Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Gestik
Gestik und dramaturgisches Handeln in Bilderzählungen Raffaels
Wolfgang Brassat
In der vormodernen bildenden Kunst war die Gestik als das artikulierteste Mittel der nonver-balen innerbildlichen Kommunikation stets ein vorrangiger Bedeutungsträger. Sie unterlag in in hohem Maße der kulturellen Kodifikation, spielte auch in der Liturgie und dem Herrscher-zeremoniell eine große Rolle und diente den Mönchen in Zeiten der Klausur als veritable Zei-chensprache.(1) Ihr hohes Ausdruckspotential wurde in den Künsten entsprechend beansprucht. Für die Kunst des Mittelalters gilt dies gewiß nicht weniger als für die der Frühen Neuzeit, denn gemäß ihrer propädeutischen Aufgabe, den des Lesens nicht Mächtigen das in der Bibel verkündete Wort Gottes nahe zu bringen, hat diese komplexe Formen der Interaktion in bild-sprachliche Formeln elementarer Sachverhalte von Aktion und Reaktion, Geben und Nehmen, Befehl und Gehorsam etc. übersetzt. Den Gesten kam dabei eminente Bedeutung zu, wobei sie im mittelalterlichen Kunstwerk den Bildraum signifikanterweise nicht verlassen. Dieses hat konstativen, nicht performativen Charakter (2) und in dieser Hinsicht unterscheidet es sich deutlich von der Kunst der Renaissance, die das Werk auf der Grundlage eines rhetorischen Denkens als Produkt eines Hervorbringungsaktes, als Ergebnis dramaturgischen Handelns auffaßte. Im frühen Quattrocento entwickelten sich entsprechend neue Formen der Bild- und Betrachterkonstitution.(3) Das Kunstwerk stellte nun eigene Mittel zur Steuerung seiner Rezep-tion ab, bildete appellative Strukturen aus und zielte auf eine psychagogische Wirkung. Im Zuge dessen traten neben die Gestik nun weitere Ausdrucksmittel wie die Mimik, die Physio-gnomie und die Beredsamkeit der naturalistisch dargestellten Körper.
Als Gewährsmann dieser Entwicklung ist Leon Battista Alberti anzuführen, der auf der Grundlage der antiken Rhetorik und Poetik den Traktat "De pictura", die erste Theorie der Malerei, verfaßt hat. 1435 vollendete er diese kunsttheoretische Programmschrift des Huma-nismus und vermerkte dies auf einer Abschrift von Ciceros "Brutus".(4) In der im folgenden Jahr auch ins Volgare übersetzten Schrift unterteilte Alberti die mit den Mitteln der Zentral-perspektive darzustellende Bilderzählung (historia) analog zum logischen Satzbau aus Wort-Gefüge-Satz-Abschnitt in Flächen, Glieder, Körper und Figurengruppen. Die Bilderzählung solle den Forderungen der Schicklichkeit, Kohärenz und Angemessenheit gehorchen (deco-rum, perspicuitas, aptum), von Würde, Vielfalt, Zurückhaltung und Glaubwürdigkeit geprägt sein (dignità, varietà, modestia, verisimilitudo) und der moralischen Unterweisung dienen.(5) Für Alberti stand außer Frage, daß dem Kunstwerk, wie dem Vortrag des Redners, eine un-mittelbare affektive und ethische Wirkung zukomme, daß sich die Darstellung von handeln-den Menschen und ihren Gemütsbewegungen (historia) auf den Affekthaushalt und die Seele des Betrachters übertrage: "Eine Bilderzählung wird dann das Gemüt bewegen, wenn die da-rin gemalten Personen ihre eigene Gemütsbewegung [movimento d'animo] heftig ausdrücken [molto porgeranno]. Denn in der Natur – in welcher nichts mehr als das Ähnliche sich anzieht – liegt es begründet, daß wir weinen mit dem Weinenden, lachen mit dem Lachenden und trauern mit dem Traurigen. Diese Gemütsbewegungen aber erkennt man aus den Körper-bewegungen."(6)
In Anlehnung an Aristoteles, der in der "Nikomachischen Ethik" den tugendhaften Mittelweg mit einem vollendeten Kunstwerk verglichen hatte, an dem man nichts wegnehmen, noch hin-zufügen könne, ohne seine Harmonie zu zerstören,(7) ging Alberti davon aus, daß ein harmo-nisch proportioniertes Kunstwerk zu sittlichem Verhalten erziehen könne. In Kenntnis der ethisierten Rhetorik Ciceros verpflichtete er entsprechend den Künstler auf einen stilistischen Habitus, der dem rhetorischen genus medium bzw. genus floridum entsprach,(8) also der freund-lichen, jedem Affekt entsagenden Vortragsweise des ethos, dessen Aufgabe im Gegensatz zum leidenschaftlichen pathos eines genus vehemens darin besteht, die Rezipienten zu erfreu-en und ihr Wohlwollen zu erregen.(9) Als dafür winkenden Lohn stellte er dem Maler in der Diktion Ciceros die "benivolenza da' cittadini" in Aussicht und erklärte, daß sich der Künstler um die "bontà dell'uomo" verdient machen könne.(10)
Die Konsequenzen dieser neuen ethischen Bestimmung des Kunstwerks will ich versuchen an Bilderzählungen Raffaels zu verdeutlichen, zunächst an der "Pala Baglione", dem 1507 ge-malten, für eine Kapelle in San Francesco in Perugia bestimmten Altarbild mit der "Grable-gung Christi".(11) In dieser, seiner ersten in Florenz entstandenen istoria hat sich Raffael be-müht, eingängig die schmerzhafte Trennung von Mutter und Sohn zu schildern. Wie ihm dies gelang, schildert uns Giorgio Vasari in seinen Künstlerviten: "Raffael dachte sich [Imagginos-si Raffaello] als er dieses Werk schuf, den Schmerz welchen die nächsten und treuesten An-gehörigen empfinden, die den Leichnam ihres geliebtesten Verwandten, auf dem in Wahrheit das Wohl und die Ehre einer ganzen Familie beruhte, zu Grabe tragen."(12) Der künstlerische Hervorbringungsakt ist demnach mit einem Akt der imaginatio verbunden, der sich auf die affektiven Dimensionen des darzustellenden Geschehens konzentriert.(13) Diese Auffassung der Bildentstehung entstammte der Rhetorik, genauer gesagt, einer seit Aristoteles geläufigen Theorie der Affekterregung, die Cicero, Horaz und vor allem Quintilian fortgeführt hatten.(14)
Im zweiten Buch von Ciceros "De oratore" bekennt Antonius seinen Gesprächspartnern: "Ich hätte bei Gott niemals vor Gericht mit meiner Rede Schmerz und Mitleid, Neid und Haß erre-gen mögen, ohne selbst bei der Beeinflussung der Richter von den Empfindungen bewegt zu werden, zu denen ich sie bringen wollte."(15) Dieses Verfahren einer Selbst- und Fremderre-gung qua Imagination hat im Anschluß Quintilian ausführlich behandelt. In der "Institutio oratoris" pries er die Fähigkeit des Redners, sich selbst in jene Stimmung zu versetzen, die er bei seinen Zuhörern hervorrufen will, da die "Kraft der Beredsamkeit" sich darin zeige, "nicht nur zu dem zu treiben, wohin [...] auch die Natur des Vorgangs von selbst führen wird, son-dern Erregung der Leidenschaft, die noch nicht vorhanden ist, zu schaffen oder sie über das Vorhandene hinaus zu steigern."(16) Nach Quintilian erreicht der Redner die Wahrheit des Aus-drucks, indem er sich in die zu behandelnden Themen affektiv einstimmt und das darzustel-lende Geschehen möglichst mit Hilfe von visiones ausmalt.(17)
Giorgio Vasari hat die "Pala Baglione" ganz in diesem Sinne als Produkt eines Imaginations-aktes beschrieben.(18) Dabei gemahnt sein Hinweis, das Bild zeige die Grablegung der "più cara persona, nella quale veramente consista il bene, l'onore e l'utile di tutta una famiglia",(19) an ein zeitgenössisches Ereignis, den Tod des Grifone Baglione nach der sogenannten "Peruginer Bluthochzeit". Grifone hatte sich zum Mord an einem Verwandten aufwiegeln lassen und die-se Bluttat mit dem eigenen Leben bezahlt.(20) Durch die Stiftung der "Grablegung" gedachte Atalanta Baglione ihres abtrünnigen Sohnes und gab damit ein Beispiel mütterlicher Gnade und Nachsicht. Vasari hat in seiner Beschreibung des Gemäldes von der "madonna Atalanta Baglioni" gesprochen.(21) Dies zeigt: das Bild ist ein Drittes, für das beides maßgeblich wurde, die biblische Geschichte und das zeitgenössische Ereignis. Aus dem aktuellen Anlaß und der Trauer der Mutter, die das Gemälde bestellte, ergibt sich der pragmatische Auslegungshori-zont der biblischen Erzählung. Das Altarbild steht unter der Leitthematik der caritas, die übri-gens in der zentralen Predellentafel vergegenwärtigt ist, und muß zudem dem Kontext eines Altares in Sakramentszusammenhang entsprechen.(22) Wer diesen Anforderungen gerecht wird, meistert eine difficoltà, vollzieht eine dimostrazione.
Die Wirkungsqualitäten von Raffaels "Pala Baglione" werden umso deutlicher, vergegenwär-tigt man sich frühere Behandlungen ihrer Thematik und die diesbezüglichen Empfehlungen Albertis. Dieser hatte in Rom einen antiken Sarkophag mit der Reliefdarstellung der Grable-gung des Meleager gesehen und diese in "De pictura" gepriesen: In ihr erscheine der Körper des Toten überzeugend wie ein völlig lebloser Leichnam, dessen Gewicht die Träger hernie-derziehe.(23) Albertis gegen das spätgotische Erbe gerichtete Aufforderung, mit der antiken Kunst zu wetteifern, hat Luca Signorelli in seinem Fresko in der Brizio-Kapelle im Dom von Orvieto beherzigt, in dem er seiner Historie einen antiken Meleager-Sarkophag als skulptura-les Bild im Bilde analogisierte, also die profane antike Darstellung als Paradigma der bib-lischen historia vor Augen führte.(24) Schon zuvor hatte Andrea Mantegna um 1460, als er in Mantua Alberti kennenlernte, in intensiver Auseinandersetzung mit "De pictura" und dem Vorbild eines Meleager-Sarkophages vermutlich hellenistischen Ursprungs seinen Kupfer-stich mit der Darstellung der "Grablegung Christi" geschaffen. Dabei sparte Mantegna freilich nicht an lauten Affektmotiven und stimmte mit den divergierenden Bewegungsrichtungen und der Vereinzelung einiger Figuren ein pathetisches genus figurarum an. Wie u.a. Moshe Barash betont hat, geht die Physiognomie des schreienden Johannes am rechten Bildrand auf eine tragische Theatermaske der Antike zurück.(25) "Das Blatt", so hat Hans Belting es charak-terisiert, "ist ein Parforce-Akt dramatischer Inszenierung und überbietet im Fortissimo der Tonlage auch die antiken Kompositionen, an denen es der Kenner messen konnte."(26)
Der Vergleich mit dem Stich Mantegnas zeigt, daß Raffael eine weit gemäßigtere Variante des Themas ausgeführt hat, in der alle Figuren in die Gemeinschaft eingebunden sind und auch die Gruppen um Mutter und Sohn durch Blickverbindungen verschränkt bleiben. Seine composizione, eine Kategorie, die eng mit der rhetorischen dispositio, also der kunstgerechten Anordnung des in der inventio gefundenen Stoffs, assoziiert war, entsprach der Empfehlung Albertis, genau zu bedenken, "welche Art der Anordnung die schönste wäre (quonam ordine et quibus modis eam componere pulcherrimum sit)".(27) Demgemäß hat Raffael dem zerstöreri-schen Familienzwist, der Anlaß für den Auftrag der "Pala Baglione" war, ein stilles, der Wir-kungsfunktion des ethos entsprechendes, feinmalerisch in einer harmonisch abgestimmten Farbigkeit ausgeführtes Wunschbild des Einvernehmens entgegengestellt, in dem ohnmächti-ger Schmerz durch kollektive Fürsorge aufgefangen wird. Dabei gehorcht das Bildpersonal und mithin auch die Regie des Hervorbringers deutlich der Norm des beherrschten, gemesse-nen Verhaltens. Der Vorbehalt Albertis, die Darstellung leidenschaftlicher Bewegungen lasse "den Geist des Künstlers allzu aufbrausend und wild erscheinen",(28) blieb in der ganzen Frü-hen Neuzeit, vornehmlich in der klassizistischen Tradition, weiterhin virulent.
Man kann an diesem Beispiel deutlich sehen, was grundsätzlich für das frühneuzeitliche Kunstwerk gilt, daß es ein intentionales Gebilde ist, eine rhetorisch pragmatische Dimension hat. Entsprechend entwickelte sich im Gegensatz zur Kunst des Mittelalters nun auch ein aus-geprägter Autor-Begriff, was sich in der Kunstliteratur daran zeigt, daß individuelle Ausprä-gungen des stilistischen Habitus mit dem Begriff der maniera gefaßt und tendenziell auch hu-moralpsychologisch interpretiert werden. So ist die maniera des Künstlers z.B. in den Viten Vasaris auch Beleg seines individuellen Grades an sittlicher Vollkommenheit. Die Wirkungs-qualitäten des Kunstwerks werden geprägt durch Faktoren wie das Klima und das soziale Um-feld, in dem der Künstler lebt, bis hin zu momentanen Einflüssen wie der Stimmung am Ar-beitsplatz. So erklärt Vasari z.B., daß die "Mona Lisa" so anmutig sei, weil Leonardo dafür sorgte, daß bei den Porträtsitzungen stets jemand zugegen war, der mit Musik und Scherzen jeden Anflug von Melancholie vertrieb.(29) Um wie Raffael zu einer vollkommenen Anmut sei-ner Werke zu gelangen, bedarf es allerdings auch entsprechender charakterlicher Anlagen und ihrer beharrlichen Kultivierung. Während Raffael als Meister der grazia gilt, werden die Wer-ke seines großen Kontrahenten Michelangelo, der im Zeichen des Saturn geboren und somit melancholisch veranlagt ist, durch ihre terribilità charakterisiert, ein Begriff, mit dem die Wirkungsqualität des Sublimen und des rhetorischen pathos bezeichnet wurde.
Ich will diesen Aspekt der frühneuzeitlichen Kunstcharakterologie nicht weiter ausführen, sondern versuchen, an einem weiteren, dem vielleicht komplexesten Werk Raffaels, dem "Brand des Borgo", seine ethisch-moralische Dimension, insbesondere der physiognomi-schen, mimischen und gestischen Veranschaulichung von Bewegungen der Seele zu verdeutli-chen. Der "Brand des Borgo" ist eines der Fresken der nach ihm benannten Stanza dell'Incen-dio im Vatikanspalast, die unter dem Pontifikat Leos X. von Raffael und seiner Werkstatt von 1513 bis 1517 ausgeführt wurden. Auf einer der Wandflächen war das bis dahin noch nie dar-gestellte Ereignis einer verheerenden Feuerbrunst zu vergegenwärtigen, die im Jahr 847 das Borgo-Viertel zerstörte und erst, als sie schon St. Peter bedrohte, durch den Segensgestus von Papst Leo IV. gestoppt werden konnte. In Anlehnung an zeitgenössische Theaterprospekte ge-staltete Raffael den Handlungsort unter Einbeziehung historischer Gegebenheiten wie der da-mals noch existenten Fassade von Alt-St. Peter und der vor ihr befindlichen Freitreppe. Den Papst ließ er allerdings in einer fingierten, betont modernen, bramantesken Architektur agie-ren.(30) Um die Ausmaße des Brandes zu verdeutlichen, bemühte er den klassischen Topos (lo-cus) eines desaströsen Feuers; er evozierte im linken Bildteil das brennende Troja, aus dem Aeneas, den Vater geschultert, Ascanius und Kreusa entfliehen. Schon Vasari hat betont, daß Raffael diese Szene im selben Stil darstellte, in der Vergil sie in der "Aeneis" schilderte ("nel medesimo modo che Vergilio descrive che Anchise fu portato da Enea").(31) Der Künstler ent-sprach hier also Aristoteles' Begriff einer ebenso abbildenden wie exemplarischen mimesis und stellte nicht nur das dar, was wirklich geschah, sondern auch das, was hätte geschehen können.
Bei der Integration der visio Trojas in die Erzählung des Borgo-Brandes handelt es sich um ei-nen rhetorischen Induktionsbeweis, um einen amplifizierenden Vergleich, wobei Raffael sich einer Sonderform, nämlich des antitheton bediente, des Vergleich einer Sache mit ihrem Ge-genteil.(32) Raffael hat in dieser Bilderzählung also ein topisch argumentatives Verfahren ange-wandt. Um zu verdeutlichen, was Rom durch die Gnade Gottes erspart blieb, imaginierte er den Untergang Trojas, eine Phantasieleistung, die nach damaliger Auffassung auf dem Er-kenntnisvermögen der Seele beruht. Im "Brand des Borgo" ist damit ein emphatischer Begriff einer imaginativ erweiterten Bildlichkeit artikuliert. Die Faktizität des historischen Gesche-hens ist in ihm überschritten, die narrative Struktur argumentativ erweitert. Entsprechend kommt es in diesem Werk auch zu dem, was Viktor Stoichita den "iconic split" bzw. "narrati-ve split" genannt hat. Die Szene der Flucht aus Troja hat semifiktionalen Charakter. Raffael hat dies verdeutlicht, indem er sie durch die scharfe Zäsur der Säulenflucht vom eigentlichen Geschehen abgrenzte, dem sie nicht in Handlungseinheit verbunden ist. In einem Werk in seiner Heimatstadt Urbino, in der "Geißelung Christi" hatte Piero della Francesca mit demsel-ben Mittel die unterschiedlichen Seinsweisen verdeutlicht. Auch hier durchzieht ein ontologi-scher Bruch die zentralperspektivisch geeinte Bildwelt. Die Hintergrundszene der Geißelung ist Gegenstand der Unterredung der zeitgenössischen Figuren im Vordergrund. Sie repräsen-tiert, was diese imaginieren und was der Sprechende, die bärtige Gestalt neben der Säule, vor Augen führt. Dem Werk Pieros hat Raffael offenbar den gemusterten pavimento der Platzan-lage und eben die Säulenflucht entlehnt, die in beiden Gemälden als indikatives Zeichen den ontologischen Bruch kenntlich macht.
Raffaels Vergleich der Feuersbrünste in Rom und Troja entsprach der seinerzeit geläufigen Troja-Rom- und Aeneas-Papst-Analogie. Dieser Gedanke ist in dem Fresko u.a. durch Por-träts akzentuiert. So hat man die Gesichtszüge der Figur des segnenden Papstes als die des damaligen Amtsinhabers Leos X. identifiziert und in der Figur des Anchises diejenigen von Cosimo d.Ä., dem Stammvater der Medici-Dynastie, aus der mit Leo X. erstmalig ein Papst hervorgegangen war.(33) Daneben hat der antithetische Vergleich noch eine weitere Dimension. In der "Aeneis" trifft der Protagonist am Rande des Hades auf den Geist Hektors, der wissen will, wie der Krieg mit den Griechen ausgegangen ist. Aeneas beteuert ihm, wenn Menschen-hände Troja hätten retten können, so hätten seine es getan.(34) Was Aeneas nicht vermochte, leistet hingegen in Zeiten des sub gratia die Hand des vicarius Christi. Er stoppt mit Gottes Hilfe das Feuer durch seinen Segensgestus. Mit dem Verfahren des"mise en abyme de l'énon-cé"(35) wird die caritas des Papstes bzw. Gottes in der des Aeneas gespiegelt. Dieser Vergleich ist als amplificatio christiana ausgelegt. Im Gegensatz zu Aeneas vermag der Papst mit Gottes Hilfe nicht nur die eigenen Angehörigen, sondern die ganze Stadt zu retten.
Man kann am "Brand des Borgo" zahlreiche Aspekte einer rhetorischen Bildkonzeption er-läutern, z.B. den der Wirkungsfunktionen, wobei Raffael, von dessem "modo mezzano" Vasa-ri an einer Stelle spricht,(36) in diesem Werk offenbar eine mittlere Affektlage zwischen ethos und pathos zu realisieren suchte. In Anlehnung an Cicero hatte Quintilian eine solche an das Thema der "Liebe und Sehnsucht zwischen Verwandten und Freunden" gebunden.(37) Unmit-telbar im Anschluß daran spricht Quintilian von vielfältigen im Rhetorikunterricht zu evo-zierenden "Charakterbildern": "Es ist wohl auch gar nicht so unpassend, wenn wir in den Schulübungen von [...] Charakterbildern sprechen, wobei wir gewöhnlich Bilder von bäuri-schen, abergläubischen, habgierigen und ängstlichen Menschen entwerfen".(38) Dieser didakti-schen Aufgabe, defiziente Formen der Charaktere und Affekte vor Augen zu führen, ist die gesamte frühneuzeitliche Malerei und, wie noch zu zeigen sein wird, auch Raffael nachge-kommen.
Zunächst aber noch ein Wort zu der Erzählform des "Brand im Borgo". Sie wird zum einen geprägt durch die antithetische Argumentation mittels der Bildopposition von Untergang und Rettung. Wie Rudolf Preimesberger gezeigt hat, hat Raffael in ihr zudem das Erzählprinzip der aristotelischen Peripetie angewandt.(39) Die schreiende Wasserträgerin am rechten Bildrand dient als Indikator der angestimmten Affektlage, als Spiegelung des Äußerungsaktes (mise en abyme de l'énonciation). Folgt man der weiteren Reihe der Frauen und Kinder, so bewegen sich diese zunächst den Flammen zu, zum dramatischen Höhepunkt hin, wo sich in der thea-tralischen, die Säule überschneidenden Rückenfigur die Peripetie, die Wendung der Handlung zum besseren hin, ankündigt. Sie hat den heilbringenden Retter erkannt und wendet sich ihm flehend zu. Ihrer markanten Gestik korrespondieren die geöffneten Arme einer männliche Fi-gur unterhalb der Benediktionsloggia, die weitere Frauen und Kinder empfängt, sie in die schützende päpstliche Obhut aufnimmt.
Im 17. Jahrhundert hat der Kunsttheoretiker Giovan Pietro Bellori in seiner Beschreibung der Stanzen Raffaels dessen Mittel der Glaubhaftmachung und erzählerischen Verdichtung her-vorgehoben. Er erkannte z.B., daß die beiden nackten, frierenden Jungen offensichtlich im Schlaf von dem Brand überrascht wurden.(40) An einem weiteren Fresko hat Bellori betont, daß Raffael "die Figuren angeordnet hat im Innehalten, Vorwärtslaufen und Zurückweichen und sie mit den Affekten ausgestattet hat, die jeder Bewegung zukommen."(41) Eine ähnliche Diffe-renzierung von Bewegungsmotiven findet sich bereits in dem 1504 in Florenz erschienen Traktat "De sculptura" von Pomponius Gauricus, der solche mit den Begriffen enargeia, em-phasis und amphibolia bezeichnet hat: "'Enargeia' (evidentia) weist ein Bewegungsmotiv auf, wenn es erkennen läßt, was ihm vorausgegangen ist, wodurch es also verursacht wurde. Im Gegensatz zur 'enargeia', die die unmittelbare Vergangenheit einer Handlung oder Geste an-deutet, soll mittels 'emphasis' auf ein unmittelbar zu erwartendes oder eintretendes Ereignis hingewiesen werden. Die 'amphibolia' stellt die Mitte zwischen den beiden vorher genannten Zuständen dar: mit diesem Begriff wird die gegenwärtige Unsicherheit einer Situation be-zeichnet, deren Ende oder Fortsetzung noch nicht entschieden ist."(42)
Deutlich lassen sich in Raffaels Fresko gemäß dieser Begrifflichkeit verschiedene Bewe-gungsmotive unterscheiden. Besonders aussagefähig sind in dieser Hinsicht die weiblichen Fi-guren im Bildzentrum, vor allem die bereits hervorgehobene theatralische Rückenfigur und die Mutter mit dem Kind daneben. Der auf das weitere Geschehen verweisenden emphasis der Rückenfigur kontrastiert die enargeia der innehaltenden Mutter. Dem Gebot einer antitheti-schen varietà entsprechen sie in dem Gegensatz des aktiven Außer-Sich-Seins der Rücken-figur und dem zurückweichenden Erstarren der um ihr Kind bekümmerten Mutter, der voraus-weisenden Exaltation und der im Handlungsablauf retardierenden, ja diesen geradezu behin-dernde Reaktion des schockierten Innehaltens. Diese konträren Verhaltensformen sind deut-lich moralisch bewertet. Grundsätzlich kann man feststellen, daß in Raffaels Fresko diejeni-gen, die sich um ihre Angehörigen kümmern, überwiegend als gefaßt dargestellt sind, wäh-rend die lautesten Affektmotive in Gestalt einzelner Figuren auftreten, denen es allein um die eigenen Haut geht. Vor allem der verschreckte Athlet an der Wand, trotz seiner Körperkraft von Sinnen vor Angst, ist deutlich negativ konnotiert und manches spricht dafür, daß er als ironische Paraphrase auf Michelangelos Kolossalstil zu verstehen ist. Auch unter den Frauen ist eine, die durch ihr Fehlverhalten auffällt: Jene Mutter, die entsetzt 'gen Troja' blickt, also imaginiert, was geschehen könnte, in Angst erstarrend ihr Kind an sich zieht und so hilflos wird wie dieses. Sie wird flankiert von Beispielen beherzter Mütter, die erst ihre Kinder weg-schicken, um dann an den Löscharbeiten teilnehmen zu können. "Nicht schildern läßt sich, welche Einbildungskraft dieser sinnreiche bewunderungswürdige Künstler bei einer Mutter kund gab, die barfuß ohne Gürtel, die losen Gewänder zum Theil in der Hand, mit flatternden Haaren ihre Kinder scheltend vor sich her jagt, damit sie den einstürzenden Gebäuden und den Flammen entfliehen",(43) so lobt Vasari die Erfindung jener couragierten Mutter, die hinter ihren schlaftrunkenen Kindern tobt, damit diese sich in die Sicherheit der päpstlichen Obhut begeben. Gemäß der didaktischen Bestimmung der historia und der Poetik hat Raffael also als allwissender Erzähler im "Brand des Borgo" einen Spiegel des menschlichen Lebens geschaf-fen und Beispiele richtigen und falschen Verhaltens bzw. "Charakterbilder" vor Augen ge-führt. Ich denke, darin hat seine Bilderzählung auch einen hohen historisch syptomatischen Wert. Sie läßt erkennen, daß im 16. Jahrhundert immer noch kollektive Lebensformen und enge soziale Räume vorherrschten. Das Kollektiv ist Träger der Handlung. Es definiert sich über eine strikte moralische Ordnung und klare Imperative, an denen sich das Verhalten eines jeden einzelnen bemessen läßt.
Zudem zeigt sich in diesem Fresko aber auch die reflexive Tendenz des performativen Bil-des, das Abbild einer Handlung und zugleich dimostrazione seines Hervorbringers ist. Zumal die Individualfigur hier als Grundeinheit der historia fungiert, zeigt sich in ihm auch, daß sich im Grunde jede einzelne Geste nur im pragmatischen Horizont der ganzen Handlung begrei-fen und bewerten läßt. Raffael scheint sich dies bewußt gemacht zu haben. Denn während seine "Grablegung" noch ganz dem normativen ethos-Begriff Albertis und dem Gebot gemes-senen Verhaltens entsprach, stellte er im "Brand des Borgo" durchaus laute Affektentäuße-rungen dar, die mal negativ, mal positiv aufzufassen sind. Von den drei zentralen Frauenfigu-ren verhält sich diejenige falsch, die am gefaßtesten zu sein scheint, nicht etwa die von Vasari so gelobte, deren Erscheinung – die bloßen Füße, das nicht gegürtete Kleid und das offene Haar – unter normalen Bedingungen gegen die Sittsamkeit verstoßen würde. Gilt grundsätz-lich das Gebot des gemessenen, kontrollierten Verhaltens, so ist die Darstellung leidenschaft-licher Affekte legitim, sofern diese im kollektiven Handlungshorizont als pragmatisches Ver-halten ausgewiesen sind.
Raffael hat – wie vielleicht keiner vor ihm – immer wieder die genuinen Möglichkeiten der Malerei ermessen, gewiß auch über die im "Brand des Borgo" erzeugte paradoxale Seinskon-figuration reflektiert, sich bewußt gemacht, daß das Bild in einer nur in ihm möglichen Weise gleichzeitig vor Augen führen kann, was sich geschehenlogisch ausschließt: Untergang und Rettung, das Ende Trojas und wie dieses Rom erspart blieb, ein Gegensatz, der sich qua Spra-che nur in zeitlicher Abfolge darstellen läßt. Schon Leonardo da Vinci, daran ist in diesem Zusammenhang zu erinnern, hat das Dictum Horatii polemisch variiert, die Poesie eine "blin-de Malerei" genannt und der Malerei ein höheres Ausdrucksvermögen zugesprochen.(44) "Ein Blick ist mächtiger als tausend Zungen: ein Pinselschlag ist wirksamer als die Züge von tau-send Federn", so preist später Bellori in einer Ekphrase über Carlo Marattas "Dafne" dessen an Raffael geschulte Bildpoesie.(45) Tatsächlich hatte Raffael einem solch emphatischen Begriff des Bildvermögens Vorschub geleistet, indem er in vielen seiner Gemälde ihren Kunstcharak-ter amplifizierte. Man denke nur an die herabgesunkenen Orgelpfeifen in der "Heiligen Ceci-lie", die anschaulich machen, daß die Heilige, die die himmlische Musik vernimmt, dem Weltlichen entsagen und ihr Musikinstrument zu Boden fallen lassen wird, oder den fehlen-den Flügel des einer der beiden berühmten Putti in der "Sixtinischen Madonna". Im Werk des späten Raffael finden sich nicht nur solch ostentative Hervorhebungen der genuinen Möglich-keiten der Malerei, sondern auch Zeugnisse seines reflektierten Gebrauchs der Gestik: So weisen in der "Transfiguration" die nebeneinander postierten Figuren des Jacobus Minor und des Judas mit ausgestreckten, parallel im Bild erscheinenden Armen auf den verklärten Chri-stus hin. Die Geste ist identisch und doch unterschiedlich konnotiert. Die des Jacobus Minor bestätigt die Autorität und heilende Kraft Christi, während die des Judas, der mit verdecktem Gesicht auf Christus weist, deutlich an seinen späteren Verrat gemahnt.
In Werken mit ausgeprägt repräsentativer Funktion verzichtete Raffael allerdings auch wieder auf solch artifizielle und reflexive Momente und kehrte zu einem eher konstativen Bildcha-rakter zurück. Das signifikanteste Beispiel dafür sind die Kartons für die "Taten der Apostel", eine im Auftrag Leos X. entstandene Tapisserienfolge, die unmißverständlich die absolute Macht des Papstes veranschaulichen sollte. Dieses Werk, das für die klassizistische Raffael-Rezeption des 17. Jahrhunderts maßgeblich werden sollte, ist wohl als dasjenige anzusehen, in dem der Maler geradezu idealtypisch der Erwartung entsprach, gemäß der Doktrin des Cicero-nianismus dem Hegemonieanspruch des Vatikan in einem antikisierenden monumentalen rö-mischen Staatsstil Ausdruck zu verleihen. Die Darstellungen dieser Folge werden durch die Schlichtheit und Verständlichkeit der Erzählung und einen deklamatorischen stilistischen Ha-bitus charakterisiert, in dem wieder alles durch die klare, souveräne Geste gesagt wird.

(1) Zur Physiognomik und Gestik in der Malerei des Quattrocento siehe: Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 21980, S. 73ff.
(2) Vgl. Claude Gandelmann, Der Gestus des Zeigers, in: Wolfgang Kemp (Hrsg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. 2. Aufl. Berlin, Hamburg 1992, S. 73-91.
(3) Felix Thürlemann, Mantegnas Mailänder Beweinung. Die Konstitution des Betrachters durch das Bild. Konstanz 1989.
(4) Leone Battista Alberti, Kleine kunsttheoretische Schriften. Hrsg. v. Hubert Janitschek. Wien 1877 (ND Osnabrück 1970), S. III.
(5) Götz Pochat, Artikel "Humanismus", Abschnitt "Bildende Kunst". In: HWRh IV, Sp. 62.
(6) Alberti.Janitschek, S. 120f.; Leon B. Alberti, De pictura. Reprint a cura di Cecil Grayson. Rom 1975, S. 70f. Spencer weist nach, daß Alberti in diesem Abschnitt aus Ciceros "De amicitia" zitiert hat. (John R. Spencer, Ut rhetorica pictura, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 20, 1957, S. 35.) Die Formulierung, "wir weinen mit dem Weinenden, lachen mit dem Lachenden", geht zurück auf Horaz: "Das Menschenantlitz lacht mit den Lachenden und weint mit den Weinenden." (Horaz, Ars poetica, 101f.: "ut ridentibus adrident, ita flentibus adflent humani voltus.")
(7) "Wenn also jede 'Kunst' ihr Werk zur Vollendung dadurch bringt, daß sie auf das Mittlere blickt und ihr Werk diesem annähert – man pflegt daher beim Anblick vollendeter Kunstwerke zu urteilen: 'hier ist nichts wegzunehmen und nichts hinzuzufügen', erkennt man also an, daß ein Zuviel und ein Zuwenig die Harmonie zerstört, die richtige Mitte dagegen sie erhält –, [...] dann müssen wir schließen: sittliche Tüchtigkeit zielt wesenhaft auf jenes Mittlere ab." [Aristoteles, Nikomachische Ethik, II, 5 (1106b).] Im zweiten Kap. des sechsten Buches seines Architekturtraktats definiert Alberti in Anlehnung an Aristoteles und Vitruv (Buch VI, Kap. 2, Abs. 1) Schönheit als "gesetzmäßige Übereinstimmung aller Teile [...], die darin besteht, daß man weder etwas hinzufügen, noch hinwegnehmen oder verändern könnte, ohne sie weniger gefällig zu machen." [Zitiert nach: Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst. Übers. u. komm. v. Max Theuer. Wien/Leipzig 1912 (Nachdruck Darmstadt 1975), S. 293.]
(8) Norbert Michels, Bewegung zwischen Ethos und Pathos. Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 16. Und 17. Jahrhunderts. Münster 1988, S. 29ff.
(9) Quintilian hat die Begriffe pathos und ethos mit adfectus und mores übersetzt: "Solcher Gefühlsregungen aber gibt es, wie wir seit alters her gelernt haben, zwei Arten: die eine nennen die Griechen pathos, was wir im Lateinischen richtig und im eigentlichen Sinne mit Affekt [adfectus] wiedergeben, die andere ethos, wofür wenigstens nach meinem Empfinden die lateinische Sprache kein Wort hat: 'mores' nennt man es, und daher heißt auch die philosophische Ethik Moral." (Quintilian, Institutio oratoris, VI 2, 8. Die unterstrichenen Begriffe sind im Original in griechischen Lettern.)
(10) Alberti.Grayson, S. 90. Alberti.Janitschek, S. 143.
(11) Charles M. Rosenberg, Raphael and the Florentine Istoria. In: Studies in the History of Art, 17, "Raphael before Rome" (= Center for Advanced Study in the Visual Arts Symposium Series V. National Gallery of Art, Washington D.C.), 1986, S. 175-187.
(12) Giorgio Vasari, Leben der ausgezeichnetesten Maler, Bildhauer und Baumeister. Übersetzt von.Ludwig Schorn und Ernst Förster. Reprint hrsg. und eingeleitet von Julian Kliemann. Worms 1988, III,1, S. 192. "Immaginossi Raffaello nel componimento di questa opera il dolore che hanno i più stretti ed amorevoli parenti nel riporre il corpo d'alcuna più cara persona, nella quale veramente consista il bene, l´onore e l'utile di tutta una famiglia" (G. Vasari, Le vite de' più eccellenti pittori scultori e architettori. Hrsg. v. Rosanna Bettarini u. Paola Barocchi. Florenz 19966-1987, IV, S. 164.)
(13) Zum rhetorischen Charakter der "Grablegung" einige Hinweise bei: Hubertus Locher, Raffael und das Altarbild der Renaissance. Die "Pala Baglioni" als Kunstwerk im sakralen Kontext. Berlin 1994, S. 97ff.
(14) Der Aspekt der Affekterregung fällt gleichermaßen unter die Zuständigkeit der Rhetorik und der Poetik. Wenn er im Folgenden an rhetorischen Schriften dargelegt wird, so ist zu betonen, daß sich die Renaissance-Rezeption vielfach auch an der poetologischen Tradition, vor allem an Horaz, orientiert hat. In der "Ars poetica" heißt es: "Nicht genügt es, daß Dichtungen formschön sind; süß und zu Herzen gehend sollen sie den Hörer ergreifen und unwiderstehlich mitreißen. [...]Willst du mich zu Tränen nötigen, so mußt du selbst zuvor das Leid empfinden." (Horaz, Ars poetica, 99ff.)
(15) Cicero, De oratore, II, 189.
(16) Ebda., VI 2, 24.
(17) Ebda., VI 2, 29.
(18) Zum Begriff der actio siehe: Cicero, De oratore, III, 213ff.; Volker Kapp, Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Kultur der frühen Neuzeit. In: Ders. (Hrsg.), Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der frühen Neuzeit. Marburg 1990, S. 40-64. Die Relevanz der rhetorischen actio für den Künstler betont ausdrücklich: Francesco Bocchi, Eccelenza del San Giorgio di Donatello (1584). In: Paola Barocchi (Hrsg.), Trattati d'arte del Cinquecento fra Manierismo e Controriforma. Bd. 2, Bari 1962, S. 160.
(19) Vas.Bettarini/Barocchi, IV, S. 164.
(20) In "Die Kultur der Renaissance" hat Jacob Burckhardt in Erinnerung des Raffaelischen Gemäldes eine poetische Schilderung vom Ende Grifones gegeben, wobei er behauptete, dieser sei von Gianpaolo Baglione gefaßt und von dessen Gefolgsleuten gerichtet worden: "Atalanta, Grifones noch schöne und junge Mutter, die sich Tags zuvor samt seiner Gattin Zenobia und zwei Kindern Gianpaolos auf ein Landgut zurückgezogen und den ihr nacheilenden Sohn mehrmals mit ihrem Mutterfluche von sich gewiesen, kam jetzt mit der Schwiegertochter herbei und suchte den sterbenden Sohn. Alles wich vor den beiden Frauen auf die Seite; niemand wollte als der erkannt sein, der den Grifone erstochen hätte, um nicht die Verwünschungen der Mutter auf sich zu ziehen. Aber man irrte sich; sie selber beschwor den Sohn, denjenigen zu verzeihen, welche die tödlichen Streiche geführt, und er verschied unter ihren Segnungen. Ehrfurchtsvoll sahen die Leute den beiden Frauen nach, als sie in ihren blutigen Kleidern über den Platz schritten." (Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance. Ein Versuch. Hrsg. v. Walter Rehm. Hersching 1981, S. 58.)
Diese Erzählung folgt deutlich den Maßgaben der alten historia. In ihr läßt sich ein modus sublimis vernehmen und ein zumindest nachraffaelischer Erhabenheitsbegriff, der jene räumliche Weite, "ein offenes freyes Feld" (Hermann Samuel Reimarius) impliziert, das die Philosophie der Aufklärung als menschlichen Entfaltungsraum beschworen hat. Ohnehin bewegt sich Burckhardts rhetorisch-didaktische historia im Fiktiven. Tatsächlich ist Grifone öffentlich gevierteilt worden.
(21) Vas.Bettarini/Barocchi, IV, S. 164.
(22) Locher 1994, S. 77ff.
(23) "[...] das Gewicht drückt die Träger nieder, an dem Todten erscheint jedes Glied völlig todt". (Alberti.Janitschek, S. 112; Alberti.Grayson, S. 64f.)
(24) Zu diesem "Alberti-Argument": Hans Belting, Giovanni Bellini: Pietà. Ikone und Bilderzählung in der venezianischen Malerei. Frankfurt/M. 1985, S. 40; Creighton E. Gilbert, Signorelli and Young Raphael. In: Studies in the History of Art, 17, 1986 ("Raphael before Rome"), S. 119f.; Locher 1994, S. 101.
(25) Moshe Barash Imago hominis. Studies in the Language of Art. Wien 1991, S. 75. Schon Belting hat die angesichts der Gestaltung der Locken evidente Übereinstimmung betont. (Belting 1985, S. 37.)
(26) Belting 1985, S. 37f.
(27) Alberti.Janitschek, S. 158f.; Alberti.Grayson, S. 103. Die von Alberti angewandten Begriffe ordo und modus sind unmittelbar der Rhetorik entlehnt.
(28) Alberti.Janitschek, S. 126f.; Alberti.Grayson, S. 76ff.
(29) Vas.Bettarini/Barocchi, IV, S. 31; Vas.Schorn/Förster, III/1, S. 33.
(30) Fabrizio Mancinelli/Arnold Nesselrath: La Stanza dell'Incendio, in: Raffaello nell'appartamento di Giulio II e Leone X. Citta del Vaticano 1993, S. 300; siehe auch Max Ermers: Die Architekturen Raffaels in seinen Fresken, Tafelbildern u. Teppichen. Straßburg 1909, Tafel 16.
(31) Vas.Bettarini/Barocchi, IV, S. 193; Vas.Schorn/Förster, III/1, 225.
(32) Vgl. Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. Ismaning 101990, S. 125ff.
(33) Rolf Quednau: Päpstliches Geschichtsdenken und seine Verbidlichung in der Stanza dell'Incendio, in: Münchener Jb. d. bild. Kunst, 35, 1984, 98.
(34) Vergil, Aeneis, II, 291,2.
(35) Vgl. Felix Thürlemann: Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenschaft. Köln 1990, S. 111ff. u. 188f.
(36) Vas.Bettarini/Barocchi, IV, 207.
(37) Vgl. Quintilian, VI 2, 17 sowie Cicero, De oratore, II, 212.>
(38) Quintilian, VI 2, 17.
(39) Rudolf Preimesberger, Tragische Motive in Raffaels "Transfiguration". In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 50, 1987, S. 110ff.
(40) Kurt Badt, Raphael's "Incendio del Borgo", in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 22, 1959, S. 47.
(41) Giovan Pietro Bellori, Descrizzione delle Imagini dipinte da Raffaelle d'Urbino Nelle Camere del Palazzo Apostolico Vaticano (Rom 1695). Zitiert nach der Übersetzung bei: Oskar Bätschmann, Giovan Pietro Belloris Bildbeschreibungen, in: Gottfried Boehm/Helmut Pfotenhauer (Hrsg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995, S. 296.
(42) Michels 1988, S. 78. An dieser Stelle ist zu betonen, daß es Gauricus hier offenbar auch um die Frage ging, mit welchen seelischen Empfindungen und Aktivitäten die verschiedenen Körperbewegungen verbunden seien.
(43) Vas.Schorn/Förster, III/1, S. 225; Vas.Bettarini/Barocchi, IV, S. 194.
(44) Siehe: André Chastel, Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei. München 1990, S. 139 u. 144f.
(45) Zitiert nach: Bätschmann 1995, S. 287.