Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Amerika
Baudrillards 'Amerika' - Letzter Lagebericht vor dem Verstummen Europas
Matthias Schöning
Baudrillards Buch ist kein Werk (*). Es ist die Zusammenstellung von episodischen Berichten, Notizen und Fragmenten, die auf mehreren Amerikareisen der siebziger und achtziger Jahre entstanden sind (Vgl. Kellner 168). Es ist keineswegs inkonsistent, aber es weist Verschiebungen, Themen- und Thematisierungswechsel auf, die nicht argumentativ ausgeschöpft werden. So tritt im Fortgang des Buches eine sichtliche Ernüchterung der Faszination durch Amerika ein. Nicht zuletzt verbunden mit dem Namen Ronald Reagan erhält Baudrillards Beschreibung der paradigmatischen Modernität Amerikas einen deutlich resignativen Ton, wenngleich die Diagnose im Kern identisch bleibt: die Geschichte ist zu Ende und die Vereinigten Staaten von Amerika sind das Land, das dieses Ende realisiert. Wie immer Baudrillard in seiner Wertung schwankt - mal fasziniert durch die eigenen Grenzgänge, die sein Amerika als Messer im Rücken Europas anbringen, mal melancholisch dem genuin europäischen Horizont zukünftig verfügbarer Zeit nachtrauernd - daß es mit uns zu Ende geht, bleibt unwiderrufen.
I. Amerika
Baudrillard steht also für eine medienanalytisch gestützte Theorie der Posthistoire. Was wir als Projekt der Moderne oder allgemeiner als (alt)europäisches Projekt kennen, nämlich die Unterscheidung insbesondere so seiender Sachverhalte von bloß so scheinenden, geht für Baudrillard in einer Hyperrealität unter, die man sich als Gewimmel von Simulacren vorzustellen hat. Dabei sind Simulacren, wenn man am europäischen Projekt festhalten will, Trugbilder. Folgt man allerdings Baudrillard (etwa in Der symbolische Tausch und der Tod (ST&T), 112ff.), dann macht es keinen Sinn mehr, zwischen Bildern und Trugbildern zu unterscheiden, weil zu dem entscheidenden Referenzpunkt Realität in einer bloß noch aus Reproduktionen bestehenden Welt gar nicht mehr vorgedrungen werden kann. Es fehlt nicht etwa an analytischen Methoden, die durch eine immer dichter werdende Decke aus Trugbildern endlich zum wahren Sein vorstoßen. Und wir müssen uns dementsprechend auch nicht einfach gedulden, bis endlich immer schärfere Beobachtungsinstrumente durch den Nebel dringen: es gibt laut Baudrillard nichts dahinter. Die Differenz hat sich verflüchtigt, "alles geschieht nur noch 'als ob'" (Taubes 1988, 47), ohne Grund, nach dem sich fragen ließe. Die Hyperrealität usurpiert im eigenen einzelnen Namen all das, was auf den zwei Seiten der Differenz von Wahrheit und Lüge eingetragen war und mithin verschwindet bald auch jede Ahnung, daß da überhaupt etwas sich unterscheiden ließe. Der Amerikaner ist bereits soweit: "Wenn der Amerikaner sagt, daß er einverstanden ist, dann, weil er wirklich nichts anderes kennt."(Amerika, 125)
Diese Unkenntnis ist signifikant, allerdings nicht für fehlende kognitive Kapazitäten einzelner, sondern für eine globalistisch positionierte Lagebeschreibung. Auch Baudrillard scheut sich nicht den kulturpessimistischen Topos von der "Unkultur" (12, u.ö.) des geschichtslosen Amerika aufzurufen, aber er will in ihr nicht die bloße Kehrseite europäischer oder auch nur französischer Kultur erkennen, sondern ein Signum derselben strukturellen Andersheit, die das Regime des Hyperrealismus von jedem Repräsentationalismus trennt. Amerika ist nicht die andere Seite einer nur mit Europa unauslöschlich verbundenen Differenz, sondern Ort der Entdifferenzierung, einer "Ausrottung des Sinns"(21), "Wüste" (12ff.; 43; u.ö.). "Amerika treibt die Frage nach dem Ursprung aus, es beansprucht nicht Originalität oder mythische Authentizität, es hat keine Vergangenheit und keine Gründerwahrheit. Da es keine primitive Akkumulation von Zeit kennt, lebt es in dauernder Aktualität." (109; vgl. auch ST&T, 94)
Europa darf seine ehrwürdigen Erinnerungen behalten, seine guten Weine, allgemein seinen guten Geschmack (vgl. Amerika 114), aber alle distinguierende Qualität gegenüber Amerika wird diesen Fermenten europäischer Kultur abgesprochen. Gemäß seiner Theorie der Verführung, die die Richtung der Relation von Subjekt und Objekt umkehrt und das Subjekt zum Ziel der inhärenten Dynamik des Objekts erklärt, versucht Baudrillard Amerika zwar in der Differenz zu Europa, für Europa und problematischer Weise auch von Europa aus zu denken, aber besessen von dem Wissen um die welthistorische Lage Amerikas, also mit einer Optik, der die europäischen Unterscheidungen nur noch als vergangene repräsentabel sind. Die Differenz zwischen Europa und Amerika wird also verzeitlicht, so daß Amerika für Europa in der Zukunft liegt, während Amerika in aller Zukunft nur sich selbst sieht. Baudrillard läßt sich dazu verführen, Europa als folgenlose Vorgeschichte Amerikas zu lesen und kann dann konstatieren, daß Amerika - als eine Art emergentes Phänomen - zwar aus der 'Alten Welt' hervorgegangen sei, ohne es als bloße Folge Europas - deshalb 'Emergenz' - in eine notwenigerweise immer europäische Genealogie einzuschreiben. "Amerika hat keine Identitätsprobleme" so Baudrillard und also braucht es kein Gedächtnis.
Was Amerika ausmacht, das ist demnach nicht in Formen des Wissens niedergelegt, die an den Diskurs Europas anschließbar wären. "Während wir [ in Europa] [ ...] vom Ende der Geschichte sprechen [ ...] "(24); während wir überhaupt von uns als von einem Gespräch sprechen und um kommunikative Vernunft ringen, genügt es Baudrillard, Amerika als Monument vorzustellen. Anknüpfend an den zentralen Topos amerikanischer Selbst- oder amerikanistischer Fremdbeschreibung, nämlich die unendliche Verschiebbarkeit der frontier, Nukleus der kulturellen Projektion von Freiheit auf eine Fläche 'Natur', ist es der Raum, der zur entscheidenden Dominante von Baudrillards Amerika-Bild wird. Amerikanischer Raum statt europäischer Zeit lautet die Suggestion, die nicht umsonst in der Metapher der Wüste ihren Imaginationsraum findet. Dort, wo die Erinnerung der Bewegung durch einen unendlichen und unterschiedslosen Raum keinen Anhalt findet, wird Zeiterfahrung problematisch. Ob das Bild, in dem keine Sonne weder auf- noch untergeht nun stimmig ist oder nicht, die Wüste ist - laut Baudrillard - das Grab aller kulturellen Zeichen. Ein Grab allerdings, dessen Erhabenheit noch die Möglichkeit tränenreicher Erinnerung des Verstorbenen verschlingt. Die Monumentalität des Ortes - die Wüste Amerika - in dem Europa verschwindet, führt noch im Spiegel ihres Himmels plastisch vor Augen, wie kleinlich der Vorgänger war: "Die Wolken verderben uns in Europa den Himmel. Verglichen mit den endlosen Himmeln Nordamerikas und ihren Wolkenballungen sind unsere kleinen Schäfchenwölkchen Abbilder unserer Schäfchengedanken, unserer niemals raumgreifenden Gedanken ... In Paris hebt der Himmel nie ab, er gleitet nie, er bleibt im Dekor der kränkelnden Bauwerke gefangen, die sich wie kleiner Privatbesitz gegenseitig in den Schatten stellen - anstatt einander schwindelerregende Spiegelfassaden wie in der großen Hauptstadt New York zu bieten ... [...]"(28).
Amerika das ist für Baudrillard nicht die Summe der Amerikaner, sondern die maßlose Weite eines Raumes - traditionelles Fundament des american dream - dem zugesprochen wird, das Denken selbst zu sein (vgl. 29: "[ ...] der Raum ist dort das Denken selbst"). Die Maßlosigkeit des Raumes ist dabei wörtlich zu nehmen: im Sinne einer mathematischen Erhabenheit liegt der Auszeichnungscharakter von Maßlosigkeit darin, einen Zustand von Unvergleichbarkeit und also abermals von Differenzlosigkeit zu bezeichnen. Angesichts der Weite des Raumes und des Alters seiner geologischen Monumente, die Baudrillard kurzerhand zu Zeichen erklärt (12) wird das kulturelle Gedächtnis zu einer zu vernachlässigenden Größe: "Das ganze Navajoland, das große Plateau bis hin zum Gran Canyon, die Felsen, die das Monument Valley überragen, die Schluchten des Green River [ ...] , dieses ganze Land birst von magischer Präsenz, die mit Natur nichts zu tun hat. Man kann verstehen, daß die Indianer eine Menge Magie und eine nicht wenig grausame Religion brauchten, um eine solche >theoretische< Größe des geologischen und himmlischen Ereignisses der Wüste zu bannen, um den Anforderungen einer solchen Umgebung gerecht zu werden. Was ist der Mensch, wenn die dem Menschen vorausgehenden Zeichen über solche Macht verfügen?"(12, Hervorhebung MS.) Er ist - um die Frage zu beantworten - nichts als Mensch, faktum brutum einer Naturgeschichte, von der sich keine Episode der Kultur emanzipiert. Der technologische Erfolg Amerikas - hier kommen Topologie und Geschichtsphilosophie wieder zusammen - steht im Dienste eines Hyperrealismus, der mit wuchernder Komplexität nur vollstreckt, was laut Baudrillard an der Landschaft immer schon abzulesen gewesen wäre. "Im Grunde" (hier scheint wenigstens in der Übersetzung die Terminologie Alteuropas wieder hervor), so heißt es bei Baudrillard, "sind die Vereinigten Staaten mit ihrem Raum, ihrem technologischen Raffinement, ihrem brutalen guten Gewissen einschließlich der Räume, die sie der Simulation öffnen, die einzige aktuelle primitive Gesellschaft. Und es ist faszinierend sie als die primitive Gesellschaft der Zukunft, als die der Komplexität, der Gemischtheit und der größten Promiskuität zu durchreisen, als die eines raubtierhaften, aber in seiner oberflächlichen Buntheit schönen Rituals, einer psychischen und sozialen Ausrottung der Negativität, einer totalen metasozialen Tatsache mit unvorhersehbaren Folgen, deren Immanenz uns staunen macht, die aber keine Vergangenheit hat, in der sie sich spiegeln könnte, die also zutiefst primitiv ist."(17f.) Man fragt sich, ob mit Termini wie Gewissen nicht notwendig Vorstellungen von Transzendentem verbunden sind, die unausweichlich in die Differenz führen, aber es ist, bei aller Unschärfe, die dem suggestiven Stil Baudrillards eignet, wenigstens klar, was gemeint ist.
Grundsätzlich - und damit ziehen wir erste Schlußfolgerungen - kennt das Amerika Baudrillards keine Differenz. Nicht einmal, das ist laut Baudrillard eine seiner wesentlichen Stärken, die Differenz von Innen und Außen, von Amerika und Nicht-Amerika: "Die idyllische Überzeugung der Amerikaner, der Nabel der Welt, Weltmacht und absolutes Modell zugleich zu sein, ist nicht ganz falsch. Sie gründet sich weniger auf Bodenschätze, Technik und Waffen, als auf die seltsame Behauptung, die reine Utopie zu verkörpern. Mit einer an Unverträglichkeit grenzenden Naivität hat sich diese Gesellschaft auf die Idee versteift, die Verwirklichung all dessen zu sein, wovon andere immer geträumt haben: von Gerechtigkeit, Überfluß, Recht, Reichtum und Freiheit; sie weiß es, sie glaubt es und zuletzt glauben es alle anderen auch. [ ...] Was auch immer geschieht und was auch immer über die Arroganz des Dollars und der multinationalen Konzerne gesagt werden mag, so nimmt diese Kultur doch alle und besonders die gefangen, die unter ihr zu leiden haben [ ...] "(110f.).
In Amerika, so sollen wir mit Baudrillard folgern, ist die Geschichte zu Ende. Indem Amerika für sich reklamiert, die Verwirklichung jeglicher Utopie zu sein, reinigen sich die Ideale dieser Utopien von ihrer Geschichte (vgl. 111). Indem ein Ort - Amerika - Ort aller Orte und Nicht-Orte - u-topoi - wird, entleert sich die Zeit ihres Ereignispotentials. Physikalische Zeit vergeht weiter, aber es ereignet sich in ihr nichts mehr, was Geschichte machen könnte. Utopie und Apokalypse simultan.
II. Posthistoire
Alexandre Kojève hat in seiner für das französische Geistesleben so ungeheuer einflußreichen Interpretation der Phänomenologie des Geistes (cf. Descombes 17ff., Niethammer 74ff., Roth 1988, 83ff.), d.h. insbesondere in seiner Auslegung der 'Dialektik von Herr und Knecht' (Kojeve 48-90), und in späteren Fußnoten (loc.cit.: König 286ff. Taubes 1988, 42ff.) prononciert festgehalten, wie man sich das Ende der Geschichte vorzustellen hat. Das kann hier im Einzelnen nicht nachgezeichnet werden, aber es sind drei Punkte seiner Hegel-Lektüre festzuhalten, die - z.T. in Form einer Inversion - bei Baudrillard wieder auftreten und mit den späteren Selbstauslegungen Kojèves konvergieren, der noch 1967 Berliner Studenten ins Gewissen predigte, das wichtigste, was sie tun könnten, sei Griechisch zu lernen, da die Geschichte an ihr Ende gekommen sei und nurmehr repetiert werden könne (vgl. Taubes 1987, S. 24). Kojève hält (mit wechselnden Konkretisationen) bis zu seinem Tod 1968 an seiner Geschichtsdeutung fest, es gilt ihm (wie schon die Titel seiner späten Arbeiten zeigen) nur noch den Ausgangspunkt zu verstehen, jenes Griechenland, in dem all das begann, was in Jena 1806 sein Ende fand: "Nein, Hegel hatte sich nicht getäuscht. Er hatte das richtige Datum des Endes der Geschichte mit 1806 angegeben. Was ist seit diesem Datum geschehen? Überhaupt nichts, das Nachziehen der Provinzen. Die chinesische Revolution ist nichts als die Einführung des Code Napoléon in China. [ ...] Es spielen sich immer noch Ereignisse ab, aber seit Hegel und Napoleon hat man nichts Neues mehr sagen können. Etwas ist von Griechenland ausgegangen, und das letzte Wort ist gesprochen worden." (Kojeve 1968, S. 123)
Der erste Punkt nun, hinsichtlich dessen Baudrillard zu Kojèves Hegel in Beziehung gesetzt werden kann, ist unspektakulär. Hatte Hegels Ende der Weltgeschichte in der realen Aufhebung (im berühmten dreifachen Sinn von beenden, bewahren und auf eine neue Stufe heben) all der Gegensätze bestanden, die die Geschichte unter dem Dach des generellen Gegensatzes von Individuellem und Allgemeinem antreiben, wie Herrschaft und Knechtschaft, Kampf und Arbeit, Staat und Familie oder Mann und Frau, so findet die Geschichte bei Baudrillard ihr Ende im Verenden des Realen, d.h. in der zweifachen Aufhebung (beenden und auf eine neue Stufe heben) von Gegensätzlichkeit überhaupt. Im Rahmen dessen, was Baudrillard die strukturale Revolution nennt (ST&T 17ff.), tritt an die Stelle jedweder Primärprozesse (ST&T 119), an die Stelle jedweden Konflikts realer Kräfte, auf die Kommunikation etwa referierte, das von aller Referenz abgelöste Floating bloß noch zueinander differentieller Zeichen. Die Sphäre der Arbeit, der Produktion (ST&T 22ff.) verschwindet ebenso darin, wie der Geschlechtergegensatz (ST&T 133). Angesichts dieser Diagnose ist es nicht überraschend, daß Baudrillard die Mode in den Rang einer Leitdisziplin erhebt (ST&T 130ff.), denn in ihr 'erweist sich die Auflösung der Welt als definitiv'. "In der Mode [der die Bereiche "Politik, Moral, Ökonomie, Wissenschaft, Kultur und Sexualität" (ebd.) prinzipiell folgen, MS.] wird die Beschleunigung des einzigartigen differentiellen Signifikanten-Spiels deutlich sichtbar und bis zur Zauberei gesteigert - diese Zauberei und dieser Rausch ergeben sich aus dem Verlust jeglicher Referenzpunkte." (ST&T 133) Der Referenzlosigkeit und bloßen Differentialität der Zeichen in denen reale Gegensätzlichkeit überhaupt aufgehoben ist, entspricht im Medium des Sozialen die freud- und konfliktlose Isolation der Individuen (Amerika 26f., 34f., 52f.). Hatte Hegels Vision vom Ende der Geschichte Antagonismen versöhnen wollen, Baudrillards Nachgeschichte zeichnet sich durch das Gegenteil aus: "Kein Interface zwischen Innen und Außen."(Amerika 86) Man schaut weg oder verbirgt sich und seinen Blick vor den Augen des Anderen und hüllt sich in Blasiertheit wie es über die Großstädter schon bei Georg Simmel hieß, um sich vor eigenen und fremden Forderungen nach Anteilnahme präventiv zu schützen. "Walkman, schwarze Brillengläser, automatische Elektrogeräte, Autos mit Mehrfachkontrollen bis zum ununterbrochenen Zwiegespräch mit dem Computer; alles, was man großsprecherisch Kommunikation und Interaktion nennt, endet schließlich im Rückzug der Monade in den Schatten ihrer eigenen Formel, in ihre selbstverwaltete Nische und künstliche Immunität."(ibid.)
Daß ein solcher Endzustand - Punkt zwei - nicht mehr als Realisation Napoleons oder Preußens vorgestellt werden kann, ist offensichtlich. Mit der Form der Realisation, verschiebt sich ihr Ort weiter nach Westen. Baudrillard kann hier in beiderlei Hinsicht auf erste Anregungen Kojèves zurückgreifen, der dann aber letztlich noch einen letzen Schritt weiter geht - nämlich Richtung Japan. Läßt man diesen letzten Schritt beiseite, so erscheinen Kojeves Fußnoten als frappierende Präfigurationen der Ausführungen Baudrillards.
Zunächst entwirft die erste Fußnote eine neue Deutung der Form der Posthistoire: "Das Verschwinden des Menschen am Ende der Geschichte ist [...] keine kosmische Katastrophe: die natürliche Welt bleibt, was sie von aller Ewigkeit her ist. Und es ist ebensowenig eine biologische Katastrophe: der Mensch bleibt als Tier am Leben [...] . Was verschwindet, ist der Mensch im eigentlichen Sinn, das heißt das das Seiende negierende Handeln und der Irrtum oder ganz allgemein der Gegensatz von Subjekt und Objekt. [...] das Aufhören des Handelns, [...] das Verschwinden der Kriege und blutigen Revolutionen, [...] das Verschwinden der Philosophie [...]. Aber alles übrige kann sich unbegrenzt erhalten: die Kunst, die Liebe, das Spiel usw.; kurz, alles, was den Menschen glücklich macht."(loc.cit.: König 286f.; in anderer Übers.: Taubes 1988, 42) Welches Vorbild sich Kojève nach der Abfassung dieser Sätze vor Augen drängte, verrät uns dann, nachdem das Anschauungsobjekt wiederum zugunsten Japans offensichtlich schal geworden war, die einzige Veränderung der zweiten gegenüber der ersten Auflage der Introduction à la lecture de Hegel:"In der Zeit, als ich die obige Fußnote verfaßte (1946), schien mir die Rückkehr des Menschen zur Animalität als Zukunftsperspektive (einer übrigens mehr oder weniger nahen Zukunft) nicht undenkbar. Aber kurz danach habe ich begriffen (1948), daß das Hegelsch-Marxsche Ende der Geschichte nicht mehr aussteht, sondern schon jetzt Gegenwart ist. Als ich beobachtete, was um mich herum geschah, und darüber nachdachte, was seit der Schlacht von Jena in der Welt geschehen war, begriff ich, daß Hegel recht hatte, in dieser das Ende der eigentlichen Geschichte zu sehen. [...] Vom authentisch historischen Gesichtspunkt aus haben die beiden Weltkriege mit ihrem Gefolge von kleinen und großen Revolutionen nur das Ergebnis gehabt, die rückständigen Zivilisationen der Randprovinzen auf die (real oder virtuell) fortgeschrittensten Positionen zu bringen. Wenn die Sowjetisierung Rußlands und die Kommunisierung Chinas mehr und etwas anderes sind als die Demokratisierung des kaiserlichen Deutschland (auf dem Umweg über den Hitlerismus) oder die Gewinnung der Unabhängigkeit Togos, ja die Selbstbestimmung der Papuas, so einzig und allein deshalb, weil die chinesich-sowjetische Aktualisierung des robespierreschen Bonapatismus das nach-napoleonische Europa zwingt, die Beseitigung der zahlreichen, mehr oder weniger anachronistischen Rückstände seiner vorrevolutionären Vergangenheit zu beschleunigen. Schon heute ist dieser Beseitigungsprozeß übrigens in den nordamerikanischen Verlängerungen Europas weiter fortgeschritten als in Europa selbst. Man kann sogar sagen, daß von einem bestimmten Gesichtspunkt aus die Vereinigten Staaten bereits das Endstadium des marxistischen <Kommunismus> erreicht haben, da praktisch alle Mitglieder einer <klassenlosen Gesellschaft> dort schon jetzt erwerben können, was ihnen gefällt, ohne deshalb mehr arbeiten zu müssen, als sie Lust haben. Mehrere vergleichende Reisen in die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion (zwischen 1948 und 1958) haben mir nun den Eindruck vermittelt, daß die Amerikaner nur deshalb wie reichgewordene Russen und Chinesen wirken, weil die Russen und Chinesen einfach noch arme Amerikaner, allerdings auf dem Weg einer raschen Bereicherung sind. Daraus habe ich geschlossen, daß der American way of life die typische Lebensweise der post-historischen Periode [ sic !; Hervorh. MS.] ist und die heutige Anwesenheit der Vereinigten Staaten in der Welt die künftige <ewige Gegenwart> der ganzen Menschheit vorwegnimmt. So erschien die Rückkehr des Menschen zur Animalität nicht als eine noch ausstehende Möglichkeit, sondern als eine bereits gegenwärtige Gewißheit."(loc.cit.: König S. 287f.; Taubes (s.o.) 43f.)
Diese Parallelen zwischen Kojève und Baudrillard müssen nicht weiter kommentiert werden. Kojèves auch und gerade in seiner Ambivalenz überwältigende Einfluß auf die französische Linke, zu der Baudrillard als Assistent Lefèbvres an der Universität Paris-Nanterre bis zu seiner Abrechnung in La gauche divine (1985) gezählt werden muß (Rötzer 1991, 63), kann auch an zahlreichen anderen Werken (z.B. Batailles und Merleau-Pontys) abgelesen werden.
Was aber - Punkt drei - kommentiert werden muß, das ist die Eigentümlichkeit der Beobachtungssituation, die sich durch das Amerika-Bild Kojeves und Baudrillards ergibt. Die - laut Kojeve (88f.) - Pointe von Hegels Deutung bestand gerade darin, daß es Napoleon als endgültigem Vollstrecker der Weltgeschichte des Bewußtseins dessen ermangelt, was er ist. Diese Leerstelle schreibt sich Hegel zu, der damit gleichsam zum "Selbstbewußtsein Napoleons" avanciert (Kojève 89). In Hegels Phänomenologie des Geistes kristallisiert sich damit das Ende der Weltgeschichte als seiner selbst bewußtes europäisches Ereignis. Nun ist mit Baudrillard und dem mittleren Kojève der Weltgeist bereits nach Amerika weitergezogen, das Deutungsmonopol der Geschichte aber verbleibt in Europa! Wie zwischen Napoleon und Hegel so wird zwischen Amerika und Europa die Differenz zwischen Vollstreckung und Reflexion aufgeteilt. Diese Aufteilung aber ist theorietechnisch höchst problematisch. Es wird in ihr das grundsätzliche Beobachtungsproblem aller Theorien deutlich, die das Ende der Geschichte als Ende der Differenz verkaufen wollen: sichtbar wird die Post-Historie nur in einem kurzen Aufleuchten während des Übergangs von der Geschichte in die Nachgeschichte in dem das Denken der Differenz gleichsam als Retention einer bereits indifferenten Gegenwart noch erinnerlich ist. Das Licht Europas wird nun von Tag zu Tag schwächer. Also müssen die Theoretiker der Posthistoire die Möglichkeit, daß nach ihnen noch andere Beobachter kommen, die dann möglicherweise auch anders beobachten, kategorisch ausschließen und sie inszenieren sich dementsprechend auch mehr oder minder deutlich als letzte Philosophen, als letzte Beobachter, die noch mit Differenzen operieren. Die Lebenden der ewig geschichtslosen Zukunft ahnen nichts von dem dramatischen Untergang ihrer Apologeten.
So bleibt Amerikas Realisation der Posthistoire in den Augen Baudrillards denn auch ohne Selbstbewußtsein. Ohne Hauch von Ironie behauptet Baudrillard, daß nur von Europa aus die welthistorische Mission Amerikas eingesehen werden könne: "Die amerikanische Wahrheit kann möglicherweise nur einem Europäer aufgehen, da nur er hier das perfekte Simulacrum der Immanenz und der materiellen Umschrift aller Werte entdeckt. Die Amerikaner selbst haben kein Verständnis für Simulation. Sie sind ihre perfekte Konfiguration, aber sie haben keine Sprache dafür, da sie selbst das Modell sind. Sie geben also das ideale Material für eine Analyse aller denkbaren Varianten der modernen Welt ab. Übrigens nicht mehr und nicht weniger als seinerzeit die primitiven Gesellschaften. Die mythische und analytische Begeisterung, die uns einst den frühen Gesellschaften zugeführt hat, läßt uns heute mit derselben Leidenschaft und Voreingenommenheit nach Amerika blicken." (Amerika 44; Hervorh. MS.)
(*) Jean Baudrillard, Amerika. Übers. v. M. Ott, München 1995. (Franz. Orig. 1986) (back)

Weitere Literatur:

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