlich scheinen
müssen: "Vigilius: (...) Musik und Tanz sind gestaltete Zeit. der Geist
vollbringt durch sie sein Äußerstes. Er formt die Formlosigkeit selbst. Das zeitliche
Dasein in seiner unabsehbaren gestaltlosen Bewegung wird überlistet, indem die Töne und
die Handlungen es einteilen in gesetzmäßig bestimmte Längen.
Cosmas: In deren Ordnungen aber sind wir gesichert. Dürfen wir also nicht getrost
sein?
Vigilius: Wir müssen, anders können wir nicht die Last des Lebens in jene
Leichtigkeit verwandeln, durch die wir es lieben... Aber ich sehe: die Stunde ist
vorgerückt, Wollen wir nicht zur Ruhe gehen? Es lebt sich gut im Zustand des Schlafes.
Wer werden durch ihn vom Leben erlöst, ohne der Gewalttätigkeit des Todes
anheimzufallen."(Winkler: Gespräch
über die Linie; 88)
Tanzen, Messen und Zeichnen bieten Gewähr gegen die Drohung der Leere: die Geste des
Schreibens können wir in diese Reihe aufnehmen. Winklers Prosa wird auf den dichterischen
Schaffensprozeß hin durchsichtig. Das Schreiben als Geste der Begrenzung und Mäßigung,
und die Beschriftung als Möglichkeit, die Beziehung zu den Dingen der äußeren Welt zu
stärken, werden in der auf ihre Methode reflektierenden Prosa als Varianten von Kulturen
der Geste ausgewiesen und durchgeführt. Winklers Schreiben ist die Geste des
Zeichnens, des Vermessens, des Beschriftens - auch des Tanzens - die er in seinen
Dokumenten thematisiert. Diese in Winklers Prosa aufgerufenen, auf eine gezogene Linie
oder einen gerundeten Kreis als Urformen des Denkens reduziblen Gesten, fordern eine
eigene Schreibweise: sei es die des platonischen, an Valéry-Lektüre geschulten
Gesprächs, das die Physiognomie eines Gedankens dialogisch geben möchte; sei es eine
Prosa, in der die Tektonik des Geistes in Beschreibungen von Gebäuden
- eines Tempels oder eines Gewächshauses etwa - und von Landschaften und Gärten
gegeben wird: ihre Physiognomie entwirft Winkler als das andere Gesicht des Menschen, das
seine anthropomorphen Umrisse verloren hat und auch die Gesten der Zuneigung nicht ohne
Weiteres im Raum des unmittelbaren Körpers üben kann. Winklers literarische Strategie
ist gestisch nicht nur darin, dass sie den Schreibprozeß selbst als Geste betreibt und
auf ihn reflektiert, Gesten als Motive der Literatur entwickelt: der physiognomische Stil
von Winklers Prosa ist selbst Ergebnis der Orientierung des Denkens an den Gesten des
Körpers.
Die Überführung von Gesten des Körpers in Texte, in denen die Bilder der Imagination
gefaßt sind, wird möglich durch eine ähnliche Position, die Sprache, Imagination und
Gestik dem Körper gegenüber einnehmen. Diese drei Vermögen und Ausdrucksformen des
Menschen, so argumentieren Gebauer/Wulf mit Plessner, ermöglichen eine "vermittelte
Unmittelbarkeit der 'exzentrischen Position' des Menschen." Diese bestünde
darin, daß ein Mensch - anders als das Tier - aus sich heraustreten und sich zu sich
verhalten könne: er kann nicht nur im Körper sein, er kann auch zeigen, daß er ihn hat.
Dieses durch Sprache, Einbildungskraft und Gestik ermöglichte Körper-Haben des Menschen
hat Distanz grundlegend nötig. (3) Winklers Schreiben besteht, gegen den Drang des
Sinnlichen zu Nähe und Verschmelzung auf Abstand: die Distanz die der Mensch in seinen
Gesten zu einem, seiner darin erst inne werdenden Körper einnimmt, ist in deren
Überführung in den Text noch gesteigert - schreibend wird also nicht nur ein Abstand zum
sinnlichen Körper behauptet, der als bedrohlich gilt, sondern zugleich ein spezifischer
Modus des Körperhabens eingerichtet, in dem er als Gewähr gegen die Hypertrophie des
Geistes erst erkennbar und berührbar wird. IV. Übergänge zwischen Schriftkultur und den Kulturen der Geste
Schriftkultur und Kulturen der Geste bilden nicht zwangsläufig einen Gegensatz, in der
die Bindung an den Körper gegen das abstrahierende Denken Einspruch erhöbe. Auch die
Annahme, daß sich der Mensch nicht im "Raum des Textes", sondern in der
"zeitlichen Dauer einer Geste" verwirklicht, ist nur die halbe Wahrheit. Sie
reduziert die Dimension des Menschlichen um ihren phantasmatischen Anteil und schränkt
die Reichweite gestischen Verhaltens ein. (Gebauer/Wulf;
84f.)Die Position, in die Körper und Schrift hier zu
einander gesetzt werden, folgt einer Opposition von Logos und Eros, von Abstraktion und
Gegenständlichkeit, nicht zuletzt von Zeit und Raum, die so nicht aufrecht erhalten
werden kann. Vielmehr sind die an den Körper gebundenen und auf einen als Körperraum und
eine Szene bezogenen Gesten in die Prozesse und Bezeugungen der Schriftkultur
überführbar: In dieser entkommt der Mensch der "zeitlichen Dauer" und gibt
sich die Zeit einer anderen Auslegung; oder er phantasiert sich in eine
Augenblicksemphase, und statt auf die vergebliche Dauer der Zeit setzt er auf die Konturen
des Räumlichen. Vielleicht "verwirklicht" sich ein Mensch nicht im Raum des
Textes, aber er erfindet "sich" in ihm und kann seine in Kulturen der Gesten
angegangene Verwirklichung durchaus in die Schriftkultur überführen: die Enkulturation
des Menschen wird gesteigert zu seiner Verwandlung in vielerlei Gestalt: äußerste Masken
werden an die Stelle eines im Innersten begründeten Ego gesetzt. In dieser Operation
verändert der im Textraum wie in der Geste lebende Mensch dann nicht nur die Auffassungen
des Körpers und seines Raumes - an die Gesten gebunden sind - sondern auch die Umrisse
der Schriftkultur. Deren Zeugen schließen nun weniger an arbiträrer Zeichenhaftigkeit
als an eine jenseits der Abstraktion angesiedelte Leibhaftigkeit der Schrift an, die auf
die primäre Geste des Klassifizierens zurückgeführt werden kann, die nicht in einer
positivistischen Auffassung des Wissens aufgeht. Der Gegensatz von an die physis gebunden
Gesten und Schriftkultur wird auch dadurch fraglich, daß das Schreiben eine spezifische
Variante von Gesten der Tätigkeit ist. Gegen die Opposition von Schriftkultur und Kultur
der Geste spricht die Beschreibung von (mit Leroi-Gourhan und Flussér) als Tat zu
begreifenden Gesten. Ihnen kann auch das Schreiben zugeordnet werden, als ein in
spezifischen Formen entwickeltes Tätig-Sein, das zur Ausbildung einer materiellen Kultur
führt. Die spezifische Ausprägung des dichterischen Schaffensprozesses macht diese Geste
jedoch nicht nur - und vielleicht weniger - mit den Mustern engagierter, szientifischer
oder funktionaler Arbeit (nach Flussér) verwandt, sondern vielleicht stärker noch mit
der Geste des Liebens. Diese fassen Gebauer und Wulf als eine "Geste des Überschlags
in den anderen, die die Ich-Grenzen auflöst und ein 'wir' schafft" und
setzt sie der Dominanz von Arbeitsgesten entgegen. (Gebauer/Wulf; 110)Weniger die Geste als
Motiv eines Textes ist das Thema einer als Teil ästhetischer Anthropologie verstandenen
Theorie der Gesten, vielmehr der als kulturelle Prägekraft verstandene Text als Produkt
einer Geste des Tätigseins und des Liebens: dem Schreiben. - Und als Material möglicher
Entwürfe des Menschen. Nicht ein Text, der wie ein Körper, in seiner gestischen Struktur
zu sich, zu seinem Schriftcharakter auf Distanz geht, steht im Zentrum der Aufmerksamkeit,
sondern der dichterische Schaffensprozeß. Dieser findet - als Geste - in einem als sein
Ergebnis gestischen Text ebenso Niederschlag, wie Sprache und Einbildungskraft, deren
materielle Kultur sich ebenfalls in den Blättern der Schriftkultur verwirklicht. Ihre
Texte verwenden nicht nur Gesten als Motive, sondern stehen zu ihnen in einem Verhältnis,
das dem entspricht, das der Körper zu seinen Gesten einnimmt. Was bedeutet es, wenn ein
Autor im Schreiben zu sich, zu seinem Körper auf Distanz geht, wenn ein Text in seiner
gestischen Ordnung zu sich selbst in Distanz gesetzt wird? Was tritt an die Stelle, an die
der Text ja bereits an statt des Körpers gesetzt worden war? Das Äußerste der vom
Körper geübten, an die Physis gebundenen Geste ist der Körperraum und die Szene des
Menschen. Wird die Geste vom Körper abgelöst, gewinnt dieser Raum an Bedeutung, jedoch
nicht als empirischer, sondern als Raum der Einbildungskraft, der in genauen geometrischen
Verhältnissen vermessen wird, die an die Stelle des Physischen der Geste treten. Wie
diese ihren Umraum prägt und von ihm geprägt wird, bestimmen diese geometrischen Formen
den Textraum und werden zugleich von ihm geprägt. An die Stelle des Textes, der an die
des Körpers gesetzt worden war, tritt, gerät dieser zu sich in Distanz, eine Auffassung
des Raums. In seiner Beschreibung wird ein spezifischer Modus des Körper-Habens deutlich,
der sich von der physisch gebundenen Geste unterscheidet. V. Figurationen des Raums - Gesten der Freundschaft Im Zentrum dieser Konstellation, die im Spiel von Sicherung und Verlust, von Be- und
Entgrenzung die Frage nach dem Menschen stellt, steht für Winkler die Frage nach den
Möglichkeiten von Freundschaft. Sie wird in seinen literarischen Arbeiten neben der
Bedrohung des Ego durch ein Erlebnis von Leere zunehmend zum Thema, und ist dieser dadurch
verbunden, daß sie ebenso Teil der literarisch bezeugten wie betriebenen Abrechnung von
Individualität wie der Infragestellung tradierter Rollen- und Geschlechtsmuster ist.
Jedoch ist die Frage nach der Freundschaft weniger - und nur verschlüsselt - als Frage
nach dem Spielraum mann-männlicher Bindungsformen gestellt, sondern insbesondere als
Frage nach ihrer literarischen Produktivität und ihrer Begründung als einer zentralen
Kategorie ästhetischer Anthropologie; - hier wie dort an die Stelle einer Idee
schöpferischer Liebe tretend. In seinen Texten entwirft Winkler nicht nur Gesten der
Beschränkung, die einen Korrespondenzpunkt in literarischer Form und Gattung finden: dem
Dialog, dem physiognomischen Essai (4), der Übersetzung und dem Brief - in einem, nehmen
wir die frühe Lyrik als Referenzpunkt - zunehmend versachlichten Formprogramm.
Winkler findet auch den Ausdruck einer Geste der Freundschaft und gestaltet ihn in einer Anekdote
aus dem spanischen Bürgerkrieg. Die kleine Anekdote ist schnell erzählt, die
politischen Implikation sind hier nicht von Interesse, höchstens als Hinweis, daß die
hier mit Winkler in Rede stehenden Autoren oft nicht nur in ihren stilistischen
Präferenzen konservativ sind. Ort: Barcelona des spanischen Bürgerkriegs. Ein Lehrling
erleidet schwere Verbrennungen, er kann nur durch Hautimplantate mehrerer Spender gerettet
werden. Nachdem mit Blick auf die politische Lage diese anfänglich verweigert werden,
wirkt das Beispiel des Unternehmers Guell beispielhaft: seiner Gabe folgen notwendige
weitere, und der so erneuerte Körper des Jungen wird zum symbolischen Ort einer neuen
Gemeinschaft, die nochmals durch Signaturen auf der Haut bekräftig wird, bevor die so
verbundenen auseinander gehen.
Der nicht beschriebene - die Operation selbst wird nicht gezeigt, eine sinnliche
Schilderung nicht gegeben - aber fortwährend präsente biologische Körper des Jungen ist
zugleich das Symbol einer ästhetischen Anthropologie: Hier gelingt, was in einem mit
Anspruch auf Unmittelbarkeit und in Orientierung auf Nähe gelebten Leben scheitert: die
Konstruktion eines zweiten Körpers, einer kulturell völlig durchgeformten, gar den
biologischen Körper zurücklassenden Person. Zu ihrer Ausbildung ist eine Geste der
Freundschaft notwendig, in die eine beschränkende Geste, das Beschriften der äußeren
Dinge, überführt wird, indem sie gleichsam auf den Leib des Jungen mit der Geste einer
Gabe in eins gesetzt wird. Sein künstlicher Schriftleib ist so Zeuge einer möglichen
anderen Freundschaft, die hier in Kontrast zur Sphäre des Politischen gesetzt wird. Schon
diese "Anekdote" zeichnet sich durch eine genaue räumliche Choreographie aus,
in deren Zentrum der sichtbar-unsichtbare Körper des Jungen steht. Dadurch ist Winkler
dem hinter der Geste des Schreibens zurückgehaltenen sinnlichen Begehren näher als etwa
in der Beschreibung einer antiken Statue oder in der Bildwelt einer orgiastisch treibenden
Pflanzenwelt, die er Im Gewächshaus als eine genaue "Geometrie von
Geilheit" an die Stelle des - ich füge hinzu - männlichen Körpers setzt. Und
er gibt mit dieser Darstellung einer Geste der Freundschaft auch den Blick auf die
literarische Operation frei, durch die ein Körper symbolisch in Pflanze, Statue oder
Gebäude aufgehoben wird. Nicht die pornographische Zeichnung des Begehrten ist das Ziel.
Mehr noch: die Anrede des Winkler nicht nennbaren Anderen wird zugunsten einer reinen
Topographie des Raums suspendiert. Die Gesten der Freundschaft werden im Text in eine
reine Topographie aufgelöst. Die Idee der Liebe ist in eine Ordnung von
Raumkonfigurationen übertragen, in ein Spiel von Linie und Kreis, die an der
Schnittstelle von hypertropher Geistigkeit und sinnlichem Begehren zugleich für ein
phallisches und ein androgynes Prinzip eingesetzt werden. Die Ausrichtung des Lebens auf
Nähe wird durch ein Lob der Distanz ersetzt: "Mit dem Inselufer war die Welt auf antikische Art zu Ende. Auf engstem Raum gelang
es dem See, das Wunder der Unendlichkeit aufzuführen. Er ist nicht sonderlich groß. Doch
vermag er allein durch seien Gestalt dem Betrachter den Eindruck einer unermeßlichen
Weite zu geben. Sein Umfang nähert sich der Figur eines Kreises, und da die Insel an
einer Stelle gelegen ist, von der aus das unferne Festland schon deutlich genug im
Unerreichbaren liegt, der See aber von diesem Standpunkt aus für das Auge von Süden nach
Norden seine weiteste Dehnung vollführt, so stand der Inselbewohner, gebannt in das
magische Reich des Gerundetseins, vor einer ihm niemals erreichbaren Ferne. Ist es nicht,
als ob die Figuren, unabhängig von ihrer objektiven Erscheinung, noch außerdem über
Kräfte verfügen, die, aus dem unfaßlichen Wesensgrund ihres Charakters entspringend,
den Betrachter entgegen seiner besseren Einsicht mit zauberischer Gewalt umgarnen. Die
Fläche eines Kreises scheint größer zu sein als die eines annähernd so großen
Quadrates. Zumal wenn die Fläche von Wasser gebildet wird, von jenem Element, das sich
wie Luft nach der Raumlosigkeit sehnt und sich nur widerwillig an Ufern stößt, erhält
sie für das Auge eine magische Ausdehnung." (Winkler: Die Insel; 112)
Die Pflanzen und Architekturen, die für den anzuredenden Anderen oder für das andere
androgyne Selbstbild eingesetzt werden sind hier suspendiert: doch die Elemente in denen
diese Konstellation gezeichnet wurden, auch ihre psychische Stimmung sind in dieser
Raumbeschreibung - vielleicht deutlicher noch - beibehalten. Die Figuren verfügen -
jenseits ihres objektiven Wesens - über weitere Kräfte: das Männliche, so kann gelesen
werden, gibt sich etwa auch als das Weibliche zu erkennen. Doch der Körper, der hinter
der geometrischen Figur verborgen ist, wird hier gänzlich in eine Raumbeschreibung
aufgelöst. An die Stelle einer nur ahnbaren Berührung der Körper tritt ein den Körper
berührender Geist. Vice versa: ein Geist, der seine Physiognomie dem berührten Körper
abgewinnt. Körpergebundene und raumbezogene Gesten werden, in den Raum des Textes
überführt, als geometrische Raumfigurationen entfaltet: in deren Umrissen wird ein
zweiter Körper als ein hypertroph geistiger und nur noch invers sinnlicher entworfen.
Diese invertierte Sinnlichkeit - Winkler spricht, mit Bezug auf Rilke von "den
Gärten in uns" - tritt nur noch medial vermittelt: in der Geste des Schreibens,
und stilistisch gebunden: in einer physiognomischen Prosa hervor. (5) Nicht nur das
Schreiben ist als eine spezifische Tätigkeit des Menschen gestisch, die Gesten des
Körpers, als Einspruch der physis gegen das mit der Entfaltung von nomos und techne
einher gehende Gefühl der Leere aufgefaßt, können auf Grund einer Struktuanalogie zu
Sprache und Einbildungskraft in diese überführt werden. Nach dieser Operation, also dann
im Textraum, ist der Abstand, der notwendig ist um seines Körpers habhaft zu werden noch
gesteigert. - Bis hin zu der paradoxen Situation, daß in der Negation und im Verschweigen
des Körpers es erst möglich wird, ihn mit einem Gedanken zu berühren. Von Körpern kann
dann am entspanntesten gesprochen werden, je weiter entfernt von seinen Begehren der ihn
als einen zweiten kulturellen Leib hervorbringende Diskurs angesetzt wird: so erscheint er
als Haus oder als Pflanze, ist sein Umraum wenn nicht in eine geometrische Raumfiguration
dann doch zum Garten gewandelt. "Oben auf der sanften Inselerhöhung ist eine Wiese noch frei geblieben, ein
uralter Lindenhain schließt sich daran an. Sonst aber ist alles von Häusern und Gärten
bedeckt, Kleine Fußwege führen dazwischen hin, es gibt auf der ganzen Insel kein
Fuhrwerk. Die Einsamkeit, das Fremde und Unerfaßliche ist hier verbannt. Eine
lebensatmende, beinah gesellige Stille umfängt den Gast. Binnen kurzem ist ihm ein
jegliches Haus mit seinem genau geprägten Gesicht ein Vertrauter. Nur in den
Blumendschungeln liegt ein unaufhörliches Abenteuer beschlossen. Immer wieder verliert
sich in ihnen das Auge des Gärtners und Gartenfreundes. zwar findet man auch Gemüse
gepflanzt, auf kleinen Beeten stehen die Sorten nebeneinander, endlich beweisend, was ein
Kohlkopf, ein Kürbis, eine Tomate ist. Es wir aber nicht mehr gepflanzt, als der einzelne
Haushalt benötigt. Der übrige Raum wird ganz an Blumen verschendet. Wie einer heimlichen
Abmachung nach sind die Altanen und Fenster mit dem Rot-Weiß-Blau der Petunien
bebändert. Es war der immer wiederkehrende Grundton in den schmetternden Farbenakkorden
der Gärten. Auch die ausgelassensten Beete wurden von ihm gestillt: Tagetis, Pühlox,
Polygonon, Violen, Wicken, Malven, Geranien, Winden, Rittersporn, Gladiolen, Zinnien,
Dahlien." (Winkler: Die Insel; 117)
Die Reihung der Pflanzennamen, in der dieses Landschaftsbild endet, ist nicht zufällig:
die auf ihre Beschreibung verzichtende "Beschriftung" ist die äußertste
Sprachform, in der Gestik im Text stilbildend wird und der äußerste Punkt literarischer
Modernität, die sich mit der Beschreibung des Sees in geometrischen Formen trifft. Nicht
zufällig wird im Anschluß an diese Planzenliste eine Opernsängerin in die Physiognomie
einer Blume hinein phantasiert, und der empfundenen Aufforderung zur Namengebung
nachgegangen. Diese Nennung ist eine Art von Beschriftung durch die der Betrachter sich
mit seinem Gegenstand in ein Verhältnis setzt und hinter Blume und Garten eine andere,
eine Gartenform des Menschen und der Welt kenntlich werden läßt. Beschriften und
Schreiben treten an die Stelle von Gesten der Liebe. Formen der Freundschaft, in die
Gesten der Liebe überführt werden, lösen die Idee einer emphatischen Liebe ab: Die Bedeutung
des Medialen wird gegenüber dem Essentiellen aufgewertet, Formen des Dialogs und der
Übersetzung gewinnen an Gewicht gegenüber dem Auslöschen der Differenz. Doch was für
die Hypertrophie des Geistes gelang, ihre Mäßigung in einer versachlichten Schreibweise,
mißlingt für die Frage nach der Möglichkeit von Freundschaft. Ihr hier entwickeltes
Programm bleibt in den literarischen Texten gleichsam eingefaltet. Die in diesen
eingeschriebene mann-männliche Zuneigung überführt ihren gestischen Ausdruck in die
Schriftkultur und gewinnt ihre Lebensform, Formen der Freundschaft, aus deren Mustern. -
Sie sind geprägt durch die Übertragungen von Kulturen der Geste in den Raum der Schrift und
wieder zurück ins Leben, das aber nach und in dieser Operation ein Verwandeltes ist.
Und ein Verwandelndes sein kann. Doch auch wo es nicht gelingt, die Umrisse von nicht mehr
in Ethik, sondern in einer Poetik - oder Poiesis - zu fassenden Formen freundschaftlichen
Lebens auf Dauer zu stabilisieren, da tragen sie zumindest dazu bei, eine in der Geste des
Schreibens begründete Literatur herzustellen. Ihr Bestand ist nicht mehr als ein Leben -
aber auch nicht weniger. Und könnte es, erinnern wir noch einmal Winklers Blick in ein
"im Tode gebrochenes Auge", ein freundschaftliches Dasein außerhalb ihrer
Vorgaben überhaupt geben?
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